Nichts tut sich.

Einwilligen statt resignieren

Vor ziemlich genau 40 Jahren wurde ich im Gemeindepraktikum meines Theologiestudiums zu einem alten Mann geschickt. Ich traf ihn an – in einem dunklen Raum im Rollstuhl sitzend. Schon so viele Jahre war er krank und hatte Hilfe gesucht. Erst medizinisch, dann spirituell. Bei frommen Menschen. Die haben mit ihm gebetet. Es half nichts. Sie haben noch mehr gebetet. Es half immer noch nichts. Man sagte ihm, er müsse mehr glauben. Er hat sein Bestes gegeben. Aber es half einfach nichts. Nun war er verzweifelt – über seine anhaltende Krankheit und über seinen offensichtlich zu kleinen Glauben. Und letzteres – seine Not über sein (vermeintlich zu geringes) Gottvertrauen, war noch das schlimmste von allem. Und ich saß da – gerade mal 23 Jahre alt – jung und unerfahren, hilflos. Ich habe versucht, ihm Mut zu machen, überzeugt davon, dass Gott es gut mit uns meint und macht – auch angesichts dessen, dass es nicht so kommt, wie wir es uns wünschen.1 Und dass es eine Frage der Freiheit Gottes und nicht unseres Glaubens ist. Fortan ist mir immer wieder so etwas begegnet: Man will und hofft so viel – man betet und fleht Gott an – und nichts, gar nichts tut sich. Und auch dies: dass fromme Menschen – vermeintlich fromm – ihnen auch noch den Glauben absprechen.

Eine der häufigsten Fragen, die mir als Seelsorger gestellt wird, lautet: Wie kann ich mit dem Unfertigen des Lebens fertig werden? Mit dem, dass ich es mir so gerne so anders erhoffe. Mit dem, dass es nicht wird, obwohl ich so dafür gebetet habe. Mit dem, dass dieser allmächtige Gott, dem es etwas Kleines wäre, einzugreifen, einfach nicht eingreift. Wie kann ich damit leben, dass sich einfach nichts verändert? Dass alle möglichen Leute von Veränderung reden … aber bei mir tut sich nichts; dass die Bibel voller Wundergeschichten ist … aber bei mir bleibt jedes Wunder aus. Da schrieb mir neulich jemand seinen Schmerz nach einer zerbrochenen Ehe: „So sollten die Dinge nicht sein und doch sind sie so wie sie sind. Ich bin so wütend und so traurig – aber ich will nicht bitter werden.“ Das ist die Spannung des unfertigen Lebens, die wir doch alle irgendwie kennen.

Zur „conditio humana“ – zur Bedingung des Menschseins – gehört das Unfertige. Wir sind in diese gebrochene Welt geworfen. Und so vieles im Laufe eines Lebens heil werden mag, einiges bleibt doch unheil. Das ist unsere Wirklichkeit. Wir sind Unfertige, weil wir noch nicht am Ziel unseres Lebens sind. Das gilt für Kranke wie für Gesunde. Für Erfolgreiche wie für Gescheiterte. Für die, denen Wunder versagt bleiben, wie für die, die sie erleben.

Wir begegnen dem Unfertigen in vielen Bereichen unseres Lebens. Ich trage Eigenarten – andere sagen Unarten – an mir, die ich gerne anders hätte. Manches lindert sich im Alter, aber ich bleibe an diesen Stellen unfertig. Und je älter ich werde, desto mehr wird mir bewusst, dass es Dinge in meinem Leben gibt, die werden bei allem Glauben erst im Himmel wirklich gut. Und ich merke: Es gibt Hoffnungen in meinem Leben, die werden sich wohl nicht mehr erfüllen. Unser Leben – auch das Leben der biblischen Gestalten – ist voller unfertiger Geschichten.

Wie also kann ich mit dem Unfertigen meines Lebens leben? – Wenn Sie an dieser Stelle jetzt Patentrezepte erhoffen, muss ich Sie enttäuschen. Wenn Sie aber lesen möchten, was mir persönlich hilft, hätte ich noch ein paar ganz persönliche Anregungen für das Leben im Unfertigen.

Mir ist es wichtig, in der Wirklichkeit zu leben.

Dazu gehört, mir immer wieder vor Augen zu halten: Jesus hat viele Menschen geheilt – aber eben nicht alle Menschen, die ihm begegnet sind. Das Neue Testament nennt solche Wundertaten „Zeichen des anbrechenden Gottesreiches“. Und wo sie geschehen sind, fügte der Gottessohn immer wieder die Mahnung an, niemandem davon zu erzählen. Also keinen öffentlichen Triumph daraus zu machen. Und wo solche Zeichen ausgeblieben sind, höre ich Paulus: Ich habe dreimal zum Herrn gefleht (…) Und er hat zu mir gesagt: Lass dir an meiner Gnade genügen; denn meine Kraft vollendet sich in der Schwachheit (2 Kor 12,8f).

So möchte ich – so gut ich eben kann – meine Krisen auch als Chancen sehen.

In meinem Leben waren die vermeintlichen Sackgassen oft genug die schmalen holprigen Pfade zu einem neuen Ort. Neulich habe ich an unserem 37. Hochzeitstag in mein Tagebuch geschrieben: „Wir sind nicht krisenfrei, aber doch krisenbewährt.“ Ich bin überzeugt: Nicht aufgeben lohnt sich. Und wo das nicht möglich ist, lohnt sich neu anfangen. Immer wieder. Ich muss nicht alles erklären können – schon gar nicht das Schreckliche! Ich muss es auch nicht fromm verbrämen. Aber im Unerklärlichen nicht aufgeben und meinen Weg anhaltend und aushaltend gehen, das ist doch was.

Mir hilft auch, dass ich immer mal wieder versuche, die Frage zu ändern.

Natürlich gehöre ich auch zu denen, die dem lieben Gott meist konkrete Veränderungswünsche präsentieren. Im persönlichen wie im politischen Bereich. Und doch muss ich meine Wünsche immer wieder freigeben und loslassen. Weniger: Wann veränderst du, Gott, die Dinge zu meinen (oder wessen auch immer) Gunsten? Sondern eher: Was willst du, Gott, bei und in mir verändern? Was willst du mir anbieten, indem du gerade meine Lage nicht – zumindest noch nicht – veränderst? Aus meinem Jammern wird so eine Neugierde …

Gerade in komplizierten Zeiten hilft mir das tägliche Psalmen beten. Diese alten Worte sind sehr bewährte Worte. Keine wohlfeile Theologie – hier ist das pure Leben. Ohne Schönrederei. Feind ist Feind, Krankheit ist Krankheit, Leid ist Leid – aber eben auch: Gott ist Gott! Da wird nicht rumgeeiert – schon gar nicht fromm. Das tut mir gut – im Klagen wie im Loben.

Das hilft mir, über mich hinaussehen zu können.

Mein unfertiges Leben ist ja nicht das letzte Wort. Meines nicht – und Gottes schon gar nicht! Da kommt ja noch was: Siehe, ich mache alles neu (Off 21,4f). Keine Vertröstung, sondern Hoffnung und Zuversicht, die ich heute schon wählen kann und die heute schon mein Leben zutiefst beeinflusst.

Zu guter Letzt: Einwilligen in Gottes Wege.

Ja – es werden uns auch schwere Wege zugemutet. Enttäuschungen, Abbrüche, Katastrophen, Leiden aller Art. Man könnte heulen. Oder sich anstecken lassen von den Frauen und Männern, die uns vorausgegangen sind. Mir kommen da Maria und Josef in den Sinn. Die Verlobte wie aus heiterem Himmel schwanger. Dazu noch diese ziemlich sonderliche Geschichte mit einem Engel. Weihnachten klingt nett. Aber ehrlich: für die beiden war es erst mal eine ziemliche Zumutung! Das hätte auch schief gehen können. Ist es aber nicht. Deshalb, weil Maria und Josef eingewilligt haben in den eigenartigen, unverständlichen Weg Gottes. Diese Einwilligung lässt Gott seine Freiheit. Und erfordert unser Vertrauen. Darin, dass Gott in allem seinen Weg mit uns geht. Dass er in allem Unfertigen längst nicht fertig mit uns ist. Dass er das Ziel kennt und uns durch alles hindurch dorthin bringen wird!

Eckpfeiler, die mich im Unfertigen meines Lebens hoffnungsvoll durchhalten lassen.

Kürzlich las ich in einem Buch einen Satz von Amnon Weinstein: „Aber dieses Leben hat mich einiges gelehrt. Wer wir sind, hängt entscheidend davon ab, wer wir sein wollen.“2 Dieser Mann ist Jude und Geigenbauer. Und er hat es sich zur Aufgabe gemacht, die Geigen zu restaurieren, die von jüdischen Menschen in den KZs der Nazis gespielt wurden. Die Stimmen der Violinisten sind verklungen. Aber die Stimmen der Violinen erklingen heute in den großen Konzertsälen unserer Welt. Diese Geigen wurden zu den „Violins of Hope“. Wer also will ich sein? Im Letzten und Tiefsten: Ich will nicht einer sein, dem immer alles gelingt und der alles erklären kann – aber einer, der in allem seinem Gott vertraut. Dennoch bleibe ich stets an dir (Ps 73,23-28).


  1. Siehe meine eigene Erfahrung: „hoffen-Magazin 01/2024“ –
    unter: https://www.hoffen-magazin.de/aquaplaning/ 

  2. Titus Müller, Christa Roth; Geigen der Hoffnung; adeo-Verlag Asslar 20172; S. 54. 

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