All-In-Man. Aufs Ganze gehen ohne dabei draufzugehen. Zu sehen ist ein Mann in Wanderklamotten auf der Straße Richtung den Bergen.

All-In-Man

Aufs Ganze gehen ohne dabei draufzugehen

„All in“ – kaum ein Begriff beschreibt das Wesen wahrer Männlichkeit so treffend. Nichts fasziniert mehr als ein Mann, der bereit ist, alles zu geben, der sich mit Haut und Haar riskiert. Kein Fußball ohne Draufgänger, die unermüdlich stürmen oder mit ganzer Hingabe das Tor verteidigen. Der Pastor, der sich nicht zu schade ist, für seine Gemeinde alles zu geben. Ein Mann, der sich hingebungsvoll um seine schwer erkrankte Ehefrau kümmert.

Das überrascht nicht – es liegt in uns. Als Ebenbilder Gottes haben wir den menschgewordenen Gottessohn vor Augen. Jesus ist „all in“ gegangen: als er sich taufen ließ, halbverhungert den Versuchungen des Satans in der Wüste standhielt, den Pharisäern schlagfertig konterte, die Leidenden erbarmungsvoll heilte und seine Jünger – mal liebevoll, mal streng – auf ihre Mission vorbereitete, die weltweite Kirche zu gründen. Und dann das Finale, mit dem niemand rechnete: Er setzte alles ein – sein Leben. Sein Tod für uns, damit wir nicht nur leben, sondern durch seine Auferstehung ewiges Leben haben.

Ohne Wenn und Aber: Jesus ist nicht nur der Mensch, er ist auch der Mann schlechthin – in seinem Wesen, seinem Handeln, seiner Ausrichtung. An ihm kommen wir als Männer nicht vorbei, wenn wir verstehen wollen, wer wir sind und wozu wir berufen sind. Das Neue Testament bietet mit seinen Geschichten eine Fülle an Eigenschaften und Vorlagen, die wir für uns entdecken können. Vor diesem Hintergrund kann man zusammenfassend sagen: Mann-Sein heißt im Kern, sein Leben zum Geschenk für andere zu machen. Ein Leben in der Hingabe zu leben. Schreibt sich schnell, klingt einfach, predigt sich gut – doch wie sieht der Realitätscheck aus?

Externalisierung – Chance und Gefahr

Es scheint in der Natur und in der Kultur des Mannes zu liegen, sich nach außen zu verausgaben. Er legt im Gegensatz zum Weiblichen seinen Fokus viel stärker auf das Äußere: Er baut, entwickelt, strukturiert, erfindet und definiert sich maßgeblich über das Machen. Der Wunsch, etwas Großes zu erreichen, das Unmögliche herauszufordern oder auch nur etwas sehr gut zu machen, lässt Männerherzen höher schlagen. Die Kehrseite dieser Stärke ist seine Schwäche: Wer gibt, muss haben. Wer ausgibt, muss einnehmen. Wer nicht mehr hat, sucht verständlicherweise. Nicht selten meldet sich bei der Verausgabung die eigene Bedürftigkeit. Der Männerforscher und Professor für Sozialpädagogik Lothar Böhnisch (1944-2024) schrieb: „Der außengeleitete Mann sucht in seinen Krisen die Geborgenheit und Intimität der familiären Bindung in einer Art und Weise – eben in einer funktionalen Anspruchshaltung – welche die Familie überfordert …“ 1

Meine Überforderung

So ging es auch mir, als ich nach einem anstrengenden Tag nach Hause kam. Meine Kinder tobten, spielten laut und waren übermütig. Ihre Unbefangenheit und Rücksichtslosigkeit gegenüber der Umwelt (besonders mir gegenüber) triggerten etwas, und ich explodierte. Zugegebenermaßen war der Tag herausfordernd gewesen. Ich brüllte sie an, ging wutentbrannt in ein anderes Zimmer und knallte auf dem Weg jede Tür lautstark zu. In meinem Innersten tobte ich vor Wut: „Was erlauben sich diese Gören? Haben sie keinen Respekt?“

Ich fühlte mich dieser Wut völlig ausgeliefert, und die Erinnerung daran, dass ich meinen Vater auch so erlebt hatte, machte alles nur noch schlimmer. Tiefe Selbstverachtung und Scham breiteten sich in mir aus: Ich wollte doch nie so reagieren wie mein Vater! Warum passiert das gerade jetzt?!?

In den folgenden Tagen ging ich der Szene in der Stille immer wieder nach. Innerlich wollte ich mich dem nicht stellen, weil ich wusste, dass mich etwas Unangenehmes erwartete. Es war ein Ringen, ein innerlicher Kampf. Ich fragte mich, warum ich so bescheuert reagiert hatte. Ich hätte meinen Kindern doch einfach sagen können, dass sie sich ruhiger verhalten sollen, oder ich hätte rausgehen können.

Nach einer Weile traf ich auf eine Spur, die in mir eine tiefe Traurigkeit auslöste. Es war der Schmerz, dass ich mit meinem Vater nicht hatte erleben können, was für meine Kinder im Umgang mit mir so selbstverständlich war: gemeinsamer Spaß, Rumtoben und Vertrautheit. Ich hingegen hatte oft Angst vor meinem Vater gehabt und hätte mich nach solchen Vater-Kind-Momenten gesehnt. Das Verhalten der Kinder hat an diesem Schmerz gekratzt. Sie waren nicht die Ursache meines Wutausbruchs, sondern nur der Auslöser.

Erst als ich in diesen Kampf um die Ursache meines Fehlverhaltens einstieg und ihn aushielt, konnte ich meiner wahren Ohnmacht begegnen und demütig meine Wirklichkeit annehmen. Das veränderte mich und das Verhältnis zu meinen Kindern.

Stolperstein Bedürftigkeit

Was haben Ravi Zacharias (weltweit bekannter Apologet), Carl Lentz (ehemaliger Pastor von Hillsong, New York) und Bill Hybels (Gründer und ehemaliger Leiter der Willow Creek Community) gemeinsam? Sie gehörten zu den einflussreichsten Persönlichkeiten in der evangelikalen Szene und sie gaben alles für das Wachstum der Gemeinden. Und doch sind sie an einer Sache gestolpert: an ihrer Bedürftigkeit. Durch Affären mit oder Missbrauch von Frauen zerstörten sie ihre Karrieren und sorgten für immensen Vertrauensverlust. Kein dezidiert evangelikales Problem.

Druck drückt nämlich beides aus uns heraus: Bewundernswertes und Bedürftiges. Wer mehr ausgibt als er hat, brennt aus, weil er ständig seine Bedürftigkeit übergeht und zudem für die eigene Ehe und Familie oft nicht da ist. „Männer, die sich unter dem Druck intensivierter Arbeit ihren emotionalen Ausgleich bei der Partnerin holen wollen, (…) und dann erfahren müssen, dass Frauen das nicht so selbstverständlich mit sich machen lassen.“ (Lothar Böhnisch). Berühmtheit, Macht und die Begründung, stets im „Dienst des Herrn“ unterwegs zu sein, führen zu folgendem Kurzschluss: Ich habe so viel gegeben, das darf ich mir jetzt gönnen, das steht mir nun zu. Aus einem selbstlosen Geben wird ein toxisches Nehmen.

In eine ähnliche Kategorie fällt die Pornographie. Sie ist der vergebliche Versuch, die eigene Leere zu füllen. Mit Sex hat sie eher wenig zu tun. Sie bedient offenbar zahlreiche und unterschiedliche, berechtigte Bedürfnisse auf dysfunktionale Weise: Sehnsucht nach Anerkennung, Gefühle der Macht-Ohnmacht in der Intimität mit Frauen, Umgang mit mangelndem Selbstwertgefühl, u.v.m.

Der vermeintliche „Vorteil“ der Pornographie? Die abstrakte Frau am Bildschirm kommt der eigenen Bedürftigkeit nicht zu nahe. Denn würde sie es tun, müssten entweder der Schmerz der unbeantworteten Sehnsucht aufbrechen oder jene ersehnte echte Befriedung eintreten. Weder das eine noch das andere geschieht, denn in „der pornographischen Sexualität erfüllen sich zwei zentrale Phantasmen des Ökonomischen: Weder Begehren noch Befriedigungsmöglichkeiten werden knapp und auch ein Sättigungseffekt tritt nie ein.“ 2

Wer zufrieden ist, muss sich nicht befriedigen. Die Unzufriedenheit ist die Aufforderung, dem eigenen nicht-befriedeten Anteilen zu begegnen. Jede Versuchung ist ein Alarmsignal, sich mit seiner Bedürftigkeit auseinanderzusetzen und in die Fülle zu kommen.

Ein gesundes Maß

Mit Hingabe assoziieren viele die Begriffe Selbstaufgabe bis zur Selbstzerstörung. Doch das Gegenteil ist der Fall: Hingabe ist der christusgemäße Weg zur eigentlichen und wahren Selbstverwirklichung! Durch unsere Hingabe verwirklichen wir selbst unsere Gottebenbildlichkeit in der Welt. Und dennoch wissen wir, wie schwer das ist und wie oft wir über unsere Unreife stolpern. Deswegen heißt es nicht umsonst: Reif ist, wer nicht mehr so oft auf sich hereinfällt (vgl. Heimito von Doderer).

Wer sein Äußerstes geben will, muss mit seinem Innersten maßhalten. Hingabe heißt ebenso, mit den eigenen Stolperfallen, der eigenen Bedürftigkeit in Berührung zu kommen. Mit dem Innersten verbunden sein bedeutet eben auch, für das Innere eine Sprache zu haben. Wie oft erlebe ich Männer in Seminaren, die sich schwertun, ihrer Sehnsucht, den inneren Ungeheuern, Namen zu geben und ihre Bedürftigkeit in Worte zu fassen.

Sein Wille – die ultimative Hingabe

Gott weiß, wie schwer das ist, und gerade deshalb ist er bereit, einen weiten Weg mit uns zu gehen. Es ist ein Weg, der mit unserer Entscheidung anfängt. Ein Weg von dem „Nach-außen-gedrängt-Sein“ und dem „Nicht-innehalten-Können“ (Lothar Böhnisch) hin zu einem befriedeten und in sich ruhenden Selbst. Wie oft hören wir in den Evangelien, dass Jesus sich zurückzog, um mit seinem Vater zu reden. Er konnte nur all-in gehen, sich ganz veräußern, weil er ganz mit sich und seinem Vater verbunden lebte. Wer mindestens einmal oder gar mehrmals am Tag innehält und den Wunsch „Dein Wille geschehe“ in Gebet oder Seufzer äußert, wird verändert. Und manchmal bleibt uns nichts anderes übrig, als uns Gott ganz hinzuhalten und ihm unsere Bedürftigkeit hinzugeben. Wir werden dabei nicht leer ausgehen, denn Jesus verspricht: Kommt her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid; ich will euch erquicken (Mt 11,28). Er, der sich vollkommen hingeben konnte, will unseren Durst löschen und uns für unsere Berufung zurüsten: ein Leben, das sich in der Hingabe verwirklicht.

Jeppe Rasmussen hat Konstantin Mascher dazu befragt, was es heute bedeutet, als Mann all-in zu gehen. Hier geht es zum Podcast: https://ojc-feinhoerig.letscast.fm/episode/was-bedeutet-es-ein-mann-zu-sein


  1. Böhnisch, Lothar: Der modularisierte Mann - Eine Sozialtheorie der Männlichkeit, 4. Auflage, Bielefeld, transcript Verlag, 2018 

  2. Ebd. 

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