Hameluja, hameluja!
Hameluja, hameluja! Jan saß am vierten Advent im Gottesdienst, aber richtig bei der Sache war er nicht. Vor seinem inneren Auge sah er ein Ölgemälde. Darauf war ein dunkler Nachthimmel zu sehen, ein Stall, das Jesuskind, die Eltern Maria und Josef. Außerdem auch einige Hirten und Engel, die das Kind ehrfürchtig anbeteten. Allerdings hatten auf dem Ölgemälde ein Engel und ein Hirte noch kein Gesicht.
1515. Dieses Bild gab es wirklich. Es hing in Jans Künstlerstube, in der er schon wochenlang jeden Tag stand und mit feinen Pinselstrichen das Krippenbild malte.
Bilder mit dieser Krippen-Szene hatten schon viele andere Künstler gemalt, doch jeder machte es irgendwie anders. Außerdem war es Sitte, dass man diejenigen ins Bild malte, die das Bild in Auftrag gegeben hatten. Jans Bild hatte der Kaufmann Jost bestellt. Darum hatte Jan auch nicht lange überlegen müssen, wen er als Maria malte: Die Tochter von Jost. Sie war nämlich Jans Verlobte Theodora. Zwei der Engel waren Theodoras Schwestern. Auch Jost und seine Frau hatte Jan als Josef und einen Engel untergebracht. Jan selbst war ein Hirte. Fast hätte er einem Schaf eine Ähnlichkeit zu seinem unfreundlichen Nachbarn gegeben, aber er ließ es doch bleiben. Mit den letzten beiden Figuren tat er sich schwer. Er wollte niemand ärgerlich machen oder jemanden bevorzugen. Wenn er zum Beispiel eine von Theodoras Nichten als Engel zeichnen würde, dann müsste er alle ins Bild malen. So viele Engel hatten aber auf keinen Fall Platz. „Wie wäre es, den Pfarrer als einen Hir…“ Jan konnte den Gedanken nicht mehr zu Ende denken, denn in der Kirche wurde nun ein Lied angestimmt.
Gleich als die Gemeinde angefangen hatte zu singen, merkte jeder, dass Familie Brückner heute wieder ihre beiden Kinder mitgebracht hatte. Richard und Eleonore waren acht und zwölf Jahre alt. Manchmal nahmen ihre Eltern sie mit in den Gottesdienst. Aber aus Rücksicht nicht an Weihnachten, denn ganz ruhig halten konnten sie die Kinder nie. Auch dieses Mal rief Eleonore in schiefen Tönen, wie als Echo, den Text des Liedes. Das Lied hieß „In dulci jubilo, nun singet und seid froh.“ Jan war selbst Musiker und er wurde immer unruhig, wenn Gesang so unschön unterbrochen wurde. Ungeduldig schaute er zu Eleonore hinüber, die wie ihr Bruder seit der Geburt eine geistige Behinderung hatte. Die Mutter der beiden machte keine Anstalten, Eleonore ruhig zu halten. Als Jan so zu der Kleinen herüber starrte, fiel ihm auf, wie fröhlich Eleonore aussah. Ihren Bruder hatte sie angesteckt. Er klatschte in die Hände und als das Lied vorbei war, sang Eleonore noch weiter. Richard rief „Hameluja, hameluja!“ „Die beiden sehen eigentlich viel froher aus als alle anderen – obwohl wir gerade gesungen haben, ‚Nun singet und seid froh!‘“, dachte Jan.
Nach dem Gottesdienst suchte Jan seine Verlobte. Er fand sie im Gespräch mit Frau Brückner und hörte gerade noch, wie diese sagte: „Ich hoffe, die beiden waren nicht allzu störend, Theodora. Sie wollen nur immer so gerne in die Kirche. Da will ich sie wenigstens einmal im Advent mitnehmen.“ „Das verstehe ich, Frau Brückner. Mich hat es gar nicht gestört.“ Dann bemerkte Theodora Jan und grüßte ihn: „Ach, guten Tag Jan! Begleitest du mich nach Hause?“
Auf dem Heimweg fragte Theodora: „Wie hat dir der Gottesdienst gefallen?“ „Ich fand ihn sehr schön“, antwortete Jan. „Wirklich?“, fragte Theodora skeptisch. „Ich weiß doch, dass du solche Unterbrechungen beim Singen nicht leiden kannst.“ „Das stimmt, schön klang es nicht. Aber ich fand, es war sehr fröhlich und außerdem weiß ich jetzt endlich, wie mein anbetender Engel und der Hirte auf dem Bild aussehen werden.“
Historischer Hintergrund: Es gibt viele Bilder die zeigen, wie das Jesus-Kind in der Krippe angebetet wird. Auf einem Ölgemälde von 1515 sind allerdings ein Engel und möglicherweise ein Hirte, als Personen mit Down-Syndrom gemalt. In dieser Zeit war es üblich, die Familie des Auftraggebers in solch ein Bild zu malen. Der Künstler des Bildes ist unbekannt.