Malerei eines Baumes vor weitem Himmel

Als radikaler Optimist

Auf dem Boden der Realität Gottes

Frucht entsteht nicht erst bei der Ernte. Sie beginnt lange vorher – mit der Vision dessen, was einmal wachsen soll. Ein Leben, das Frucht bringen soll, muss vorbereitet werden: Es braucht ein gelockertes Herz, eine gute Saat, Pflege, Geduld und die Hoffnung, dass die Mühe nicht umsonst ist. So wie der Bauer in die Zukunft investiert, so lebt auch der Mensch – ­besonders der Christ – von der Hoffnung auf Fruchtbarkeit.

Hoffnung unter Beschuss

Doch diese Hoffnung steht unter Beschuss. Der Ton in unserem gesellschaftlichen Umfeld ist oft geprägt von Protest, Pessimismus und Polarisierung. Protest ersetzt Perspektive. Pessimismus verdrängt Hoffnung. Polarisierung zerstört Zusammenhalt. Viele verharren in der Klage über den Zustand der Welt und versäumen es, an eine bessere Zukunft zu glauben – ganz gleich, wie unwahrscheinlich sie erscheinen mag.

Pessimismus-Trend

Das hinterlässt Spuren: Laut der aktuellen Trendstudie „Jugend in Deutschland 2024“ ist die junge Generation so pessimistisch wie noch nie. Zwei Drittel der Jugendlichen blicken pessimistisch in die Zukunft der Gesellschaft. Was die eigene Perspektive betrifft, sind doch noch über 40 % zuversichtlich. Immerhin. Dennoch ist die hohe mentale Verunsicherung, die sich in Stress, Erschöpfung und Hilflosigkeit äußert, erschreckend.

Man muss inzwischen radikal werden – denn die geistige Gewalt, die Pessimisten uns antun, ist unerträglich. Ständig schießen sie mit Weltuntergangsmunition, verklären die Vergangenheit zur Utopie und verweigern sich der Gestaltung der Zukunft.

Ja, der Pessimist hat es einfacher, und das aus simplen Gründen:

1. Er macht sich unsere Psyche zunutze

Der Mensch reagiert stärker auf negative Informationen als auf positive. Zweifel zu verbreiten ist leichter als Hoffnung zu säen. Nicht umsonst hängt der Erfolg vieler Medien von alarmistischen Schlagzeilen ab. Das ist offenbar unserem Bedürfnis geschuldet, mit negativen Nachrichten gefüttert zu werden, um den Adrenalinpegel hochzuhalten.

2. Er wirkt klüger und realistischer

Der Pessimist klingt oft „nüchtern“ und „realitätsnah“. Tritt das Worst-Case-Szenario ein, kann er selbstgefällig und triumphierend sagen: „Siehst du, hab ich doch gesagt.“

3. Er bietet trügerische Sicherheit

Er scheint die Ängste der Menschen und ihren Wunsch nach Sicherheit ernst zu nehmen. Mit seinen Argumenten bereitet er emotional auf das Scheitern vor, was sich für viele sicherer anfühlt als die Achterbahnfahrt der Hoffnung. Doch im Grunde dient das nur seinem Ego, denn er bindet die Menschen an die eigene, lähmende Weltsicht.

4. Er schiebt Verantwortung von sich

In der Annahme, dass sowieso alles den Bach runtergeht, bezweifelt er, dass es lohnt, jetzt noch einen Finger zu krümmen.

5. Er hat rhetorisch stets Oberwasser

Sollte er recht behalten, kann sich der Pessimist als weiser Prophet feiern lassen. Sollte das angekündigte Unheil ausbleiben, ist ihm keiner böse; im Gegenteil, alle sind froh.

Der Optimist muss viel mehr Überzeugungsarbeit leisten und um Vertrauen in die Zukunft werben. Er muss seine Hoffnung aktiv begründen, während der Pessimist nur seine Zweifel anzumelden braucht. Der Pessimist klammert sich an das Sichtbare und erklärt die Gegenwart zur einzig gültigen Realität. Der Optimist hingegen glaubt an das noch nicht Sichtbare und rechnet mit der Kraft der unsichtbaren Welt. Mit seiner hoffnungsvollen Erwartung erzeugt er eine Fallhöhe, die – wenn die Erwartung nicht erfüllt wird – die Enttäuschung umso größer macht. Viele Menschen scheuen dieses Risiko.
Ich plädiere für eine Haltung des „radikal-offensiven Optimisten“. Das Wort „radikal“ leitet sich vom lateinischen radix ab und bedeutet „Wurzel“ oder „Ursprung“– und genau in diesem Sinn soll es hier verstanden werden (in Abgrenzung zum Radikalismus). Der radikale Optimist ist als Christ zum einen fest im Glauben verwurzelt und zum anderen von einer Hoffnung getragen, die nach vorne strebt.

Ein Gott mit einem pessimistischen Menschenbild hätte seinen Sohn niemals in den Tod geschickt. Kannte er nicht das Herz der Menschen, wie es im Gleichnis von den bösen Weingärtnern beschrieben wird? Oder das Verhalten des Volkes, das seinen Sohn an einem Tag als König bejubelt – Hosianna dem Sohn Davids! Gelobt sei, der da kommt im Namen des Herrn! (Mt 21,9) – und kurz darauf „Ans Kreuz mit ihm!“ brüllt? Gott kannte das Herz der Menschen, und trotzdem tat er es. Und man staune, was geworden ist: Eine weltweite Kirche!

Was unterscheidet also einen echten von einem falschen Optimisten?

Ein echter Optimist ist kein Schönfärber, der sich die Welt schönredet, sondern ein Mensch, der gelernt hat, im Unvollkommenen auf das Kommende zu hoffen. Drei Fähigkeiten zeichnen ihn aus:

1. Er ist fähig, Dissonanzen auszuhalten

Das heißt, er kann mit Spannungen und Widersprüchen leben. Er braucht keine glattgebügelte Welt, um hoffnungsvoll zu bleiben. Auch wenn es schlecht läuft, hält er an der Möglichkeit einer guten Wendung fest. Er weiß um die tragische Trias von Leid, Schuld und Tod, wie Viktor E. Frankl sie beschreibt, aber er lässt sich davon nicht entmutigen. Er lebt mit dem „Trotzdem“: Trotzdem glauben. Trotzdem hoffen. Trotzdem weitergehen.

2. Er besitzt Ambiguitätstoleranz

Die Zukunft ist nie eindeutig. Sie ist mehrdeutig, offen, verwirrend. Ein echter Optimist hält das aus. Er braucht keine sofortigen Klarheiten. Er hat gelernt, sich im Unklaren zu bewegen, ohne gleich den Halt zu verlieren. Er kann Fragen stehen lassen, ohne vorschnell mit Antworten zu kommen. Denn Hoffnung wächst oft im Zwischenraum – dort, wo noch nicht entschieden ist, was sein wird.

3. Er rechnet mit Kontingenz

Kontingenz bedeutet: Es könnte auch ganz anders kommen. Und genau das akzeptiert der Optimist. Er weiß: Zukunft lässt sich nicht kontrollieren. Wer wirklich nach vorne lebt, braucht die innere Freiheit, dass es auch anders werden darf als geplant – ohne sich daran zu verlieren. Der Pessimist klammert sich an seine Deutung. Der Optimist bleibt offen für Gottes Möglichkeiten.

Dieser Optimist kennt das gute „Trotzdem“, denn er entscheidet sich willensbasiert – im Gegensatz zum rein gefühlsbasierten Optimisten – für den Sinn und die Zukunft. Der Pessimist hingegen bleibt an den widrigen Umständen hängen und reagiert auf jede Hoffnung trotzig. Ohne diese drei Fähigkeiten ist Optimismus naiv und der Optimist nur ein Schönredner.

Biografischer Exkurs

Unsere Haltung ist immer auch biografisch geprägt. Meine Eltern waren radikale Optimisten: Auf dem Höhepunkt der Ära der Apartheid gingen sie als Missionare nach Südafrika. Inmitten des diabolischen Apartheidsystems lebten sie den Glauben an eine Zukunft, die anders sein kann – auch wenn die Umstände eine andere Sprache sprachen. Sie glaubten an eine Zukunft, in der jede Sprache (mein Vater war ein exzellenter Linguist und Sprachwissenschaftler) und jede Ethnie ihren legitimen Platz hat. Es war wie ein Kampf gegen Windmühlen. Und doch sollten sie recht behalten. Die Apartheid wurde überwunden – auch wenn die Probleme bis heute nicht gelöst sind. Und das Land hat – unter anderem dank ihres unermüdlichen Engagements – heute elf offizielle Sprachen. Sie machten ihre Haltung und Hoffnung nicht von den Umständen abhängig, sonst wäre Resignation die Folge gewesen.

Neue Generation

Die nächste Generation hat nur die Zukunft, die wir ihr ermöglichen. Selbst bei Gruppen wie der „Letzten Generation“ scheint sich diese Erkenntnis durchzusetzen, denn sie heißt nun „Neue Generation“. Sie versuchen den Fokus vom Pessimismus auf Zukunft, Perspektive und Miteinander zu verschieben. Der Tonfall hat sich geändert, auch wenn das Narrativ einer instabilen Welt mit klaren Feindbildern bestehen bleibt.
Gerade in unsicheren Zeiten braucht es Christen, die Hoffnung leben und weitergeben. Nicht naiv, sondern verwurzelt. Nicht resigniert, sondern ausgerichtet. Wir wissen nicht, wann Christus wiederkommt – aber wir wissen, wie: mächtig und herrlich. Bis dahin sind wir berufen, zu wachsen, zu stärken und zu gestalten – bis zur Ernte und bis zum Ende.

Kaum jemand hat dies treffender formuliert als Dietrich Bonhoeffer in seinen Aufzeichnungen 1943:

„Optimismus ist in seinem Wesen keine Ansicht über die gegenwärtige Situation, sondern er ist eine Lebenskraft, eine Kraft der Hoffnung, wo andere resignierten, eine Kraft, den Kopf hochzuhalten, wenn alles fehlzuschlagen scheint, eine Kraft, Rückschläge zu ertragen, eine Kraft, die die Zukunft niemals dem Gegner lässt, sondern sie für sich in Anspruch nimmt. Es gibt gewiss auch einen dummen, feigen Optimismus, der verpönt werden muss. Aber den Optimismus als Willen zur Zukunft soll niemand verächtlich machen, auch wenn er hundertmal irrt. Er ist die Gesundheit des Lebens, die der Kranke nicht anstecken soll. Es gibt Menschen, die es für unernst, Christen, die es für unfromm halten, auf eine bessere irdische Zukunft zu hoffen und sich auf sie vorzubereiten. Sie glauben an das Chaos, die Unordnung, die Katastrophe als den Sinn des gegenwärtigen Geschehens und entziehen sich in Resignation oder frommer Weltflucht der Verantwortung für das Weiterleben, für den neuen Aufbau, für die kommenden Geschlechter. Mag sein, dass der Jüngste Tag morgen anbricht, dann wollen wir gern die Arbeit für eine bessere Zukunft aus der Hand legen, vorher aber nicht.“