Nicolas Poussin, Die Anbetung des Goldenen Kalbes, 1633-34

Gott auf der Spur

Der Mensch als Ikone Gottes

Klausur unserer Gemeindeleitung vor vielen Jahren. Ich hatte das Thema Gottesbilder vorgegeben. Als ich zu einem Austausch einlud, lachten einige: Gott kennen wir, da sind wir schnell fertig. Aber die Runde nahm Fahrt auf und unsere kleine Gruppe war urplötzlich in einem spannenden Gespräch.

Am eindrücklichsten blieb mir der Beitrag einer Teilnehmerin. Sie gehörte zu den Älteren unserer Gemeinde und erzählte von ihrer Jugend und von ihrem Opa, der damals die prägende Figur dieser Gemeinde war: „Rauchen war streng verboten … also haben wir es heimlich gemacht, damit der Opa es nicht merkt.“ Dann stockte sie, es kamen ihr die Tränen, als ihr plötzlich klar wurde: „So denke ich auch über Gott. Was Spaß macht, verbietet er, also tun wir es heimlich und hoffen, nicht erwischt zu werden.“ Es war für alle überraschend, dass unser Bild von Gott bei aller Frömmigkeit eben nicht nur von der Bibel geprägt ist. Denn wie wir die Bibel lesen und wie wir sie hören, hat ganz wesentlich mit unserer Lebensgeschichte zu tun.

In Martin Luthers Katechismus lautet das zweite Gebot „Du sollst den Namen des Herrn, deines Gottes, nicht missbrauchen.“ Im biblischen Wortlaut klingt das so: Du sollst dir kein Bildnis noch irgendein Gleichnis machen, weder von dem, was oben im Himmel, noch von dem, was unten auf Erden, noch von dem, was im Wasser unter der Erde ist: Bete sie nicht an und diene ihnen nicht! (Exodus 20,4f). Diese Worte haben eine ganz andere Qualität. Klaus Bockmühl stellt fest: „Die einzigartige Autorität der Zehn Gebote hängt mit ihrem Ursprung zusammen. Sie stammen nicht von Menschen (…), sondern direkt von Gott (Ex 20,1). Alle übrigen Gesetze des Alten Testaments wurden durch Mose vermittelt.“1 Hier sprechen also nicht Menschen über Gott – hier spricht Gott über Gott!

Alle Gebote sind die Folge der Verbundenheit Gottes mit seinem Volk. Kurt Hennig hat mich gelehrt: „Der Bund, den Gott mit seinem Volk macht, geht aber der Gesetzgebung voraus.“2 Und so sind alle Gebote letztlich Auslegungen des ersten Gebotes: Und Gott redete alle diese Worte: Ich bin der HERR, dein Gott, der ich dich aus Ägyptenland, aus der Knechtschaft, geführt habe. Du sollst keine anderen Götter haben neben mir (Ex 20,1-3). Es geht um die Einzigartigkeit des Gottes, der sich seinem Volk offenbart. Dabei fällt auf, dass das Wort Gebot weder im Hebräischen noch im Luthertext auftaucht. Was in unserer Übersetzung Wort heißt, heißt im hebräischen Original d b r. Es ist das Wort, das Leben hervorbringt. Darum ist auch die Rede vom Dekalog – von den zehn Worten. Vielleicht sollten wir deshalb besser von den „zehn Ermöglichungen“ sprechen. Weil diese Worte Leben ermöglichen. Es geht nicht um eine Vermeidungsethik – es geht im Tiefsten und Letzten um „die große Freiheit“ (Kurt Hennig). Wo also steckt die große Freiheit in dem, was Luther unter dem Missbrauch des Namens Gottes subsumiert hat?

Gottes Gottesbild

Wenn die hebräische Bibel von „kein Bildnis machen“ spricht, nutzt sie das Wort pεsεl. Die griechische Übersetzung (Septuaginta) lautet eidolov, das bedeutet Götzenbild. Unser Wort Idol ist davon abgeleitet. Und die lateinische Vulgata nimmt sculptile, also ein geschaffenes Bild, eine Skulptur. Das Bildnis, vor dem hier gewarnt wird, ist also ein – ideell oder materiell – selbst erstelltes Gottesbild, kurz Götzenbild. Das Bilderverbot ist nicht die Ablehnung von Bildern an sich, sondern von falschen und festgelegten Bildern. Menschen pressen damit ihren Gott in eine statische Form. Unser Gott ist aber der unverfügbare Gott, der sich uns Menschen zuwendet.

Die große Freiheit als Lebensermöglichung besteht in einer Ablehnung und in einem Zuspruch. Während Mose auf dem Berg von Gott die beiden Tafeln der Zehn Worte empfangen hat, hat das Volk in der Ebene sich statt des unsichtbaren, einen sichtbaren Gott gemacht und angebetet: das goldene Kalb. Das Volk nötigt Aaron: Auf, mache uns Götter, die vor uns hergehen! Denn wir wissen nicht, was diesem Mann Mose widerfahren ist… (Ex 32,23). Die Lage war ernst. Jemand musste die Verantwortung für das Lebensglück übernehmen. Aber die Vorstellung, sich einen Gott selbst basteln zu wollen, entstammte der Angst. Und die leichtfertige Antwort war, sich sichtbar zu versichern. Jedes Abbild aber legt Gott fest und macht ihn damit verfügbar. Wenn die Grenze zwischen dem Unsichtbaren und dem Sichtbaren verwischt wird, beraubt man sich des Heiligen, Unfassbaren, Geheimnisvollen. Gott aber ist nicht der Gott unserer Wünsche, sondern der unverfügbare Gott, der sich uns zuwendet und darin unser Leben ermöglicht. Die Ablehnung ist also, sich den eigenen Gott nicht selbst zu basteln. Eben weil es dein Leben hindert, statt zu ermöglichen.

Nun zum Zuspruch. Das Gegenteil von Gott festlegen, ist, sich überraschen lassen. Der Glaube an den unsichtbaren Gott ist der Glaube an sein Versprechen. An den Gott, der sich uns zuwendet, obwohl er zugleich immer unbegreiflich bleibt. Es ist auch ein Zeichen des Vorletzten. Wir sind noch nicht im Letzten – auch über Gott fehlt uns letzte Erkenntnis – gerade das hält uns bei ihm. Wir können seine Unverfügbarkeit erhalten und können ihm doch auf die Spur kommen. Diese Spur führt zielgerichtet durch die ganze Heilige Schrift zu Jesus. Denn Jesus ist das Ebenbild des unsichtbaren Gottes (Kol 1,15), schreibt Paulus. Ohne den menschgewordenen Gottessohn kommen wir immer nur auf unsere eigene Spur. „Gott will nicht außerhalb von Christus begriffen werden.“3 So heißt der Zuspruch dieser Freiheit. Du brauchst Gott nicht zu manipulieren, es genügt vollauf, ihn vertrauensvoll anzubeten. Denn Gott gibt den Menschen keine Götzen, sondern seinen Namen zum Verehren.4 Darum sprechen unsere jüdischen Geschwister auch nur von ha’schem, dem Namen, wenn sie von Gott sprechen. Und dieser Name JHWH meint: Ich bin für dich da. Es ist die Einladung zum gelassenen Vertrauen in Gottes Fürsorge für mein Lebensglück.

Mein Bild von mir

Gott nicht festzulegen, sondern ihm zu vertrauen, führt uns zu uns Menschen zurück. Wir leben in einer medialen Zeit, die unzählige Bilder produziert. Am nachhaltigsten schlägt sich das in den Sozialen Medien wieder. Wenn ich Instagram öffne, begegnen mir zumeist ich-verliebte, das eigene Selbst inszenierende Bilder. So könnten wir uns fragen – uns, die wir mit einem Gott leben, der sich nicht inszeniert – welches Bild inszenieren wir von uns? Haben wir das verstanden? „Wir alle sind das Ebenbild dessen, der sich weigert, je ein Bild zu sein. Weil ich ein Ebenbild des Bildlosen bin, bin ich nie im Bild zu erfassen“?5 Diese Feststellung, dass wir alle – in unserer Verschiedenheit und Einzigartigkeit – Ebenbilder Gottes sind, steht am Beginn der Menschheitsgeschichte (siehe Genesis 1,26). Dort wird der Begriff sεlεm eingeführt, also Bild, Statue, Abbild. Die Vulgata übersetzt das Wort mit imago – also: Imago Dei – Abbild Gottes. Des Gottes, der in keinem Bild zu fixieren und zu erfassen ist. Und wenn wir der Septuaginta folgen, steht dort eikõn – Ebenbild, Aussehen, Gestalt. Damit sind wir wieder bei Paulus. Denn im Kolosserbrief verwendet er für Christus dasselbe Wort: er ist das Ebenbild – die Ikone – des unsichtbaren Gottes. Was Christus und damit auch uns ausmacht, ist nicht einfach in ein Bild zu fassen. Weil er das Original Gottes ist, sind auch wir Originale und dürfen es auch sein. Das bedeutet höchste Lebensermöglichung. Eine, die sich nicht alleine auf uns beschränkt, sondern die auch meinem Nächsten gilt.

Mein Bild von meinem Nächsten

In der Apostelgeschichte wird uns folgende Episode geschildert: Da aber das Volk sah, was Paulus getan hatte, erhoben sie ihre Stimme und riefen (…): Die Götter sind den Menschen gleich geworden und zu uns herabgestiegen. Und sie nannten Barnabas Zeus und Paulus Hermes (…). Und der Priester vom Tempel des Zeus vor der Stadt brachte Stiere und Kränze an die Stadttore und wollte mit dem Volk opfern. Als das die Apostel Barnabas und Paulus hörten, zerrissen sie ihre Kleider und sprangen unter das Volk und schrien: Ihr Männer, was macht ihr da? Wir sind auch sterbliche Menschen wie ihr … (Apg 14,11-15).

Wir alle neigen dazu andere Menschen zu vergöttern (und hin und wieder auch zu verteufeln). Da ist die Heißgeliebte, ein (gerne auch frommes) Idol, unsere Kinder… Wir machen uns ein Bild von ihnen und sind rasch bereit, sie darauf festzulegen. Das funktioniert im Guten wie im Schlechten. Es ist ja nett, wenn die schon etwas ältere Tante in den Kinderwagen schaut und feststellt: „Wie süß – ganz die Mama … ganz der Onkel.“ Und Eltern stehen in der Versuchung, die eigenen Kinder als ihr Abbild zu betrachten. Das sind sie aber nicht, auch unsere Kinder sind nicht unsere, sondern Gottes Abbilder!

Wie kann ich als Abbild Gottes leben – ohne mich oder andere zum Götzenbild zu machen? Wie kommen wir zu guten Bildern voneinander? Und nochmal: statt Vergötterung kann es auch zur Reaktion der Feindbilder kommen – es gibt kaum noch Bilder voneinander, die integrieren. Es geht darum, die Wahrheit über mich und den Anderen wahr sein lassen zu können. Dass wir eben sterbliche Menschen sind. Menschen, die gefordert sind, unsere Menschlichkeit gegenseitig auszuhalten und anzunehmen. Und in jedem Nächsten auch ein Ebenbild Gottes zu sehen. Wer das Geheimnis Gottes wahrt, wahrt auch das Geheimnis des Menschen. Meine Frau Heidi und ich sind seit gut vierzig Jahren ein Paar – genug Zeit, einander gut kennenzulernen. Auch wenn wir häufig wissen, was der andere sagen wird – es ist ein unberechenbares Moment in unserer Ehe geblieben. Dann sind wir überrascht, dass wir doch auch wandelbar sind, wie bei einem nie fertig werdenden Gemälde. So wenig Gott in ein bestimmtes Bild zu fixieren ist, so wenig ist es auch bei uns Menschen möglich. Und so wie wir uns immer wieder von Gott überraschen lassen können, können wir es auch voneinander.

Christen als die Ikone Gottes

Bei all den genannten Bildern stellt sich mir eine abschließende Frage. Wie geben wir Christen ein gutes Bild in unserer Welt ab?
Vor wenigen Wochen haben meine Frau und ich das dänische Christiansfeld besucht. Dieser Ort wurde 1773 als Herrnhuter Siedlung gegründet. Wenige Jahre zuvor war König Christian VII. in den Niederlanden auf die ihm bis dahin unbekannten Herrnhuter gestoßen. Nun aber war er tief beeindruckt. Ihr Glaube und ihr Fleiß beeindruckten ihn gleichermaßen. Und er spürte, dass er für seine gesellschaftlichen Reformbemühungen genau solche Menschen brauchte. Er lud sie in sein Land ein und so kam es zur Gründung von Christiansfeld, das noch heute von Herrnhutern belebt wird. Seit 2015 gehört die Siedlung zum UNESCO-Weltkulturerbe. Der Besuch hat bei uns Eindruck hinterlassen. Und die Frage: Wie müssen wir Christen heute leben, dass man so nach uns fragt? So, dass eine Gesellschaft spürt: Hier ist Lebensermöglichung lebendig. Weil hier Menschen sind, die ein klares Bild von Gott haben – und damit ein klares Bild von sich und ihren Nächsten. Menschen, die nicht sich selbst vergöttern (oder verteufeln), sondern deren Glaube aus Vertrauen in Gott und Zuversicht in sein Handeln für und durch sie besteht. Sie leben von Gottes Zuwendung. So sind damals Menschen zur Ikone, zum lebendigen Bild Gottes geworden. So kann und will es heute noch sein.


  1. Klaus Bockmühl; Christliche Lebensführung, Eine Ethik der Zehn Gebote; S. 17. 

  2. Kurt Hennig; Das Grundgesetz Gottes, Eine Auslegung der Zehn Gebote; Stuttgart 1982; S. 27. 

  3. Gerhard Müller; Martin Luther als Autorität für die lutherische Kirche?; in: Karl Lehmann (Hrsg.); Luthers Sendung für Katholiken und Protestanten; Freiburg 1982; S. 58f. 

  4. siehe Bockmühl a.a.O. 73. 

  5. Wolfgang Dietrich; Bilder durchschauen – Idole verhindern (Das zweite Gebot); in: Die Zehn Gebote; Eschbach 1989; S. 8.