Aussaat
Es ist der Sämann, standhaft steht er
Im goldenen Licht des Sonnenuntergangs,
Der heimische Boden unter seinen Füßen
Breitet sich in unerschrockener Nacktheit aus.
Die Weizenkörner in der überfüllten Schürze
Wie unzählige Sterne. Durstig wartet der offene Boden
Auf die große Hand, die über den Schollen sich öffnet
Wie die leuchtenden Strahlen der aufgehenden Sonne.
Säe, Sämann, für den gedeckten Tisch in deinem Hause!
Möge die Bewegung deines Armes ewig sein!
Morgen prasseln die Körner, die du aussäst
Als Segen auf deine Enkel nieder.
Säe, Sämann, für die Hungrigen!
Möge deine Hand nie halb voll sich öffnen!
Denn ein Armer opferte sein letztes Öl
Im Tempel für die Ernte von morgen.
Säe, Sämann, für des Herren heilige Hostie!
Mögen deine Finger Körner des Lichtes streuen!
Denn morgen reifen in den milchigen Ähren
Die Zellen des Leibes Christi heran.
Säe, säe weit über die Grenzen hinaus!
Säe wie die Sterne und die Wellen des Meeres!
Für jedes Korn, das die Sperlinge wegpicken,
Streut Gott seine Juwelen dazu.
Fülle die Furchen, flute die fruchtbaren Äcker!
Mögen aus dem Schoß der Erde funkeln die Lichter!
Der Tag wölbt sich hinein in den Abend
Wie deine Arme in die Weite des Sternenhimmels.
Mit diesem Gedicht heißen wir die jungen Armenier aus dem Libanon bei uns willkommen. Sie stammen aus Anjar, einer Siedlung in der Levante, die Überlebende des Musa Dagh nach dem Genozid gegründet haben.
Daniel Waruschan/Varoujan (1884-1915) gilt als bedeutender Dichter der armenischen Moderne.
In seinem poetischen Werk, geprägt vom Symbolismus des Fin de Siècle und dem frühen Expressionismus, verbindet sich die aufgeschlossene Weltläufigkeit seiner Generation mit dem sozial engagierten Patriotismus des sich emanzipierenden armenischen Volkes unter osmanischer Herrschaft.
Das Lied Aussaat ist dem Zyklus Lied des Brotes entnommen und wurde 1921 posthum veröffentlicht, Jahre nach dem gewaltsamen Tod des Dichters, der 1915 als einer der ersten dem Völkermord an den Armeniern zum Opfer fiel. Der Zyklus beschreibt die großen Bögen des Lebens: des Einzelnen im Gefüge der Generationen und der Volksgemeinschaft im Gefüge der Völker, umfangen vom pulsierenden Universum, dem Menschen zugleich widerständig und wohlgesonnen.
Waruschan verstand es wie kein anderer, die Sehnsucht, das kulturprägende Erbe und das Leiden der Armenier, eines der ältesten christlichen Völker der Welt, in Sprache zu kleiden und in ihrer modernen wie archaischen Dimension auszuleuchten.