Beitragsbild zum Text:

„Solange ich stehe …“

Was wir von Irakischen Christen lernen können

Murad V., der Vorsteher eines armenischen Dorfes am Rande der Ninive-Ebene im Irak unweit des Tigris, spricht gleichzeitig passioniert und nüchtern. Seine Worte berichten von der Zeit, als die Milizsoldaten des sogenannten Islamischen Staates (IS) in hör- und sichtbarer Nähe seines geliebten Dorfes lagerten. An einem Abend schließlich standen die Feinde direkt vor dem Dorf. Murad wusste, dass er nun zu ihnen gehen musste, um über das Schicksal des Dorfes zu verhandeln. Was der ehemalige Scharfschütze aus dem Iran-Irak-Krieg zu seinen Männern, die mit ihm jeden Abend Wache hielten, sagte, werde ich nie vergessen. So kann nur einer sprechen, der bereit ist, sein Leben hinzugeben.

Begegnungen wie diese sind es, die mir in Erinnerung kommen, wenn ich an die Reise nach Kurdistan im Norden des Irak zurückdenke. David Müller, Politikreferent der ojcos-stiftung für verfolgte religiöse Minderheiten im Irak, Frank Paul, der Beauftragte der OJC für Partnerprojekte, und ich waren im März dieses Jahres dorthin unterwegs. Unser Ziel war es (anknüpfend an die erste Irakreise der OJC im Januar 2017, SK 02/2017), Christen vor Ort zu begegnen und über ihre Nöte und Probleme zu sprechen. Wir wollten hören, was sie erfahren haben und sich wünschen, und erfragen, ob und wie sie sich – trotz Verfolgung aufgrund ihres nicht-muslimischen Glaubens – nach wie vor eine Zukunft in diesem ihrem Land vorstellen können. Denn die Geschichte und die Traditionen dieser orientalischen Christen in den Regionen der großen Flüsse Euphrat und Tigris reichen weit vor die Zeit zurück, als die muslimischen Araber dieses Land erreichten.

Bitte trinkt einen Tee

Den Auftakt unserer Irakreise bildete die Begegnung mit Erzdiakon Emanuel Youkhana, der das kirchlich-diakonische Werk CAPNI (Christian Aid Program Nohadra – Iraq) aufgebaut hat und bis heute leitet. CAPNI organisiert eine umfangreiche diakonische Arbeit mit vielen Projekten, zu denen auch die ojcos-stiftung u.a. mit zwei Kleinkrediten beiträgt: für die erneute Inbetriebnahme einer Sesampastefabrik und für einen Schreibwarenladen in Ba‘aschiqa in der Ninive-Ebene. Die Inhaber der Fabrik, ein Jeside und ein Christ, mussten hinnehmen, wie der sog. Islamische Staat die Fabrik besetzte, die Sesammühlen verkaufte und die übrige Produktionsanlage zerstörte. Nach der Befreiung von der IS-Herrschaft entdeckten die Inhaber, dass ihre Mühlen inzwischen von der Polizei beschlagnahmt genommen worden waren. Erst die Zahlung einer erheblichen Summe veranlasste die Polizisten dazu, die Mühlen an die rechtmäßigen Besitzer zurückzugeben. So machten wir bereits am Anfang Bekanntschaft mit einem großen Problem im Land – der weitverbreiteten Korruption.

Fand der erste Teil unserer Reise vor allem in der Ninive-Ebene (des Tigris) und in verschiedenen Dörfern um Dohuk statt, verbrachten wir den zweiten Teil in der Hauptstadt der kurdischen Autonomieregion Erbil. Hier hatten wir einige sehr eindrückliche Begegnungen in einem Flüchtlingslager, in dem sich unsere irakischen Freunde und Partner von „Hope, Peace and Joy for Iraq“ engagieren. Seit vier Jahren hausen hier vertriebene Christen aus Mossul und den Dörfern der Ninive-Ebene. In kleinen Containern müssen sie die Kälte des Winters und die Hitze des Sommers ertragen. Auch wir übernachteten in einem Container, um – eher symbolisch – an ihrem Schicksal Anteil zu nehmen. Als wir am nächsten Morgen die Steifheit des Körpers beim Spazierengehen durch das Camp abschüttelten, kamen wir mit zwei körperlich behinderten Frauen ins Gespräch. Sie erzählten vom Überfall des IS auf ihr Dorf. Sie seien aus ihren Häusern gezerrt worden, hätten nichts mitnehmen können und haben mitan­sehen müssen, wie ihre Häuser zerstört wurden. Trotz dieser schweren Erlebnisse war ihnen die Selbstverständlichkeit der Gastfreundschaft erhalten geblieben. Kaum hatten sie uns als Fremde und Ausländer wahrgenommen, kam prompt die Aufforderung: „Tafaddalu, ischrabu Schai“ (Bitte, trinkt einen Tee). Zurück im deutschen Alltag sehe ich die zwei Frauen vor mir und frage mich: Wie halte ich es mit der Gastfreundschaft? Wie ist mein Blick auf Fremde? Wie oft meide ich lieber Begegnungen, in denen die Sprache und die Kultur eine Barriere darstellen …

Im Lager nahmen wir auch an einer christlichen Messe teil. Sie fand in einem Gebäude statt, das von einer westlichen Organisation errichtet worden war. Diese hatte allerdings gefordert, dass die Camp-Bewohner sich an den Kosten beteiligen. Viel mehr als tausend US-Dollar hatten die Bauherren nicht erwartet, schließlich waren die etwa 1200 Familien Hals über Kopf geflohen, als der IS vorrückte. Umso eindrücklicher die gesammelte Summe: 36.000 US-Dollar, etwa 40 Prozent der Gesamtkosten, war diesen orientalischen Christen ein Haus wert, in dem sie Gottesdienst würden feiern können. Ob ich auch bereit wäre – in einer ähnlich verzweifelten Lage – ein echtes finanzielles Opfer für den Bau einer Kirche zu erbringen?

Eine Zukunft für die Ninive-Ebene

In den verschiedenen Camps, die wir besuchten, verneinten unsere Gesprächspartner meistens die Hoffnung, dass es für sie als Christen oder Jesiden im Irak eine Zukunft geben könne. Zu schwer waren für sie die traumatischen Erfahrungen der zurückliegenden Jahre. Dagegen hatten die politischen Vertreter, denen wir in Dohuk und Erbil begegneten, durchaus eine Vorstellung davon wie eine Zukunft vor Ort Gestalt annehmen könnte: Es brauche eine Sicherheitsgarantie von Deutschland und der Europäischen Union, damit sie nicht in der Angst leben müssten, dass es doch nur eine Frage der Zeit sei, bis erneut Radikale sie bedrohen, berauben, vertreiben und töten würden. Gelder für den Wiederaufbau von zerstörten Häusern, eine erneuerte Infrastruktur und sonstige materielle Hilfen seien wichtig. Mindestens genauso wichtig sei der Druck auf die politischen Entscheidungsträger in Bagdad und Erbil, der von ihnen die Einhaltung der Menschenrechte sowie Schutz und Gleichbehandlung aller religiösen Minderheiten im Irak verlange. Dieser Beitrag dürfe nicht vergessen oder vernachlässigt werden, so die immer wieder an uns herangetragene Botschaft. Die größte Stabilität versprachen sich mehrere christliche Politiker von der Errichtung einer christlich kontrollierten, autonomen Ninive-Ebene als Teil einer eigenen Provinz in einem föderalen Irak.

Eine solche Region unter der Kontrolle von Christen wäre womöglich auch für christliche Konvertiten muslimischer Herkunft der einzige sichere Hafen im Land. Denn sie erleben vielfach Repressalien, Drohungen und falsche Anklagen. Davon hat uns u. a. Petrus berichtet, der sich nach seiner Konversion zum Christentum diesen neuen Namen gegeben hatte. Sein Vater wurde vom IS getötet, sein Bruder ist bereits seit vier Jahren entführt und sein Verbleib noch immer unbekannt. Er selbst wurde der Führung einer terroristischen Organisation bezichtigt. In Wahrheit hatte er sich nur erlaubt, den Islam öffentlich infrage zu stellen, der es den IS-Leuten erlaube, reinen Gewissens Gräueltaten zu verüben. Durch Beziehungen konnte er zunächst die vor einem Richter in seiner sunnitischen Herkunftsregion anhängige Klage abwenden. Als er später einer weiteren Falschanklage aus einer schiitisch geführten Region ausgesetzt war, ist er ins Ausland geflohen. In dieser Zeit und auch als er in den Irak zurückgekehrte, bekam er über das Internet (Radio) Kontakt zu Christen – erst aus dem Westen, dann aus dem Irak. Sie erzählten ihm von Jesus, bezeugten ihm seine Liebe, Gnade und Vergebung und erzählten ihm von der Hoffnung auf ein ewiges Leben in Frieden. Nach und nach wuchs in Petrus der Entschluss, sich dem schiitischen Richter zu stellen, denn in ihm war die Überzeugung gereift: „Mein eigentlicher Richter ist der König der Könige.“ Entgegen dem Rat seiner neuen christlichen Freunde und dem seiner Familie stellte er sich den Behörden. Für die Zeit, die er voraussichtlich im Gefängnis verbringen würde, bis er dem Richter vorgeführt werden konnte, nahm er weder – wie sonst üblich und nötig – Geld noch zusätzliche Klamotten oder eine Matratze mit. Ein Bekannter, dem er im Gefängnis begegnete, hielt ihn für ziemlich verrückt. Als er nach nur einer Nacht in der Zelle vor dem Richter stand, wurde er, nachdem er seinen muslimischen Namen gesagt hatte, völlig überraschend entlassen, und die Anklage wurde fallengelassen. Heute lebt Petrus – wie viele andere Konvertiten auch – unauffällig und zurückgezogen, um nicht das Leben seiner muslimischen Familienangehörigen und sein eigenes zu gefährden.

Die verfolgte Kirche in den Armen Christi

Als ein Zeichen der Verbundenheit und der Ermutigung hatte mir meine Frau Rahel, die selbst im Nahen Osten aufgewachsen ist, einige Bilder von der Ikone eines ägyptischen Künstlers als Gastgeber-Geschenk mitgegeben. Darauf ist Christus zu sehen, der in seinen Armen eine Kirche hält. Hinter ihm lodern die Flammen, doch die Kirche bleibt – von ihm geschützt – unversehrt. Viele irakische Christen haben immenses Leid in den vergangenen Jahren erfahren. Von denen, die das Wüten des IS überlebt haben, gibt es wohl kaum jemanden, der nicht Gewalt und Zerstörung, Angst und Verlust erlebt hat. Trotz dieses Martyriums hält die große Mehrheit an ihrem Glauben fest. Wenn es etwas gibt, das ich von meiner Begegnung mit irakischen Christen mitnehme, ist es, dass sie mir zum Vorbild geworden sind in ihrem Festhalten an dem Bekenntnis ihres Glaubens, zu dem sie berufen worden sind.

In den Gesprächen unserer kleinen Reisegruppe streiften wir hier und da die paradoxe Aufgabe, die uns als Christen hier aufgetragen ist: Einerseits setzen wir uns dafür ein, dass Benachteiligung, Diskriminierung, Verfolgung und Ermordung von Christen und anderen religiösen Minderheiten ein Ende gesetzt wird, andererseits wissen wir, dass es der Christen Los ist, von der Welt gehasst zu werden: Haben sie mich verfolgt, so werden sie auch euch verfolgen (Joh 15,20). Ob Murad an diese Worte Jesu gedacht hat, bevor er sich als Verantwortlicher zu den IS-Extremisten aufmachte? Ich weiß es nicht. Seinen Männern gab er diesen Befehl: „Solange ich stehe, löst niemand auch nur einen Schuss. Sollte ich fallen, dann seid ihr dran!“ Murad hatte keine Angst vor dem Tod, denn er wusste, zu wem er gehört. Darum war er zur äußersten Hingabe bereit. Es gibt viel, was wir von den irakischen Christen lernen können.

Unser humanitäres und politisches Engagement im Irak:

Wir unterstützen befreundete irakische Nichtregierungsorganisationen, die schnelle (Überlebens-)Hilfe vor Ort leisten und sich nachhaltig um (traumatisierte) Menschen in Flüchtlingscamps kümmern. Wir fördern die erneute Inbetriebnahme einer Fabrik zur Produktion von Sesampaste (Tahini) und die Gründung von Kleinunternehmen, wie einen Schreibwarenladen in Ba‘aschiqa in der Ninive-Ebene und eine Bienenzucht und Imkerei in Dohuk, damit sich Menschen eine Existenz aufbauen und wieder für sich selbst sorgen können. Außerdem unterstützen wir einen christlichen Radiosender in Erbil, seine 24/7-Programme in örtlichen Sprachen und die Vergrößerung seiner Reichweite. Auf der politischen Ebene unterstützen wir durch die ojcos-stiftung seit Anfang 2018 David Müller als Politikreferent für verfolgte Christen und religiöse Minderheiten im Irak. In Deutschland und Europa macht er bei Politikern, Hilfswerken und Kirchen auf die Menschenrechtslage im Irak aufmerksam und setzt sich für Religionsfreiheit und für dauerhafte Sicherheit zur Neu-Ansiedlung der Minderheitsgruppen in ihrer alten Heimat ein.

Cookie-Einstellungen

Bitte wählen Sie aus, welchen Cookie-Kategorien Sie zustimmen möchten.