Immerhin hatten wir ein Ziel - Flucht im Rollstuhl aus der Ukraine

Immerhin hatten wir ein Ziel

Flucht im Rollstuhl aus der Ukraine

Am 18. März 2022 zogen Yevhenii Varenyk, den wir John nennen dürfen, Olena, seine Schwester und Svitlana, beider Mutter bei uns ein. „Unsere“ ersten Ukrainer. John erinnert sich:

Am Morgen des Kriegsbeginns wachte ich mit großer Angst auf. Aber das verschwand, als wir anfingen, Pläne zu machen. Wir wussten, dass wir so schnell wie möglich fliehen mussten, weil ich im Rollstuhl sitze und nicht einfach vor den Bomben davonlaufen oder mich verstecken kann. Wir wollten zum Bahnhof, fanden aber niemanden, der uns fahren konnte. Auch unsere Freunde hatten Angst und hielten sich versteckt. Es dauerte lange, ein Taxi zu finden. Wir sind dann mit vielen verschiedenen Zügen gefahren, egal wohin, solange es nach Westen ging. Die ukrainischen Züge waren alt, eiskalt und fuhren maximal 60 km/h. Sie hielten oft an, um immer mehr Menschen aufzunehmen. Wir saßen mehr als 10 Stunden auf harten Holzbänken. Mein ganzer Körper tat weh.

Der Weg von zu Hause bis zur Grenze der Ukraine war lang und schwierig. Als wir endlich in Polen waren, wurde eine große Last von uns genommen. Ich habe einen Freund in Polen, wir konnten dort übernachten. Auf dem Weg von Polen nach Deutschland hielt unser Zug plötzlich an und wir sahen, dass alle Leute aus dem Zug ausstiegen und in die gleiche Richtung rannten. Aber wir konnten nicht aussteigen, weil Olena und meine Mutter mich nicht alleine aus dem Zug heben konnten. Wir saßen da voller Anspannung, bis wir einen Mann sahen, ich bat ihn um Hilfe. Er half uns, mich aus dem Zug zu heben.

Wir sind mit Taizé in Kontakt gekommen, als wir noch in der Ukraine waren. Wir hatten noch nie zuvor von einer christlichen Lebensgemeinschaft gehört. Per WhatsApp wurde uns gesagt, dass es Leute in Deutschland gibt, die uns aufnehmen würden. Wir hatten Angst, dorthin zu gehen, weil wir niemanden kannten und kein Wort verstehen würden, aber wenigstens hatten wir jetzt ein Ziel.

Heiße Suppe und süße Brötchen

Ich erinnere mich an den Bahnhof in Frankfurt. So viele Leute und dazwischen Marsha und Ralf, um uns abzuholen. Sie brachten uns nach Reichelsheim, wo Klaus und Heidi, Claudia und Rebekka auf uns warteten. Aber wir wollten nur schlafen. Als wir aufwachten, stand ein großer Topf heiße Suppe auf dem Herd und Heidi brachte am nächsten Morgen süße Brötchen. All das fühlte sich so gut an! Mir ist auch gleich aufgefallen, wie schön es hier ist, die Landschaft, die Häuser und Dörfer, die freundlichen Menschen.

In Reichelsheim wohnten wir im Gästehaus „Tannenhof“. Kurze Zeit später waren wir neun Erwachsene, vier Kinder, zwei Hunde. Für euch vielleicht „die Ukrainer“, aber in Wirklichkeit sehr unterschiedliche Menschen auf engem Raum. Das Zusammenleben war nicht immer einfach. Es war auch schwierig, mich mehrmals täglich im Rollstuhl die engen Treppen hoch und runter zu tragen.

Wir rechneten damit, in zwei oder drei Monaten nach Hause gehen zu können. Wir sind jetzt seit einem halben Jahr hier. Seit einigen Wochen können wir hier im Ort eine behindertengerechte Wohnung nutzen. Wir besuchen einen Sprachkurs und meine Schwester Olena sucht einen Job. Die Fürsorge, mit der uns die Menschen hier umgeben, ist immer noch unglaublich! Vom ersten Tag an brachten sie uns Kleidung, Essen, Spielzeug für die Kinder, Utensilien für die Hunde… Das werden wir nie vergessen! Ja, ich habe mich an vieles gewöhnt, aber zu Hause kann ich mich nur in der Ukraine fühlen.

Wir vermissen das Leben vor dem Krieg. Wie wir erst jetzt wirklich verstehen, war es ein wunderbares Leben! Am meisten vermisse ich die Live-Kommunikation mit Verwandten und Freunden. Mit den Menschen hier ist das gegenseitige Verständnis aufgrund der Sprachbarriere sehr schwierig.

Jeden Tag warten wir auf gute Nachrichten über die Befreiung unseres Landes. Aber das braucht Zeit. Das Einzige, was uns hilft, ist die Hoffnung, dass wir bald Frieden haben. Wir wollen unbedingt nach Hause in die Ukraine, aber es ist sehr gut zu wissen, dass wir jetzt Freunde in Deutschland haben.

Rebekka Havemann und Marsha Nölling im Gespräch mit Yevhenii Varenyk.

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