Aufmerksam
Ernte.
Ernte – etwas ist gewachsen. Ein Ertrag wurde erwirtschaftet. Meine Mühe und Arbeit haben sich gelohnt. Das ist das Prinzip von Ursache und Wirkung: Ich investiere Zeit und Energie – nicht zum Spaß, sondern um etwas zu erreichen und zu ernten. Sei es auf dem Feld, im Beruf, in der Familie oder im Glauben.
Dieses Prinzip ist in vielen Bereichen unserer Kultur präsent, auch wenn wir es selten so nennen. In den sozialen Medien streben Influencer nach Einfluss. Global gesehen konkurrieren Unternehmen um den größten Umsatz. Im Beruf wollen wir gute Arbeit leisten. Zum Bereich der Familie gibt es Unmengen von Ratgebern zur erfolgreichen Erziehung. Unser ganzes Leben dreht sich um Wirkung und Ergebnis: Wir investieren etwas und möchten ein gutes Resultat erzielen. Wir alle sehnen uns nach einer guten Ernte.
Diesem Prinzip folgend wird unser Leben zunehmend von Aktivität, Bewegung und persönlichem Einsatz bestimmt. Wir arbeiten, verbessern uns und strengen uns an. Unser Handeln soll etwas Gutes bewirken.
Diese Ausrichtung ist auch tief im religiösen Bewusstsein verankert. Ich kenne kaum eine christliche Gemeinde, die nicht mit Aktionen, Gottesdiensten oder Events eine positive Wirkung erzielen möchte. Sei es, um Menschen im Glauben zu stärken oder um kirchenferne Menschen zu erreichen. Wir mühen uns ab, um Frucht zu bringen – sowohl persönlich wie auch gemeinsam.
Missernte.
Missernte – Das ist zunächst naheliegend. Wir geben etwas von uns, beten und erwarten eine Wirkung. Doch hier liegt die Gefahr der Einseitigkeit. Wie schnell stellen wir unsere eigene Person infrage, wenn die Auswirkung ausbleibt? Was, wenn nichts wächst? Wenn unser Einsatz vergeblich bleibt? Das ist schwer auszuhalten. Vielleicht haben wir sogar verlernt, mit Missernten zu leben oder damit, dass unsere Wünsche oder Sehnsüchte nicht in Erfüllung gehen. Dass unser Vorhaben nicht glückt.
Das biblische Gleichnis vom Sämann (Mt 13,1ff) gibt uns einen Hinweis, der uns zum Umdenken anregen kann. Darin wird ein Mann beschrieben, der Samen sät sowie verschiedene Böden, die entweder gut oder weniger gut zum Anpflanzen geeignet sind. Offensichtlich ist Gott dabei der Säende, der das Saatgut verteilt. Wir sind die Böden, die für seine Gabe offen oder verschlossen sein können.
Das führt schnell in ein neues Leistungsdenken. Wie werde ich ein guter Boden? Was muss ich tun, um Frucht zu bringen? Wir tappen nur wieder in eine neue Falle. Ich möchte eine andere Perspektive aufzeigen, ohne die Vorstellung, dass nur unsere eigene Leistung den Glauben bestimmt.
Wenn Gott der Geber des Saatgutes ist, dann geht es nicht in erster Linie darum, wie viel Ernte wir einfahren können oder was genau gesät wird. Entscheidend ist, aufmerksam gegenüber dem Sämann zu sein. Das ist leicht, wenn er das in unser Leben sät, was wir uns erhoffen. Doch was ist, wenn etwas anderes wächst – oder gefühlt gar nichts? Dann droht der Sämann schnell zum Objekt unserer Ablehnung, Enttäuschung oder Frustration zu werden.
Auch wenn das Gleichnis sicher eine andere Hauptaussage hat, entdecke ich darin einen Ruf zu einem neuen Umgang. Es vermittelt eine Haltung, die uns einen Weg zeigt, wie wir mit einer guten, ebenso wie mit einer schlechten Ernte umgehen können. Der Sämann wird dabei zu einer Figur, die uns zur Aufmerksamkeit einlädt, damit wir uns für das öffnen, was Gott sät – und nicht nur sehen, was wir gerne anpflanzen würden. Ein bisschen schärfer formuliert: Hinzunehmen und einzuwilligen in das, was Gott tut. Zu akzeptieren, wie er die Felder bestellt; was er sät – und was nicht.
Realität.
Das ist leichter gesagt als getan. Um mit Gott zu ernten, braucht es meiner Meinung nach aber eine offene Bereitschaft für das, was sich in unserem Leben zeigt. Wir müssen in die Realität einwilligen, die wir wahrnehmen und in die wir hineingestellt sind. Das kann ein volles Feld mit vielen Früchten sein, auf dem alles bereitsteht, um das Leben zu feiern. Doch es kann auch ganz anders aussehen. Wie ein karges Hinterland, in dem gerade nichts so richtig wachsen will. Wir erleben Momente der Schönheit und der Freude. Gleichzeitig erliegen wir immer wieder der Schwerkraft des Lebens, die uns zu Boden zieht. Wie können wir uns in diesen Momenten die Offenheit bewahren, um uns dem zu widmen, was sich in unserem Leben zeigt? Zulassen, dass Gott auch in dieser Zeit etwas wachsen lässt?
Eine Antwort liefert das kleine, unscheinbare Wort „Aufmerksamkeit“. Ich blicke der Wirklichkeit ins Auge, so wie sie ist. Ohne ihr aus dem Weg gehen zu wollen oder sie mit meiner Einbildungskraft zu überlagern. Meine eigenen Vorstellungen treten zurück, und ich lasse mich auf meine Wirklichkeit so ein, wie sie ist, mit ihrem Unglück und ihrer Schönheit.1
In den Schriften der französischen Philosophin Simone Weil nimmt die Aufmerksamkeit eine zentrale Stellung ein. Sie entfaltet anhand dieses Begriffs eine Haltung der Offenheit, des Hinnehmens und des Einwilligens in die sich zeigende Realität.
In Zeiten schlechter Ernten sind wir meist gebannt von dem, was in uns vorgeht. Je nach Persönlichkeit reagieren wir wütend und kämpfen, sind frustriert, geben auf oder versuchen uns abzulenken. Denn diese Gefühle sind in der Regel nicht angenehm.
Aufmerksamkeit.
Die Frage bleibt. Wie soll es jetzt weitergehen? Was soll ich tun?
Hier kommt der Begriff der Aufmerksamkeit ins Spiel. Weil schreibt: „Wer seine Aufmerksamkeit wirklich […] gerichtet hält und dann handelt, der wird das Gute tun.“2 Wer aufmerksam bleibt, wird wissen, was zu tun ist.
Das klingt zunächst schlicht. Beinahe zu einfach. Doch gerade darin liegt die Stärke dieses Gedankens. Aufmerksamkeit verlangt nicht sofort eine Lösung, ein Handeln, ein Gegensteuern. Es bedeutet zuerst einmal: Stillhalten. Hinsehen. Wahrnehmen. Wach sein für das, was sich zeigt. Weil beschreibt das gerne mit dem Verweis auf das Gleichnis vom Diener, der auf seinen Herrn wartet (Mk 13,33-37). Um zu merken, wann sein Herr kommt, muss er wachsam bleiben. Aufmerksam und bereit, seinen Herrn zu empfangen.3
Vielleicht ist aufmerksam zu bleiben die eigentliche Aufgabe in Zeiten der Dürre. Nicht davonlaufen, nicht wegdrücken, nicht beschönigen. Sondern aushalten. Wahrnehmen, was da ist, auch wenn es unangenehm oder sogar schmerzhaft ist. Es darf sein.
Wer aufmerksam ist, verabschiedet sich von der Illusion, dass alles immer und sofort Frucht bringen und Sinn ergeben muss. So wird Raum gelassen für die Erfahrung der Leere und des untätigen Wartens.
Denn auch das gehört zum echten Leben: das Nicht-Wachsen, das Unglück und die Fragen ohne Antwort. Der unbestellte Acker, der unfruchtbare Boden. Vielleicht begegnet uns Gott genau dort auf eine Weise, die wir im Erfolg und in der Fülle niemals erfahren könnten. Das aufmerksame Warten kann selbst zum Boden werden, auf dem Gottes Gnade Raum gewinnt.4
Laut Simone Weil zeichnet diese Aufmerksamkeit das „Wesen des Gebets“ aus.5 Sich selbst verfügbar, leer und offen halten für das, was uns begegnet. Es ist eine Art waches Dasein, das sich der Wirklichkeit, Gott und den Mitmenschen gegenüber öffnet und einlässt. Aus ihr entspringt die „Gottes- und Nächstenliebe.“6
So kann das Bild des Sämanns in einem anderen Licht erscheinen: Es geht nicht darum, dass wir die Ernte kontrollieren oder gar sicherstellen. Der Sämann (Gott) lädt uns zu einem Leben ein, das bereit ist, beides zu umfassen: die Fülle und die Leere. Die Frucht und das Ausbleiben.7 Möglicherweise ist genau diese Haltung der Aufmerksamkeit das, was wir „Glauben“ nennen: ein wachsames Warten. Wir nehmen uns selbst zurück und öffnen uns für den gegenwärtigen Augenblick. Aus dieser Offenheit heraus wird sichtbar, was zu tun ist – und das Gute kann geschehen.
Am Ende kann darin sogar ein Trost liegen: Es ist nicht an uns, die Ernte zu garantieren. Es genügt, aufmerksam zu bleiben – und offen für das, was Gott sät.
Thomas Gutknecht, Die Ethik der Aufmerksamkeit, netzwerk ethikheute (30. August 2024), URL: https://ethik-heute.org/die-ethik-der-aufmerksamkeit/ ↑
Simone Weil zitiert nach Gutknecht, Die Ethik der Aufmerksamkeit. ↑
Simone Weil, Das Unglück und die Gottesliebe, Berlin: Matthes & Seitz, 2024, 236. ↑
Die Leere, die wir bei diesem Warten empfinden, macht uns „empfänglich für die Gnade“; Byung-Chul Han, Sprechen über Gott: Ein Dialog mit Simone Weil, Berlin: Matthes & Seitz, 2025, 55. ↑
Weil, Das Unglück und die Gottesliebe, 87; Das Gebet sei nichts anderes als „die Aufmerksamkeit in ihrer reinsten Form“; Simone Weil, Schwerkraft und Gnade, 3. Aufl., Berlin: Matthes & Seitz, 2024, 56. ↑
Wolfgang W. Müller, Simone Weil: Theologische Splitter, Zürich: Theologischer Verlag, 2009, 71. ↑
„Die Barmherzigkeit Gottes ist im Unglück offenbar, wie in der Freude“; Weil, Das Unglück und die Gottesliebe, 68. ↑