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Es kommt ein Mensch zum Menschen

senfkorn. im Beton

Warum einander nicht einfach in Ruhe lassen? Warum so etwas wie „Mission“? Weiß nicht jeder Mensch selbst, was gut für ihn ist? Ja, natürlich! Daneben steht aber die Erfahrung, dass wir in vielem gefangen sind, dass Mächte Menschen versklaven. Wir sind nicht so frei, wie wir meinen. Wenn nun aber Menschen Befreiung erfahren1, wird ihnen das zur Verpflichtung, die Wege der Befreiung mit anderen zu kommunizieren. Nur Vorsicht: Mission ist keine Werbeveranstaltung der Kirche. Die Kommunikation des Evangeliums dient der Befreiung der Menschen. Die Wahrheit wird euch frei machen, sagt Jesus. Deshalb zielt unsere Mission über uns selbst hinaus. Sie bringt uns in einen umfassenden Kommunikationsprozess mit den Menschen, zu denen wir gesandt sind, und wird uns selbst verändern!

Von Anfang an ist es deshalb wichtig, dass wir Rechenschaft darüber geben, in welcher Haltung wir mit anderen über das reden, was uns lebenswichtig ist. Denn vom Wesen unseres Auftrages her ist es unmöglich, einfach nur loszugehen und loszureden, überzeugt, dass wir schon irgendwie das Richtige tun und sagen werden. Wer Grenzen überschreitet und sich in unbekannte kulturelle oder soziale Zusammenhänge begibt, hüte sich vor dem, was in postkolonialen Diskursen „Saviorism“2 genannt wird. Wir sind nicht die Retter. Es geht nicht um unsere Bewegung. Es geht um Gottes Bewegung. Wenn meine Bewegung nicht Teil der Bewegung Gottes ist, könnte es passieren, dass ich – womöglich sehr fromm – nur mein eigenes Ding mache.

Deshalb ist das Erste, dass wir da sind vor Gott und bei den Menschen, zu denen er uns sendet.

Man kann das „missionarische Präsenz“ nennen. Das ist zunächst nichts anderes, als ein Mensch zu sein unter Menschen. Dass ich bete und die Bibel lese, dass ich eine leidenschaftliche Hoffnung habe, wird dann schon auch zur Sprache kommen, aber der Anfang ist unser leibhaftiges Da-Sein.

Das Nächste ist aufmerksames, waches Wahrnehmen.

Wo bin ich hier? Wer sind die Menschen, mit denen ich diesen Ort und diese Zeit teile? Und wo ist Jesus in dem Ganzen? Sind wir in seinem Namen da, Teil seiner Bewegung hin zu den Menschen, dann hat dies Konsequenzen für unsere Haltung und Sprache. Wir werden nicht unsere eigene Kultur und Prägung zum Maß machen, sondern zuerst wahrnehmen, was den Leuten um uns herum wichtig ist, was sie hören, wenn wir „Gott“ sagen. Dazu eine Situation aus dem Religionsunterricht: Ob und wie stark sie sich bei Gott geborgen fühlen, werden die Schüler und Schülerinnen einer 8. Klasse gefragt. Sie sollen sich positionieren auf einer Skala von 0 bis 10. „Ich glaube nicht an Gott“, sagt ein Mädchen und stellt sich an die Seite. „Da kann ich nicht mitmachen.“

Wohlgemerkt: Die Schülerin stellte sich nicht auf Null, was bedeutet hätte: „Ich fühle mich nicht geborgen bei Gott.“ Sie stellte sich daneben. Im traditionellen Setting der Unterrichtsstunde kam sie nicht vor. Die Gottesfrage ist ihr fremd. Und das ist nicht ihre Schuld. Es ist einfach ihre kulturelle Prägung. Sie lebt in einem Kontext, in dem die Frage nach Gott nicht gestellt wird. Sie kann sich nicht vorstellen, was Gott mit ihrem Leben zu tun haben könnte3.

Die in religiöser Sprache gestellte Frage: „Fühlst du dich bei Gott geborgen, fühlst du dich angenommen von Gott?“ löst bei dem im nicht-religiösen Kontext aufgewachsenen Mädchen Befremden aus. Sie sagt weder Ja noch Nein, sondern nimmt sich ganz raus.

Dabei ging es an dieser Stelle gar nicht um die Gottesfrage. Luthers Erkenntnis sollte kommuniziert werden: Du bist nicht wichtig aufgrund deiner Leistung. Du bist gut, du bist schön, weil du in Liebe angesehen bist. Dein Leben ist ein wunderbares Geschenk. Und das ist eine Gnade.

Muss ein Mensch erst an die Existenz Gottes glauben, um das zu verstehen?

Ich bin sicher: Unsere Aufgabe ist nicht, den anderen erst ein ganzes System religiöser oder theologischer oder frommer Vorstellungen zu erklären, damit sie verstehen können, dass da ein radikales Ja über ihrem Leben ausgesprochen ist. Unsere Aufgabe sehe ich darin, dieses Ja so anzusagen, dass es das Herz zum Beispiel dieser Vierzehnjährigen erreichen kann. Dass sie an uns sieht und erfährt: Für diese Jesusleute ist mein Leben nicht gleichgültig. Die sehen was in mir, was ich selbst noch gar nicht wahrgenommen habe. Für die bin ich wichtig und das hat mit dem zu tun, was diese Leute „Gott“ nennen. Nicht, dass wir Menschen erklären, „dass es Gott gibt“, sondern dass sie an uns erfahren, wie ermutigend seine Gegenwart ist und dass Gottes Für-uns-da-Sein uns motiviert, uns zu öffnen, und uns bewegt, unsere Komfortzone zu verlassen. Die Menschen sollen das an unserem Dasein wahrnehmen können: Ich bin denen nicht egal. Die interessieren sich für mich. Nicht nur um mir von ihrem Gott zu erzählen.

Die wollen, dass es mir gut geht. Diese Leute verkörpern die Liebe Gottes.

Was, wenn wir anfangen würden, so über Gott zu reden, dass die existenzielle Bedeutung dieser Liebe, in und aus der wir leben, sichtbar und hörbar würde, als echte Einladung für Menschen, eine unbekannte, bisher verschüttete Dimension des Lebens zu entdecken?

Wenn wir unsere wichtigen theologischen Erkenntnisse in lebendige Erfahrung übersetzen könnten, damit in der Begegnung eine Resonanz entsteht, die zu einer existenziellen Herausforderung wird, so wie es in der Begegnung Jesu mit den Menschen geschah: Da standen plötzlich Menschen auf, die keinen Bewegungsspielraum mehr hatten, und gingen los. Blinde öffneten ihre Augen und sahen neue Perspektiven.

An dieser Stelle sind wir alle Lernende und noch ganz am Anfang unserer Bemühungen.

Wir spüren, dass manche Formulierungen Befremden auslösen. Müssen wir deshalb auf „religiöse“ Vokabeln verzichten? Nicht zwingend. Begriffe wie Gott, Kirche, Glaube, Gottesdienst, Pfarrer sind ja auch nur menschliche Worte. Die Menschen wollen wissen, wer wir sind. Und da kann es dann schon einmal heißen: „Ach, ihr seid von der Kirche? Hätte ich nicht gedacht, dass die so was machen. Ich bin zwar nicht so, aber gut. Respekt.“ Andererseits kann es auch passieren, dass eine Mutter, der ich mich als Pfarrer vorgestellt habe, zu ihrer Tochter sagt, die gerne zu unserer KINDERzeit im Laden kommen würde: „Das haben wir nicht nötig!“

Es kann Befremden auslösen, dass da Menschen sind, die so verrückt sind, an Gott zu glauben. Und es provoziert. Und das soll auch so sein. „Glaubst du an Jesus?“ ruft mir ein Neunjähriger quer über den Platz zu. Ich gehe auf ihn zu: „Ja.“ „Ich nicht“, erwidert er grinsend. Und einige Zeit später kommt er mit einem Freund: “Die glauben hier alle an Gott“, und zu mir gewandt: „Stimmt doch, oder? Der da hat mir das nicht geglaubt.“ Der Freund erklärt mir schlau, dass Glauben ja kein Wissen sei. Soll ich mich da jetzt auf eine Diskussion einlassen, versuchen, Gott zu beweisen? Ich sage den beiden einfach: „Ich glaube, dass ihr beide für Gott wichtig seid! Und dass Gott in Gotha-West mit den Menschen etwas Neues, Schönes anfangen will.“

Schließlich: Was Gott aus solchen Begegnungen machen wird, weiß ich nicht. Ich will darauf warten, was er tut. Es ist nicht meine Sache, Gott vorzuführen oder wirksam zu machen. Das tut er schon selbst zu seiner Zeit.

Meine Sache ist: Zeit haben. Zuhören. Den anderen Freiraum geben, sie so willkommen heißen, wie sie sind. Nicht zu schnell, nicht ständig von Gott reden. Eben warten. Was heißt das konkret? Wie tröste ich einen nichtreligiösen Menschen, der mir vom schrecklichen Unfalltod seiner Kollegin erzählt? Ich muss mir Zeit nehmen, präsent sein, zuhören: Die Botschaft, die ich jetzt kommunizieren kann, ist die Begegnung selbst. Ich lasse die Trostlosigkeit dieser Situation zu. Ich halte die Ratlosigkeit aus, ohne mich mit meinen (frommen) Worten selbst zu trösten. Wir sind eben nicht dazu da, eine christliche Weltanschauung zu propagieren.

Wir sind dazu da, präsent zu sein und die Präsenz, die Gegenwart Christi zu bezeugen. Jesu Dasein zum Leuchten zu bringen und damit die ins Licht zu stellen, zu denen es ihn zieht: die Armen und Ausgegrenzten, die Verletzten und Einsamen, die Hoffnungslosen. Und zwar ohne ihnen das Gefühl zu geben, dass sie die Armen und Ausgegrenzten sind.

Man kann es ganz einfach sagen: Unser Auftrag ist es, die Menschen zu lieben: Wir gehen zu ihnen, weil Jesus die Seinen als Schafe mitten unter die Wölfe sendet mit nichts anderem im Gepäck als seinem Frieden. Den Schatz, den Christus den Menschen gibt, haben wir nicht in der Hand. Wir sind irdene Gefäße und hören den Ruf: „Geht dahin, wo ich bin. Ich erwarte euch.“

Anmerkungen zum Titel: „Nicht eine neue Idee, nicht eine bessere Religion vermöchte das Ziel zu erreichen. Es kommt ein Mensch zum Menschen.“ Dietrich Bonhoeffer, Nachfolge, Chr. Kaiser Verlag, Göttingen 2002, S.299.

Eine gesprochene Version des Textes findet sich hier


  1. Durch Jesus Christus „widerfährt uns frohe Befreiung aus den gottlosen Bindungen dieser Welt“, Barmer Theologische Erklärung 1934 These 2 

  2. Eigentlich „White Saviorism“: der Gedanke, dass weiße Menschen People of Color retten müssten. Dahinter steckt eine Vorstellung der eigenen Überlegenheit. Vgl. dazu Sören Kierkegaard zu 2 Kor 5, 11: „Denn dass man sofort damit beginnt, Menschen zu gewinnen oder zuerst Menschen gewinnen will: das ist vielleicht sogar Gottlosigkeit, jedenfalls weltliche Art, nicht Christentum, so wenig als es Gottesfurcht ist. Suche zuerst, suche zuallererst auszudrücken, dass du Gott fürchtest. – Danach habe ich gestrebt.“ In: Der Begriff der Angst, Philosophische Schriften 2, Zweitausendeins, Neu-Isenburg 2009, S.878 

  3. Vgl. dazu den katholischen Philosophen aus Erfurt, Eberhard Tiefensee: „Leipziger Jugendliche antworteten, als sie gefragt wurden, ob sie sich als christlich oder eher atheistisch einstufen würden: ‚Weder noch, normal halt.‘“ www.publikationen.uni-tuebingen.de/xmlui/bitstream/handle/10900/122180/Tiefensee_106.pdf, S.16; aufgerufen am 20.3.2024 

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