
Ganz oder gar nicht
Wir haben unsere OJC-Pioniere gefragt, was sie mit dem Wort Hingabe verbinden. Was kommt ihnen in den Sinn, wenn sie an ihre Anfänge mit Christus, mit dem Glauben denken oder auch an ihre Anfänge mit der OJC? Ist ihr Verständnis von Hingabe heute ein anderes, was hat sich verändert? Conny Geister, Jochen und Sieglinde Hammer, Maria Kaissling, Hermann und Friederike Klenk, Angela Ludwig haben ganz offen von ihren Erfahrungen erzählt. Den Anfang macht Maria Kaissling, eine der beiden Frauen, die vor fast 60 Jahren beim Ehepaar Hofmann angefragt hat, wie das geht mit dem Glauben im Alltag.
Maria Kaissling:
Was mein Naturell anbelangt, bin ich nicht so der Typ für Hingabe. Als junger Christ habe ich auch nie erlebt, dass Gott das von mir forderte. Mit dem Begriff habe ich Unterwürfigkeit und Abhängigkeit verbunden, das hätte mich nur abgeschreckt. Aber mit Nachfolge konnte ich was anfangen. Diesen Jesus, von dem ich gehört hatte, wollte ich näher kennenlernen. Nachfolge bedeutete für mich, dass ich einen Weg erstmal ausprobieren darf, mich auf das Abenteuer Glauben einlasse. Gott würde dann, wenn ich das Leben in der Gemeinschaft nicht mehr passend oder zu wenig glanzvoll fände, immer noch eine Tür zu einem neuen Abenteuer aufstoßen.
Hermann Klenk:
Wir haben als Konfirmanden am Altar alle zusammen aufgesagt: „Herr Jesus, Dir leb ich, Dir leid ich, Dir sterb ich. Dein bin ich tot und lebendig. Mach mich, o Vater, ewig selig!“ Wahrscheinlich hat keiner von uns damals
verstanden, was das konkret heißt. Trotzdem schien es mir so wichtig, dass ich mir zu Hause die Haut aufgeritzt und diese Worte mit meinem Blut hinten in meine Bibel geschrieben habe – und sie dann jahrelang vergaß.
Als meine Frau und ich entschieden haben, in die OJC zu kommen und den Hofmanns zu helfen, habe ich ein sehr erfolgreiches Architekturbüro verlassen, in dem ich große Verantwortung hatte. Ich war leidenschaftlich gern Architekt und wusste damals, dass ich in der OJC in Bensheim nichts mit Architektur zu tun haben würde. Hingabe kostete mich etwas.
Jahre später hat ein junger Mann mit uns gelebt, der keine Nacht durchschlafen konnte, weil ihn Visionen, Dämonen geplagt haben. Er ist ein halbes Jahr lang fast jede Nacht zu mir gekommen, wir haben Psalmen gebetet
und gesungen, bis er befriedet wieder zurückgehen konnte. Ich war oft todmüde, aber ich habe das um Jesu und dieses Menschen willen getan. Ich hatte Gott versprochen, dass andere die befreiende Erfahrung machen dürfen, die ich auch gemacht hatte und habe von daher auch die nötige Kraft bekommen. Damals habe ich gespürt, dass der Satz, den ich bei der Konfirmation ausgesprochen hatte, Kraft hat.
Friederike Klenk:
Für dich, Hermann war es immer wichtig, über deine Zeit zu verfügen. Du bist ein organisierter Mensch, der sorgfältig plant. Hingabe bedeutete aber, auch deine Zeit von Gott, von Jesus her bestimmen zu lassen, von dem, was oder wen er dir schickt und nicht von deinen Plänen.
Hermann Klenk:
Wir beide haben am 6. Dezember 1969 unser Leben Gott zur Verfügung gestellt. Das war die Grundentscheidung. Im Alltag müssen wir diese Entscheidung immer wieder neu buchstabieren. Hingabe muss aber freiwillig bleiben und aus ganzem Herzen kommen.
Maria Kaissling:
Das ist interessant. Ich habe ganz ähnliche Erfahrungen gemacht, hätte das aber nie Hingabe genannt, sondern eine Konsequenz meiner Entscheidung, Jesus nachzufolgen. Als Horst (-Klaus Hofmann) mir vorschlug, Seelsorgerin zu werden, dachte ich, er irrt sich in der Person. Ich fühlte mich viel zu jung, habe es dann aber als richtungsweisend angenommen. Gott hat das gesegnet. Nicht immer habe ich es gern gemacht, aber ich wusste, Jesus hat mir diesen Dienst und diese Menschen anvertraut, er wird mir auch geben, was ich brauche. Zur Begleitung von einzelnen kam ja dann auch die Verantwortung für den Brennpunkt Seelsorge und die Seelsorgekurse in Reichelsheim und in Greifswald dazu.
Hermann Klenk:
Hingabe heißt nicht, sich aufgeben, sondern sich in die Hände eines anderen fallen lassen, der dich jetzt führt. Das ist ein wichtiger Unterschied.
Jochen Hammer:
Dieser Führung darf ich mich anvertrauen, gleichsam mit Haut und Haaren. Das schließt ein, dass ich jederzeit bereit bin, wenn er ruft. Abraham z. B. folgte gehorsam seinem Ruf. Hingabe geschieht nicht aus Zwang oder aufgrund von Druck, sondern gleichsam selbstverständlich aus Dankbarkeit und Freude an dem neuen Sein, dass ich ein Bündnispartner Gottes bin, ein Kind und Erbe Gottes.
Als ich hauptamtlich CVJM Sekretär wurde, war mir klar, dass ich das nicht mache, um viel Geld zu verdienen, sondern weil ich „an einer Kathedrale mitbaue“. Ich wollte Reich Gottes ausbreiten. Das ist mit genau acht
Stunden am Tag nicht zu machen. Segen macht Arbeit. Wenn ich Segen empfange, will ich mir die größte Mühe geben, damit ich auch ein Segen werde für andere.
Hingabe wurde für mich einmal konkret, als ich während eines Urlaubs informiert wurde, dass schnell ein Finanzantrag für ein wichtiges Bauvorhaben gestellt werden musste. Ich war bereit, meinen Urlaub zu unterbrechen und meine Familie spielte mit.
Sieglinde Hammer:
Für mich wurde Hingabe konkret an der Frage, ob und wie ich die Berufung meines Mannes mittragen und unterstützen könnte. Als wir nach Kiel gerufen wurden, konnte ich mir nicht vorstellen, in dem alten, baufälligen und übelriechenden CVJM-Haus zu arbeiten. Erst als dann Jochen zu einem Probevortrag eingeladen wurde, formulierte ich eine Bedingung: „Wenn sie mit deiner Verkündigung einverstanden sind, bin ich bereit mitzugehen.“ Hingabe bedeutet nicht, dass man nichts hinterfragen darf. Am Ende gingen wir nach Kiel und erlebten uns als von Gott gesegnet.
Conny Geister:
Als ich mein Leben 1968 bei einer OJC-Konferenz Jesus gegeben habe, bin ich in eine Beziehung eingestiegen, in eine Freundschaft. Die Frage, ob ich etwas aufgebe, war irrelevant. Ich bin in Berührung gekommen mit einer anderen Wirklichkeit, die hat mich wie ein Blitz getroffen und hinterher war nichts mehr wie vorher. Ich war immer noch unmöglich und in vielem ganz die alte Conny, aber alles war anders, ich war verändert, Teil eines Wir. Ich war davon überzeugt, dass wir die Welt verändern, etwas tun können, damit das Licht Christi auch in das Leben vieler anderer kommt.
Ich war gerade bei der OJC, als ich einen Studienplatz für Medizin bekam und überlegen musste, was ich tun wolle. Studieren oder als Mitarbeiterin bleiben? Als ich Gott fragte, was ich denn tun solle, hörte ich als Antwort: „Das musst du selbst entscheiden. Ich will hinterher keine Vorwürfe hören.“ Er kannte mein Herz besser als ich. Ich habe dann gespürt, dass mir die Arbeit und das Leben in der OJC so wichtig ist, dass ich geblieben
bin.
Friederike Klenk:
Hingabe bedeutet nicht, ich muss tun, was Gott will, und dabei befürchten, dass er bestimmt etwas will, was ich nicht will. Du hattest Lust, an etwas Großem teilzunehmen und du durftest entscheiden. Du hättest auch als Medizinerin eine wichtige Arbeit tun können. Die Frage, die du beantworten musstest, war, was du mit ganzem Herzen tun willst.
Maria Kaissling:
Ich dachte wie viele andere auch, Hingabe heißt Verzicht auf alles Schöne, Wahre, Gute. Wer will das schon? Aber jeder Sportler, der erfolgreich sein will, verzichtet auf etwas und gibt sich dem Konditionstraining hin. Man verzichtet z. B. auf Freizeitbeschäftigungen, trainiert, dann gewinnt man den „goldenen Adler“ (wie z. B. die Skispringer). Das hat mich als junger Christ angesprochen. Ich will etwas gewinnen. Ich will die Welt gewinnen, ich will Gott gewinnen. Ich will beim großen Festmahl im Himmel mit am Tisch sitzen. Ich will an der Seite Jesu bleiben. Dafür war mir auch der eine oder andere Verzicht nicht zu viel. Das konnte ich auch, weil ich nur für mich zu entscheiden hatte. Ich habe weder Mann noch Kinder, sonst wäre vielleicht manche Entscheidung anders ausgefallen.
Friederike Klenk:
Ich habe Mann und Kinder. Ich habe zuerst Gottes Barmherzigkeit und Liebe kennengelernt. Am Anfang war eine tiefe Erfahrung von Vergebung.
Wir hatten es ja beide nicht geschafft, unsere Beziehung gut zu leben. Nach der Vergebung konnten wir zum ersten Mal offen und ehrlich miteinander reden und dann auch miteinander beten: „Hier sind unsere Scherben. Wir bitten dich, dass du jetzt unsere Ehe und unser Leben übernimmst. Wir wollen ab heute hören, was du sagst und es wichtiger nehmen, als uns selbst.“ Hingabe ist für mich die Antwort auf erfahrene Barmherzigkeit.
Jahre später bin ich an Krebs erkrankt und da ist mir noch ein anderer Aspekt deutlich geworden. Ich hatte mich jahrelang eingesetzt für das Reich Gottes, aber ich hatte aufgehört, Gott zu fragen, was er wirklich von mir will. Ich machte, was mir angetragen wurde und dachte, das müsse ich. Durch die Krankheit musste ich alles loslassen, alle Ämter, alle Dienste, und Gott ganz neu fragen, was er wirklich von mir will. Vielleicht tue ich vieles, was ich gerne tun möchte. Vielleicht tue ich vieles, von dem andere meinen, dass ich es tun soll, weil ich begabt bin oder die Arbeitskraft nötig. Durch das Loslassen in meiner Krankheit gab es eine tiefe Veränderung in meinem Hingabeverständnis. Nach 15 Jahren Aktivität, vielleicht auch Abenteuer, musste ich dem Hören auf Gott eine neue Priorität einräumen.
Heute ist mir wichtiger, was wir in jedem Mittagsgebet beten: „Ich gehöre nicht der Arbeit, nicht den Menschen und nicht mir selbst.“ Das Kriterium ist nicht die Arbeit, auch nicht die Menschen oder ihre Bedürfnisse. Ich gehöre Gott. „Meine Zeit steht in deinen Händen.“
Hermann Klenk:
Das ist etwas, was ich bis heute immer wieder neu lernen muss. Meine Pläne dürfen durchkreuzt werden. Da wird dann nichts aus der Fahrradtour im Sonnenschein, die ich mir gewünscht hatte. Darauf hatte ich mich gefreut. Aber ich hatte auch am Morgen gebetet, dass ich tun würde, was Jesus von mir will. Wenn aus dem Ausflug nichts wird, kann ich mir natürlich davon den Tag verderben lassen oder tun, was ansteht. Hingabe bedeutet für mich, dass ich nicht weiß, wie alles ausgeht, aber ich überlasse mich einem, der weiß, wie es ausgeht. Das ist mir ein großer Trost.
Angela Ludwig:
Mir geht es ganz ähnlich. Jeden Morgen spreche ich das gleiche Gebet und sage Jesus, was immer an diesem Tag auf mich zukommt, ich will ihm zur Verfügung stehen. Da ist alles drin. Das ändert nichts daran, dass ich mich über manche Aufträge ärgere, die Verzicht bedeuten. Oft dachte ich, ich müsse es ja tun, aus Pflicht. Dann aber merkte ich, dass ich es nicht tue, weil ich muss, sondern weil ich kann – auch wenn mir ein Einsatz oder ein Mensch mehr abverlangt als ich dafür eingeplant habe. Im Nachhinein habe ich dann gemerkt, dass der Umweg, der Mehreinsatz, die Mühe, dass all dies auch mich bereichert hat. Kraft und Zeit wurden mir geschenkt und es war viel leichter, als ich im Vorfeld gedacht habe.
Conny Geister:
Für mich wurde die Hingabe oft klarer und echter nach einer Buße, einer Umkehr, nach Reue. Wenn ich erkannt hatte, Mist, so war das eigentlich nicht gedacht gewesen und ich habe das doch voll Leidenschaft betrieben!, dann war das wie ein Stopp. Ich musste innehalten, mich neu ausrichten und umkehren. Ab da ging es wieder leichter weiter. Das ist für mich ein Prozess, der das ganze Leben anhält.
Friederike Klenk:
Hingabe bedeutet, mich dem anzuvertrauen, der genau weiß, was mir guttut, was für mich ein guter Weg ist, der mir und meinen Gaben entspricht. Manchmal gibt es Grenzziehungen. Hermann hat sieben Jahre in der OJC so gut wie nichts mit Architektur zu tun gehabt, dann kam das Schloss, und er durfte plötzlich Architektur auf hohem Niveau betreiben. Gott nimmt einem nichts weg. Er hat versprochen: Wenn wir ihm alles geben, wird uns alles Übrige zufallen. Manchmal muss man von etwas frei werden. Durch Hingabe werden wir immer in die Freiheit geführt.
Maria Kaissling:
Dass Hingabe in eine größere Freiheit führt, habe ich als freiheitshungriger Mensch recht schmerzhaft erlebt. Als ich den schweren Unfall mit der Verletzung der Halswirbelsäule hatte, fürchtete ich mich sehr davor, nie mehr frei sein zu können, stattdessen ewig angewiesen und abhängig sein zu müssen. Das wäre ein Grund, Gott die Freundschaft zu kündigen. Damals versuchte ich ernsthaft, Gott zu bestechen: „Lieber Gott, du kannst meinen größten Schatz haben (das waren meine Bücher), Hauptsache, es ist wieder gut zwischen uns.“ Und dann war es, als ob Gott vergnüglich lachte und sagt: „Ich brauche deine Bücher nicht. Ich will dich!“