Euer Willkommen wird euch noch vergehen
Von meiner Ankunft bei der OJC vor einem Jahr ist mir besonders jenes Schild im Gedächtnis geblieben, welches mich, an meiner Zimmertür hängend, begrüßte. Unsere WG-Begleiter hatten uns gerade zu unserem neuen Zuhause geleitet und die Schlüssel überreicht. Zuvor hatten sich Mannschaftler und OJCler an einem sonnigen Nachmittag im Innenhof des REZ bei Kaffee, Kuchen und freundlichen Gesprächen beschnuppert. Und jetzt dieses Schild, das dem Ganzen wirklich die Krone aufsetzte! Willkommen – wenn ihr wüsstet, wer ich bin! Euer Willkommen wird euch noch vergehen! Für mich als sensiblen Menschen, der in den letzten Jahren fleißig an den eigenen Abwehrmechanismen gebastelt hatte, gab es nur eine Reaktion – Fluchtreflex!
Wäre es lediglich Gottes Absicht gewesen, mich in diesem Jahr etwas frommer zu machen – bitteschön, sehr gerne! Hätte ich allerdings gewusst, dass ich mich an einen Ort der Heilung begebe, an dem Leichen aus dem Keller geholt, Konflikte ehrlich angeschaut und Wunden verarztet werden – vielleicht hätte ich gekniffen. Eigentlich wollte ich ja das Leben in Gemeinschaft ausprobieren und mich stärker für andere öffnen. Aber – für diese Leute – jetzt – hier? Nee, lass mal stecken!
Vorurteile hinterfragen
Ich lief nicht fort, verkroch mich allerdings in mir und suchte in den ersten Wochen primär nach Kritikpunkten, um mein Misstrauen zu rechtfertigen. Tatsächlich muss man sich im OJC-Alltag verdammt viel Wertschätzung gefallen lassen. Knapp vier Wochen nach unserer Ankunft wurde ich, anlässlich meines Geburtstages, beim Frühstück im Kreis der Hausgemeinschaft besonders geehrt. „Wir danken dir für Christian mit seiner feinsinnigen Art. Lass uns in diesem Jahr Freunde werden“, betete ein Mitbewohner. „Wir interessieren uns für dich“, versicherte mir eine Mit-FSJlerin bei einem Gespräch. Konnte es sein, dass ich wirklich willkommen war? Musste ich meine Vorurteile hinterfragen?
Mein Mentor riet mir, Zweifel nicht nur innerlich zu reflektieren, sondern aktiv mit anderen ins Gespräch zu bringen. Bei der Zwischenauswertung mit unseren WG-Begleitern, drei Monate nach unserer Ankunft, sprach ich über die Angst, für die Gemeinschaft eine Last zu sein. Die beiden versicherten mir glaubhaft, dass ich gerade durch meine eigene Art, auch durch meine Kämpfe, das Zusammenleben bereichere. Erleichtert stürzte ich aus dem Haus und rannte über die Wiesen hinter dem REZ, während mir ein riesiger Stein vom Herzen fiel.
Wie viele wichtige Gespräche wäre auch dieses nicht zustande gekommen ohne den guten Rat meines Mentors. Mit ihm gemeinsam konnte ich Stück für Stück verschiedene Baustellen meines Lebens und meiner Geschichte anschauen. Er stellte meine Perspektive auf die Menschen und ihre Beweggründe infrage und ermutigte mich, speziell in unklaren Situationen das Gespräch zu suchen. Auf einem Seminartag zum Thema „Konflikte“ realisierte ich, dass ich kein Opfer der Umstände bin, da ich aktiv Situationen beeinflussen und Bedürfnisse artikulieren kann. Wie ich auf äußere Gegebenheiten reagiere, liegt in meiner Verantwortung.
Muster loslassen
Ich hätte mir diesen Rat nicht selbst geben können, so gefangen war ich in meinen Mustern. Was für ein Segen sind andere Menschen, die wir in unser Leben hineinsprechen lassen! Ich begriff, dass geistliche Begleitung kein Luxusgut oder Vorrecht der Kranken, sondern ein elementares menschliches Bedürfnis ist. Gerade ein älterer, väterlicher Ratgeber, der aufgrund seiner Erfahrung Situationen aus einer weiteren Perspektive betrachtet, hat so viel zu geben. In gleichem Maße lernte ich von meinen jüngeren Mit-FSJlern und ließ mich erneut von dem Idealismus und der Lebensfreude anstecken, die ich mir doch zu bewahren geschworen hatte.
Allmählich trägt das Gelernte Frucht in meinem Leben. Ich schaffe es, mehr von meinem Inneren zu zeigen. Meine WG habe ich eigens gebeten, authentische Mitteilung einzufordern. Dafür ist auch der wöchentliche Austausch eine gute Übung: Man gibt in Kleingruppen Anteil an dem, was einen die Woche über bewegt hat. Das Gesagte wird nicht kommentiert. Eine enorme Vertrauensübung! Des Weiteren konnte ich einige offene Konflikte in meinem Heimatumfeld angehen. In unserer WG oder in der Mannschaft, wo stark unterschiedliche Bedürfnisse und Weltansichten zusammentreffen, gibt es ebenfalls manche Konflikte auszuhalten. Darin scheitere ich immer wieder, entziehe mich der Gruppe und verschließe mich. Es gibt noch so viel zu lernen.
Wachstumsschritte gehen
In diesen schmerzhaften Wachstumsphasen lerne ich, Menschen zu lieben. Nur so kann sich mein Herz für Gott öffnen, denn die weisen OJC-Gefährten wissen, es gibt „keine Gotteserkenntnis ohne Selbsterkenntnis“. Was zwischen mir und meinem Nächsten steht, wirkt sich auf meine Beziehung zu Gott aus, und verdunkelt meine Liebe zu ihm. Seine Liebe zu mir erfahre ich wiederum in den konkreten Fortschritten, die geschehen. Er, mein Versorger, hat mir dieses heilsame Umfeld zur Seite gestellt, in dem ich mich weiter entwickeln darf.
Tatsächlich hatte ich gehofft, in diesem Jahr einige Wachstumsschritte „zu Ende zu bringen“. Stattdessen hat ein neuer Weg begonnen, der noch lange nicht fertig ist. In wenigen Wochen werde ich in eine fremde Stadt ziehen und dort eine Arbeit beginnen. Ich sorge mich: Werden dort Menschen sein, die mich annehmen, begleiten und herausfordern? Was tue ich ohne die guten Ratschläge von WG-Begleitern und Mentoren, an die ich mich so sehr gewöhnt habe? Wie organisiere ich mich ohne Christas Wochenpläne? Aber ich weiß auch: Wenn alle Stricke reißen, gibt es Orte, an denen man mich kennt, auffängt und stärkt. Ein solcher Heimat- und Zufluchtsort ist mir die OJC geworden.