Ein Mann steht vor einer Glaswand. Das Bild ist Schwarz-weiß, nur sein Bildausschnitt ist bunt.

Das Leben stellt die Fragen

Innere Freiheit – kostbarstes Gut des Menschen

Nach dem Versuch einer psychologischen Darstellung der typischen Charakterzüge, die ein länger dauernder Aufenthalt im Konzentrationslager dem Menschen aufprägt, müsste man nun den Eindruck gewinnen, dass die menschliche Seele letzten Endes von der Umwelt her zwangsmäßig und eindeutig bestimmt wird. […] Man wird daher mit Recht Einwendungen erheben können und fragen: Wo bleibt dann die menschliche Freiheit? Gibt es denn da keine geistige Freiheit des Sichverhaltens, der Einstellung zu den gegebenen Umweltbedingungen? […] Ist der Mensch also wirklich nicht mehr als das zufällige Resultat seiner leiblichen Konstitution, seiner charakterologischen Disposition und seiner gesellschaftlichen Situation? […]

Nun, diese Frage können wir sowohl erfahrungsmäßig als auch grundsätzlich beantworten. Erfahrungsgemäß insofern, als das Lagerleben selber uns gezeigt hat, dass der Mensch sehr wohl „auch anders kann“. Es gäbe Beispiele genug, oft heroische, welche bewiesen haben, dass man etwa die Apathie eben überwinden und die Gereiztheit eben unterdrücken kann; dass also ein Rest von geistiger Freiheit, von freier Einstellung des Ich zur Umwelt auch noch in dieser scheinbar absoluten Zwangslage, der äußeren wie inneren, fortbesteht. Wer von denen, die das Konzentrationslager erlebt haben, wüsste nicht von jenen Menschengestalten zu erzählen, die da über die Appellplätze oder durch die Baracken des Lagers gewandelt sind, hier ein gutes Wort, dort den letzten Bissen Brot spendend? Und mögen es auch nur wenige gewesen sein – sie haben Beweiskraft dafür, dass man dem Menschen im Konzentrationslager alles nehmen kann, nur nicht: die letzte menschliche Freiheit, sich zu den gegebenen Verhältnissen so oder so einzustellen. Und es gab ein „So oder so“! Und jeder Tag und jede Stunde im Lager gab tausendfältige Gelegenheit, diese innere Entscheidung zu vollziehen, die eine Entscheidung des Menschen für oder gegen den Verfall an jene Mächte der Umwelt darstellt, die dem Menschen sein Eigentliches zu rauben drohen – seine innere Freiheit – und ihn dazu verführen, unter Verzicht auf Freiheit und Würde zum bloßen Spielball und Objekt der äußeren Bedingungen zu werden und sich von ihnen zum „typischen“ Lagerhäftling umprägen zu lassen.
[…]

Das Schicksal – ein Geschenk

In der Art, wie ein Mensch sein unabwendbares Schicksal auf sich nimmt und mit diesem Schicksal all das Leiden, das es ihm auferlegt, darin eröffnet sich auch noch in den schwierigsten Situationen und noch bis zur letzten Minute des Lebens eine Fülle von Möglichkeiten, das Leben sinnvoll zu gestalten. Je nachdem, ob einer mutig und tapfer bleibt, würdig und selbstlos, oder aber im bis aufs äußerste zugespitzten Kampf um die Selbsterhaltung sein Menschentum vergisst und vollends jenes Herdentier wird, an das uns die Psychologie des Lagerhäftlings erinnert hat –, je nachdem hat der Mensch die Wertmöglichkeiten, die ihm seine leidvolle Situation und sein schweres Schicksal geboten haben, verwirklicht oder verwirkt. […]

Man denke nur nicht, dass derartige Überlegungen lebensfern oder weltfremd sind. Gewiss, solcher Höhe sind nur wenige und seltene Menschen fähig und gewachsen. […] Aber wenn es auch nur ein
einziger gewesen wäre – er genügte als Zeuge dafür, dass der Mensch innerlich stärker sein kann als sein äußerliches Schicksal, und nicht nur im Konzentrationslager. Der Mensch wird allenthalben mit dem Schicksal konfrontiert und so vor die Entscheidung gestellt, aus seinem bloßen Leidenszustand eine innere Leistung zu gestalten. Man denke nur an das Schicksal kranker Menschen, besonders der unheilbaren. […]

Das Leben ruft!

Im Konzentrationslager war ich Zeuge vom Sterben einer jungen Frau. Die Geschichte ist schlicht – es gibt da nicht viel zu erzählen – und trotzdem wird sie wie erfunden klingen, so dichterisch erscheint sie mir: Diese junge Frau wusste, dass sie in den nächsten Tagen werde sterben müssen. Als ich mit ihr sprach, war sie trotzdem heiter. „Ich bin meinem Schicksal dankbar dafür, dass es mich so hart getroffen hat“, sagte sie zu mir wörtlich; „denn in meinem früheren, bürgerlichen Leben war ich zu verwöhnt, und mit meinen geistigen Ambitionen war es mir wohl nicht ganz ernst“. In ihren letzten Tagen war sie ganz verinnerlicht. „Dieser Baum da ist der einzige Freund in meinen Einsamkeiten“, meinte sie und wies durchs Fenster der Baracke. Draußen stand ein Kastanienbaum gerade in Blüte, und wenn man sich zur Pritsche der Kranken hinabneigte, konnte man, durch das kleine Fenster der Revierbaracke, eben noch einen grünenden Zweig mit zwei Blütenkerzen wahrnehmen. „Mit diesem Baum spreche ich öfters“, sagte sie dann. Da werde ich stutzig und weiß nicht, wie ich ihre Worte zu deuten habe. Sollte sie delirant sein und zeitweise halluzinieren? Darum frage ich neugierig, ob der Baum ihr vielleicht auch antworte – ja? – und was er ihr da sage. Darauf gibt sie mir zur Antwort: „Er hat mir gesagt: Ich bin da – ich – bin – da – ich bin das Leben, das ewige Leben…“ […]

Ende oder Ziel?

Die psychologische Beobachtung an den Lagerhäftlingen hat vor allem ergeben, dass nur derjenige in seiner Charakterentwicklung den Einflüssen der Lagerwelt verfällt, der sich zuvor geistig und menschlich eben fallen gelassen hat; fallen ließ sich aber nur derjenige, der keinen inneren Halt mehr besaß! Worin hätte nun solch ein innerer Halt bestehen sollen und können? […]

Das lateinische Wort „finis“ hat bekanntlich zwei Bedeutungen: Ende – und Ziel. Ein Mensch nun, der nicht das Ende einer (provisorischen) Daseinsform abzusehen imstande ist, vermag auch nicht, auf ein Ziel hin zu leben. Er kann nicht mehr, wie der Mensch im normalen Dasein, auf die Zukunft hin existieren. Dadurch aber verändert sich die gesamte Struktur seines Innenlebens. Es kommt zu inneren Verfallserscheinungen, wie wir sie von andern Lebensgebieten her bereits kennen. In einer ähnlichen psychologischen Situation befindet sich nämlich z. B. der Arbeitslose; auch seine Existenz ist eine provisorische geworden und auch er kann in gewissem Sinne nicht auf die Zukunft hin, auf ein Ziel in dieser Zukunft hin leben. […]

Die innere Lebensform im Konzentrationslager wird so für einen Menschen, der sich menschlich fallen lässt, weil er keinen Halt mehr an einem Zielpunkt findet, zu einer retrospektiven Daseinsweise. Von ihr, von der Tendenz zur Rückwendung auf die Vergangenheit, haben wir in anderem Zusammenhang bereits gesprochen. Sie dient der Entwertung der Gegenwart, samt deren Schrecken. Die Entwertung der Gegenwart, der umgebenden Wirklichkeit, birgt aber eine gewisse Gefahr in sich. Werden doch die Ansatzmöglichkeiten einer Wirklichkeitsgestaltung – die es ja auch noch im Lagerleben irgendwie gibt […] – dann leicht übersehen. […]

Solche Menschen nehmen das gegenwärtige Dasein nicht ernst, sie entwerten es zu etwas Uneigentlichem, vor dem man sich am besten verschließt, indem man sich nur mehr mit dem vergangenem Leben abgibt. Das Leben solcher Menschen versandet dann, statt – wozu grundsätzlich die Möglichkeit gegeben wäre – gerade unter diesen denkbar größten Schwierigkeiten der Haftzeit zu einem Höhepunkt sich aufzuschwingen. Natürlich sind nur wenige Menschen hierzu fähig; ihnen aber ist es gelungen, noch im äußeren Scheitern und auch noch im Sterben zu einer menschlichen Größe zu gelangen, die ihnen früher, in ihrer Alltagsexistenz, vielleicht niemals beschieden gewesen wäre; für die andern jedoch, für uns Mittelmäßige und für uns Laue, galt das Mahnwort von Bismarck, der einmal sagte: „Im Leben geht es einem so wie beim Zahnarzt: immer glaubt man, das Eigentliche kommt erst, und inzwischen ist es schon vorbei.“ Variierend könnte man sagen: die meisten Menschen im Konzentrationslager glaubten, die wahren Möglichkeiten der Verwirklichung seien nun dahin – und in Wirklichkeit bestanden sie eben darin, was einer aus diesem Leben im Lager machte: ein Vegetieren, so wie Tausende von Häftlingen, oder aber, so wie die Seltenen und Wenigen, ein inneres Siegen. […]

Nach dem Sinn des Lebens fragen

Die Devise, unter der alle psychohygienischen Bemühungen den Häftlingen gegenüber stehen mussten, ist vielleicht am treffendsten ausgedrückt in den Worten von Nietzsche: „Wer ein Warum zu leben hat, erträgt fast jedes Wie.“ Man muss also den Lagerinsassen, sofern sich hie und da einmal die Gelegenheit hierzu bot, das „Warum“ ihres Lebens, ihr Lebensziel, bewusst machen, um so zu erreichen, dass sie auch dem furchtbaren „Wie“ des gegenwärtigen Daseins, den Schrecken des Lagerlebens, innerlich gewachsen waren und standhalten konnten. Umgekehrt: wehe dem, der kein Lebensziel mehr vor sich sah, der keinen Lebensinhalt mehr hatte, in seinem Leben keinen Zweck erblickte, dem der Sinn seines Daseins entschwand – und damit jedweder Sinn eines Durchhaltens. Solche Leute, die auf diese Weise völlig haltlos geworden waren, ließen sich alsbald fallen. Die typische Redewendung, mit der sie allen aufmunternden Argumenten entgegentragen und jeglichen Zuspruch ablehnten, lautete dann immer: „Ich hab ja vom Leben nichts mehr zu erwarten“. Was soll man demgegenüber nun erwidern?

Was hier not tut, ist eine Wendung in der ganzen Fragestellung nach dem Sinn des Lebens: Wir müssen lernen und die verzweifelnden Menschen lehren, dass es eigentlich nie und nimmer darauf ankommt, was wir vom Leben noch zu erwarten haben, vielmehr lediglich darauf, was das Leben von uns erwartet. Zünftig philosophisch gesprochen könnte man sagen, dass es hier also um eine Art kopernikanische Wende geht, so zwar, dass wir nicht mehr einfach nach dem Sinn des Lebens fragen, sondern dass wir uns selbst als die Befragten erleben, als diejenigen, an die das Leben täglich und stündlich Fragen stellt – Fragen, die wir zu beantworten haben, indem wir nicht durch ein Grübeln oder Reden, sondern nur durch ein Handeln, ein richtiges Verhalten, die rechte Antwort geben. Leben heißt letztlich eben nichts anderes als: Verantwortung tragen für die rechte Beantwortung der Lebensfragen, für die Erfüllung der Aufgaben, die jedem einzelnen das Leben stellt, für die Erfüllung der Forderung der Stunde.
Diese Forderung, und mit ihr der Sinn des Daseins, wechselt von Mensch zu Mensch und von Augenblick zu Augenblick. Nie kann also der Sinn menschlichen Lebens allgemein angegeben werden, nie lässt sich die Frage nach diesem Sinn allgemein beantworten – das Leben, wie es hier gemeint ist, ist nichts Vages, sondern jeweils etwas Konkretes, und so sind auch die Forderungen des Lebens an uns jeweils ganz konkrete. Diese Konkretheit bringt das Schicksal des Menschen mit sich, das für jeden ein einmaliges und einzigartiges ist. Kein Mensch und kein Schicksal lässt sich mit einem andern vergleichen, keine Situation wiederholt sich. … Immer aber ist jede Situation ausgezeichnet durch jene Einmaligkeit und Einzigartigkeit, die jeweils nur eine, eine einzige, eben die richtige „Antwort“ auf die Frage zulässt, die in der konkreten Situation enthalten ist. Sofern nun das konkrete Schicksal dem Menschen ein Leid auferlegt, wird er auch in diesem Leid eine Aufgabe, und ebenfalls eine ganz einmalige Aufgabe, sehen müssen. Darin aber, wie er selbst, der von diesem Schicksal Betroffene, dieses Leid trägt, darin liegt auch die einmalige Möglichkeit zu einer einzigartigen Leistung. […]

Was also ist der Mensch? Er ist das Wesen, das immer entscheidet, was es ist. Er ist das Wesen, das die Gaskammern erfunden hat; aber zugleich ist er auch das Wesen, das in die Gaskammern gegangen ist, aufrecht und mit einem Gebet auf den Lippen.

Aus: … trotzdem Ja zum Leben sagen. Ein Psychologe erlebt das Konzentrationslager, Kösel-Verlag im Randomhouse, München, S. 106-139 in Auszügen

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