Eins alte Frau zeigt einer jüngeren etwas auf einem Foto.

Begegnungen mit denen, die am Leben blieben

Jüdische Gäste in Reichelsheim im Juni 2017 – Esthers Geschichte

Die Gemeinde Reichelsheim hatte 1995 mit der Unterstützung der OJC die Nachfahren ehemaliger Reichelsheimer Juden eingeladen. Die bewegenden Tage der Begegnung und Versöhnung haben sich allen, die dabei sein konnten, tief eingeprägt. Gemeinsam wollten wir anlässlich des 200. Jahrestages der Einweihung der Synagoge 1817 an dem Gebäude, das auf den Grundmauern der 1938 zerstörten Vorgängers errichtet worden war, eine Gedenktafel anbringen und dazu erneut Nachfahren von Reichelsheimer Juden einladen. Elf Gäste aus Israel und den USA kamen. Diese Begegnung hatte eine andere Atmosphäre als die erste vor 22 Jahren: intensiver, herzlicher, offener und verändernder. Sie war weniger belastet vom Schmerz über die Vergangenheit und mehr vom Blick in die Zukunft belebt. Mit jedem Tag wuchs das Vertrauen unter uns. Die Innigkeit strahlte auch in den Ort, in die Schule und die Region hinein. Eine gute Erfahrung war die bereitwillige Kooperation aller Beteiligten vor Ort, den heutigen Besitzer des Gebäudes, in dem die Synagoge einst war, eingeschlossen. Alle haben das Anliegen mitgetragen. Dankbar bekennen wir, dass Gott uns auf überwältigende Weise viele Türen und Herzen geöffnet hat. Die Saat der Anstrengung von Altbürgermeister Gerd Lode und der großzügigen Spenden unserer Freunde ist noch einmal aufgegangen. Wir möchten alle Spender von damals und unsere Leser anhand einiger ausgewählter Bilder an den Höhepunkten dieser außergewöhnlichen Tage teilhaben lassen.

Esthers Geschichte

Ich bin die Tochter von Max Meyer aus der Darmstädter Straße 50 in Reichelsheim. Mein Vater hat nicht über damals gesprochen, aber er und mein Großvater müssen Hitler und seine Regierung lautstark abgelehnt haben. Gleich nach der Machtergreifung wurde er in das Arbeitslager Osthofen gesteckt, allerdings nach sechs Wochen entlassen.

Also verließ er Deutschland und floh nach Amerika. Er wollte unbedingt Arbeit finden und Geld in die alte Heimat senden, um seine Familie zu retten. Wie viele Juden damals war er deshalb gezwungen, am Sabbat zu arbeiten. Weil er die orthodoxen Regeln nicht mehr einhalten konnte, wurde aus ihm ein sogenannter „konservativer Jude“.
Er entschied sich, nie wieder Deutsch zu sprechen, er kaufte keine deutschen Produkte und hat auch nie wieder deutschen Boden betreten, noch nicht einmal um das Grab seines Vaters zu besuchen.

Ich bin 1950 in New York geboren und wuchs in dieser wenig frommen Umgebung auf. Als junge Frau begann ich zu reisen und kam auch nach Israel. Dort setzte ich mich ernsthafter mit dem Judentum auseinander. Ich lernte eine Gruppe von jungen Juden kennen und ihr Glaube steckte mich an. Darunter war auch mein späterer Mann Yissachar, mit dem ich heute in einer Siedlung im Westjordanland in einer ultraorthodoxen Gemeinschaft lebe. Wir haben zwölf Kinder und sechsundsechzig Enkelkinder. Sie sollen leben und es möge ihnen wohlergehen.

Seit einigen Jahren treibt mich etwas um, das umzusetzen mir nicht leichtgefallen ist, denn ich befürchtete, dass es meinem Vater missfallen hätte. Als fromme Jüdin handele ich ungern gegen das, was mein Vater gewollt hätte. Dennoch bin ich zum deutschen Konsulat in Tel Aviv gegangen und habe für meine Kinder und Enkelkinder die deutsche Staatsbürgerschaft beantragt. Unsere Familienakte ist die dickste, die es dort je gab. Immer, wenn ein Vorgang abgeschlossen war, kamen die Unterlagen eines neuen Enkelkindes dazu. Irgendwann wurde die Akte einfach geschlossen und jetzt erhalten alle Granitsky-Nachfahren automatisch die deutsche Staatsbürgerschaft. Die Nazis haben 80 Mitglieder der Meyer-Familie umgebracht. Ich habe beschlossen, wieder 80 Juden zum deutschen Volk hinzuzutun. Jetzt bin ich bei 78, und wir sind noch nicht fertig!

Ich freue mich über die Gedenktafel an dem Gebäude, das einst die Synagoge der Reichelsheimer Juden war. In den Tagen unseres Aufenthalts hier ist uns so viel Liebe entgegengebracht worden und haben wir so viel Versöhnung erlebt, dass ich sicher bin, dass mein Vater mir nicht nur verziehen hätte, sondern stolz auf uns wäre.

Als er starb, war ich noch jung, und ich habe immer bedauert, dass ich von ihm nichts über seine Kindheit und meine Familie in Deutschland erfahren habe. Nie hätte ich zu hoffen gewagt, dass ich nun Menschen begegne, die meine Großeltern, meinen Vater und seinen Bruder noch gekannt haben. Hildegard Berg ist heute 86. Sie ist in der Herrnmühle, in direkter Nachbarschaft zu meinem Elternhaus aufgewachsen und kann sich daran erinnern, dass ihre Großeltern und mein Großvater Isidor Freunde waren: „Sie haben oft abends beisammen gesessen. Meine Großeltern wussten, wie sehr er von den Nazis bedrängt wurde und versteckten ihn in der Futterraufe unterm Stroh.“ Die Nazis verlangten von meinem Großvater, sich entweder selbst zu töten oder getötet zu werden. Es war furchtbar, als wenige Monate nachdem mein Vater Deutschland verlassen hatte, sein Bruder, mein Onkel Irwin, seinen Vater in der Scheune aufgehängt fand. Hildegard erinnert sich daran, dass ihre Eltern der Witwe und meinem Onkel über den Zaun Lebensmittel schickten, um ihnen zu helfen. Nur wenig später floh mein Onkel nach Schweden und gelangte dann auch nach Amerika.

Am letzten Tag vor meiner Abreise durfte ich Wiltrud Lein (geb. 1938) kennenlernen, die im Nachbarhaus in der Darmstädter Str. 48, geboren ist. Sie besitzt noch heute ein besticktes Taschentuch, das meine Großmutter Blanda ihrer Mutter zu ihrer Geburt geschenkt hatte. Ein kostbarer Fund sind für mich die Briefe, die sie schon in den 1980ern mit Onkel Irwin gewechselt hatte, der im Gegensatz zu meinem Vater an die Vergangenheit angeknüpft hatte. Mein Vater hatte jegliche Wiedergutmachung aus Deutschland zurückgewiesen, aber ich überlege, ob ich das Erbe anzutreten versuche, um es für künftige Begegnungen einzusetzen.

Von unseren jüdischen Gästen

Wir möchten euch herzlich für diese außerordentlichen Tage in Reichelsheim danken. Die OJC und alle Beteiligten haben sich so viel Mühe gegeben, damit wir die Zeit in bester Erinnerung behalten. Eure Gastfreundschaft ging weit über alles hinaus, was wir uns hätten ausmalen können. Ganz besonders dankbar sind wir dafür, dass unsere Enkelin Jenna mit unvergesslichen Eindrücken nach Hause reisen konnte. Es wäre schön, regelmäßig voneinander zu hören, denn die Verbindung, die diese Tage gestiftet haben, hält ein Leben lang.
Elaine und Fred (Zeilberger), Robin und Jenna (Burns)

Der Aufenthalt bei euch war eine unglaubliche geistliche Erfahrung und ich hoffe, dass wir weiterhin miteinander im Gespräch bleiben. G_tt segne euch, und lasst von euch hören!
Esther (Granitsky)

Ich habe jetzt wieder Zeit und Gelegenheit, von allen Seiten zu reflektieren, was sich während unseres Besuchs zugetragen hat, und ich möchte euch danken für all die Freundlichkeit und den Segen, den ihr uns gespendet habt uns, euren Gästen, jüdischen Menschen aus Israel und den USA.
Es war beileibe kein leichtes Unterfangen, aber angesichts der guten Planung und des großen Einsatzes, den ihr dem Projekt habt angedeihen lassen, war es vom Anfang bis zu Ende hocherfreulich für alle Teilnehmer. Sowohl ihr als auch eure Gäste haben einander Wertschätzung und Verständnis gezeigt für die Empfindungen über die Vergangenheit und für die Gefühle, die uns heute bewegen. Es ist nur selbstverständlich, dass die freundschaftlichen Bande, die hier geknüpft wurden, in die Zukunft reichen. Wir werden diese großartigen Tage, die wir zusammen verbringen durften, immer im Gedächtnis behalten.
Mit überaus großem Dank und Shalom
Euer Ilan (Brunner)

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