
Brennt unser Herz?
Wir dürfen davon ausgehen, dass der Emmaus-Erzählung trotz aller zeitgenössischen Stilisierung eine wirkliche Begegnung mit dem Auferstandenen zugrunde liegt. Zwei Menschen haben den auferstandenen Christus erfahren – so tief und so real erfahren, dass ihr Herz brannte und sie sofort nach Jerusalem zu ihren Freunden zurückkehrten.
Das Problem
Das eigentliche Problem dieser und aller übrigen Ostergeschichten liegt anderswo. Es besteht darin, dass wir solche Erfahrungen heute anscheinend nicht mehr machen. Sagen wir es ganz deutlich: Es gibt keine Ostererscheinungen mehr. Keinem von uns hat sich der Auferstandene je gezeigt. Die Erfahrungen, die hinter den Ostergeschichten der Evangelien stehen, scheinen unwiederholbar. Hier liegt das wahre Problem aller Ostererzählungen. Denn wenn uns die Erfahrungen, die hinter einer Erzählung stehen, nicht mehr zugänglich sind, wenn sie von unserer eigenen Erfahrung nicht mehr gedeckt und nicht mehr erreicht werden können, dann ist eine solche Erzählung tot, und dann kann sie auch durch die beste Exegese nicht mehr zum Leben erweckt werden. Dann hat eine Erzählung wie die von den Emmaus-Jüngern im Grunde nichts mehr mit uns und unserer Existenz zu tun.
Allerdings müssen wir nun sehr ernsthaft und sehr genau fragen: Gibt es die Erfahrungen, die hinter den Ostergeschichten der Evangelien stehen, für den modernen Menschen wirklich nicht mehr? Ist es so sicher, dass wir solche Erfahrungen nicht mehr machen?
Das Memorial Pascals
Als der französische Mathematiker und Naturwissenschaftler Blaise Pascal gestorben war, fand man eingenäht in eines seiner Kleidungsstücke ein sehr sorgfältig beschriebenes Stück Papier, das ihm offensichtlich sehr viel bedeutet und das er stets bei sich getragen hatte. Dieses Memorial, wie man es genannt hat, hält die Erfahrung eines ganz bestimmten Tages und einer ganz bestimmten Stunde im Leben Pascals fest. Es lautet:
„Das Jahr der Gnade 1654. Montag, 23. November, Tag des heiligen Clemens, Papstes und Märtyrers, und anderer im Martyrologium, Vigil des heiligen Chrysogonus, Märtyrers, und anderer, von ungefähr zehn und ein halb Uhr am Abend bis ungefähr eine halbe Stunde nach Mitternacht, Feuer. ‚Gott Abrahams, Gott Isaaks, Gott Jakobs‘ nicht der Philosophen und Gelehrten. Gewissheit. Gewissheit. Empfindung. Freude. Friede. Gott Jesu Christi. Deum meum et deum vestrum. ‚Dein Gott soll mein Gott sein.‘ Vergessen der Welt und aller Dinge, ausgenommen Gott. Er wird nur auf den Wegen gefunden, die im Evangelium gelehrt sind. Größe der menschlichen Seele. ‚Gerechter Vater, die Welt hat dich nicht erkannt, aber ich habe dich erkannt.‘ Freude, Freude, Freude, Tränen der Freude. Ich habe mich von ihm getrennt. (…) Möge ich nicht ewig von ihm getrennt werden. ‚Dies ist das ewige Leben, dass sie Dich erkennen, den einzigen, wahren Gott, und den Du gesandt hast, Jesus Christus.‘ Jesus Christus. Ich habe mich von ihm getrennt; ich bin vor ihm geflohen, ich habe ihn verleugnet, gekreuzigt. Möge ich nie von ihm getrennt sein. Er wird nur auf den Wegen bewahrt, die im Evangelium gelehrt sind: Vollkommene, innige Entsagung. Vollkommene Unterwerfung unter Jesus Christus und unter meinen geistlichen Führer. Ewig in der Freude für einen Tag der Plage auf Erden. Non obliviscar sermones tuos. Amen.“
Dieses Memorial berichtet von einer wirklichen Erfahrung. Sie wird genau datiert. Der Naturwissenschaftler Pascal hat sie fast wie die Daten eines Experiments festgehalten. Die Erfahrung, die er gemacht hat, lässt sich mit der der Emmaus-Jünger vergleichen. Es handelt sich nicht um theologische Einsichten, die man jeden Tag haben kann, sondern um die erschütternde und alles verändernde Erfahrung einer ganz bestimmten Stunde, die man nie mehr vergisst. Es handelt sich aber auch nicht um eine allgemein menschliche Erfahrung, die jeder religiöse Mensch machen kann, sondern um eine spezifisch christliche Erfahrung, die ihre Vorgeschichte hat: nämlich die Glaubensgeschichte vieler Generationen. Pascal ist in einer ganz bestimmten Stunde Christus begegnet und in Christus dem Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs.
Diese Begegnung bewirkte tiefste Freude und zugleich Frieden.
Wir haben nicht das Recht, die Worte „Freude, Freude, Freude, Tränen der Freude“ in irgendeiner Weise aufzulösen. In dieser Freude findet Pascal den Frieden. Einen Frieden, der das Leben neu ordnet, der es auf eine neue Ebene stellt, der es ganz klar und eindeutig macht. Pascal weiß plötzlich, dass er bisher von Christus getrennt war, obwohl er doch schon vorher geglaubt hatte. Er weiß, dass er Christus und in ihm Gott erst jetzt wirklich gefunden hat. Und in all dem tiefste Gewissheit. Pascal wiederholt dieses Wort zweimal.
Erfahrung des Auferstandenen auch bei uns?
Verlassen wir an dieser Stelle das Memorial Pascals und stellen wir die letzte und entscheidende Frage: Gibt es für uns ähnliche Erfahrungen, wie sie Pascal an jenem Abend gemacht hat? Oder ist das alles eben doch singulär, absolute Ausnahme, nur bestimmten Menschen vorbehalten?
So wie es Pascal erlebt hat, ist es sicher unwiederholbar. Erfahrungen, die derart in die Geschichte eines ganz bestimmten Menschen eingebunden sind, können nie in der gleichen Weise wiederkehren. Das ist übrigens auch der Grund, warum sich die Ostererfahrungen der ersten Zeugen nicht mehr wiederholen. Sie setzen eine ganz bestimmte geschichtliche Situation voraus, die nicht mehr die unsere ist.
Und doch gibt es in den Ostererscheinungen, in der Erfahrung Pascals und in den Erfahrungen vieler Christen etwas Gemeinsames, das sich stets von neuem wiederholen kann: die Erfahrung, dass man plötzlich vor dem Gott Jesu Christi steht und ihm nicht mehr ausweichen kann; die Erfahrung, dass einem das Herz brennt; die Erfahrung einer Freude, die so tief ist, dass alle anderen Freuden dieser Welt verblassen; die Erfahrung tiefen Friedens und letzter Gewissheit. All diese Erfahrungen können sehr verschieden sein. Sie können uns überwältigen, sie können sich aber auch so leise im Herzen melden, dass wir sie übersehen. In irgendeiner Form jedoch kann jeder Christ sie machen. Man macht sie vor allem dann, wenn man bereit ist, Jesus nachzufolgen und sich von ihm führen zu lassen. Man macht sie dann, wenn man nur noch den Willen Gottes tun will und sonst nichts mehr. Man macht sie dann, wenn man mit seiner ganzen Existenz für die anderen Menschen da sein will. Wer Erfahrungen dieser Art einmal gemacht hat, kommt von ihnen nicht mehr los. Man kann sie zuschütten, man kann sie verdrängen, aber dann melden sie sich eines Tages von neuem. Man kann sie bei sich selbst in Frage stellen, und man kann sich sehr wohl darüber im Klaren sein, dass es im Raum dieser Erfahrungen keine Stelle gibt, die nicht mit den Mitteln der Psychologie sezierbar und hinterfragbar wäre.
Und trotzdem weiß man, dass keine Psychologie die Erfahrung der Freude, der Gewissheit und der Sinnhaftigkeit, die man in der verborgenen Begegnung mit Jesus und mit Gott gemacht hat, je hinreichend erklären kann. Sowenig ein Kunstwerk auf der Ebene einer rein wissenschaftlichen Analyse adäquat verstanden werden kann, so wenig lassen sich religiöse Erfahrungen mit den Mitteln der Psychologie adäquat verstehen.
Um es noch einmal ganz deutlich zu sagen: Es soll nicht behauptet werden, dass solche Erfahrungen, wie ich sie hier zu beschreiben suchte, mit den Ostererfahrungen der ersten Zeugen sachlich einfachhin identisch wären. Aber wer die beschriebenen Erfahrungen je gemacht hat, wird glauben können, dass damals, vor fast zweitausend Jahren, zwei Jünger auf einem ganz bestimmten Weg und zu einer ganz bestimmten Stunde erfuhren: Jesus lebt; er ist bei uns; er macht, dass unser Herz brennt; er schenkt uns seinen österlichen Frieden: Und er wird auch glauben, dass einmal die eine Stunde kommt, für die sämtliche Ostererfahrungen dieser Welt nur Vorspiel sind: die Stunde der letzten und endgültigen Begegnung, die Stunde der alles überströmenden Freude, in der wir endgültig erkennen und in der uns Jesus nicht mehr entschwindet. Dann wird es nie mehr Abend werden, und kein Tag wird sich dann mehr neigen. Die Freude des Mahles hat kein Ende.
Aus: Der Tod ist nicht das letzte Wort, Herder-Verlag, Freiburg 1976, S.12–20