
Die Rechnung ohne den Wirt?
- … mehr zwischen Himmel und Erde
- … zu Großem und zu Niedrigem fähig
- … nicht abstoßend, sondern attraktiv
- … schon seit Adam und Eva
Angesichts von Krisen, Krieg und Terror bekommt die Frage nach dem Bösen heute wieder mehr Raum. Auch wenn sich die Debatten meist im Wunsch nach einer besseren Politik erschöpfen. Davon verspricht man sich mehr Frieden, so, wie man sich von besseren sozialen Verhältnissen weniger Verbrechen verspricht. Böse Kräfte, die uns übersteigen, die jenseits aller Kulturtechniken auf uns einwirken? Damit wird nicht gerechnet. Der aufgeklärte Zeitgenosse rechnet mit der Natur, die keine Menschenmoral kennt, und mit einer offenen Gesellschaft, die jedem erlaubt, möglichst selbstbestimmt zu leben. Dabei gelten Werte und Normen, die je nach Kultur verschieden sein können. Man denkt: Je besser die Werte und Normen, desto besser der Mensch.
… mehr zwischen Himmel und Erde
In die Ferne gerückt scheint die Warnung des französischen Dichters Charles Baudelaire: „Vergesst nie, wenn ihr das Lob über den Fortschritt der Lichter hört, dass der schönste Trick des Teufels darin besteht, euch zu überzeugen, dass er nicht existiert!“ In die Ferne gerückt scheint die Vorstellung, dass mehr zwischen Himmel und Erde existiert, als wir wissen, Mächte und Gewalten, gegen die keine Verhandlungen helfen.
In der Bibel erscheint das Böse als Todesschlange im Garten des Lebens, um Misstrauen in den Grund der Schöpfung zu säen. Oder als Dämon, der geduldig, Tag für Tag, Angst, Verzweiflung und Hass in die Seele träufelt, bis der Tod als Erlösung erscheint. Vielleicht ist es das gleiche Böse, das der amerikanische Schriftsteller Louis Begley in einem monströseren Sinn anklagt, wenn er das 20. Jahrhundert als „satanisches Requiem“ bezeichnet. Das Jahrhundert von Hitler, Stalin und Mao mit etwa 150 Millionen Toten. Begleys Klage ist verständlich: über das industrialisierte und „aufgeklärte“ Europa, mitten im Deutschland der Dichter und Denker, ist ein Vernichtungswahn hereingebrochen, wie die Menschheit ihn noch nie erlebt hat.
Angesichts solcher Erschütterungen der Zivilisation greift die bürgerliche Gesellschaft gern auf akademische Abstraktionen zurück, die Distanz schaffen, auf historische oder soziologische Untersuchungen, um sich den Abgrund vom Leib zu halten. Das Beängstigende darf nicht Teil einer Dunkelheit sein, die auch in meinem Herzen nistet. Der unfassbare Abgrund muss fassbaren Ursachen weichen: Armut, soziales Unrecht, Verführung durch Rechtspopulisten. Besonders beliebt ist die psychische Störung, die den Abgrund auf ein klinisches Sonderproblem reduziert. Unerwünscht hingegen ist die Ahnung einer Hölle, an der wir alle im Verborgenen arbeiten, umso mehr, je weniger es uns bewusst ist.
… zu Großem und zu Niedrigem fähig
Der Scheinfriede des Wohlstands macht uns offenbar schläfrig, lässt uns davon träumen, dass der Mensch von Natur aus gut sei. Das schmeichelt dem eigenen Ich. Und das Übel, das es in der Welt ja doch gibt, muss wohl von bösen Machtstrukturen kommen. Man will nicht glauben, dass jeder nicht nur zum Großen, sondern auch zum Niedrigen fähig ist, dass Freiheit bedeutet, jederzeit auch das Böse wählen zu können. „Im Menschen wohnt die Lust des Tieres und die Lust des Engels, beides zugleich,“ so der Kirchenlehrer Thomas von Aquin. Eine Sichtweise, die lange zum spirituellen Kompass des Abendlandes gehört hat und zunehmend in Vergessenheit gerät. Davon zeugt die moralische Verwirrung unserer Tage. Universale Menschenrechte ja, aber der Westen darf keinen Wahrheitsanspruch gegenüber anderen Kulturen haben, denn alle Kulturen sind gleichwertig. Freiheit und Wohlstand ja, aber der westliche Kapitalismus muss verschwinden, obwohl alle anderen Modelle mehr Armut produzieren. Herausgefordert durch totalitäre Systeme wie Russland und China, durch islamistische Judenhasser und Messerstecher gegen den Westen, durch postkoloniale Ankläger, die an den eigenen Universitäten den eigenen Nachwuchs bilden, die in den eigenen Parlamenten und Medien wirken, zweifelt der Westen an sich selbst.
Eine Zivilisation der Freiheit, die nicht mit dem Bösen rechnet, scheint offensichtlich nicht besser oder freier zu werden, sondern sie verliert nur die Fähigkeit, das Böse zu erkennen. Das Böse als Zerstörung der Freiheit, als Lebensfeindlichkeit. Das Böse, das sich ausbreitet wie ein Virus, das niemand ernst nimmt und die kulturelle Resilienz schwächt. Umso wichtiger wäre es, über das Böse zu sprechen. Aber das ist, gerade heute, nicht einfach. Es wirkt reaktionär im Mainstream eines Relativismus, der universale moralische Prinzipien leugnet. Und dort, wo das Böse als Bedrohung tatsächlich noch eine Rolle spielt, etwa im Kino oder in einer spannenden Netflix-Serie, wirkt es oberflächlich. Der Mord aus Fanatismus, das spukende Haus eines Dämons, der dunkle Keller des Serienkillers, die Machtzirkel geheimer „Satanisten“, die hinter der bürgerlichen Fassade Ungeheuerliches treiben: was hier als böse präsentiert wird, ist überzeichnet finster und abscheulich. Wie in den beliebten Exorzisten-Filmen, die uns Besessenheit verstörend und spektakulär vorführen.
… nicht abstoßend, sondern attraktiv
Im wahren Leben sucht das Böse allerdings den Applaus der großen Bühne. Es wirkt nicht abstoßend, sondern attraktiv. Es verspricht ein besseres Selbst, ein schöneres Leben. Es verspricht das Gegenteil dessen, was es bringt. Das hat die klassische Literatur noch gewusst. Wie die Schlange im Garten Eden dem Menschen verspricht, selber wie Gott sein zu können, so verspricht Mephisto in Goethes „Faust“ ein Wissen, das ins Göttliche emporhebt. So träumen bei Dostojewski die nihilistischen Revolutionäre vom neuen Menschen, ohne die Fesseln der alten Moral, deren Sprengung ein paar Opfer kostet, ein paar Liquidierungen und schließlich Krieg. Auch bei Wladimir S. Solowjew und seiner «Kurzen Erzählung vom Antichrist» tritt der Satan als Humanist auf. Er gibt vor, die großen Nationen und Religionen zusammenzuführen, um ein vereintes Europa zu schaffen, mit ihm, Satan, als Präsident, dem die Völker zujubeln, denn er ist so eloquent und betont so schön die Gutheit der Menschheitsfamilie.
Vater der Lüge: das ist, im christlichen Denken, ein Name Satans. Beschrieben wird er als Durcheinanderbringer der Seele, als Ohrenschmeichler des Egos, der die Menschen in die Irre führt, weg vom Leben in Beziehung, von der Mitarbeit am Humanen durch Demut, Liebe und Disziplin. Hinein in den Krieg gegen menschliche Grenzen, verkauft als Befreiung. Hinein in die Einsamkeit, verkauft als Autonomie. Der Teufel hasst die Menschen und will, dass sie sich auf den Tod durch Isolation zubewegen, zerstreut durch den Traum eines erhabenen Selbst, das nicht mehr dienen, sich nicht mehr hingeben muss. Zerstreut durch den Traum einer Gesellschaft, die sich selber reguliert, ohne Gott, ohne Schuldgefühle. Befreit durch Wissenschaft und Technik. Der Mensch soll die Illusion nicht durchschauen. Er soll nicht merken, dass der Übergang von der Steinschleuder zur Megabombe, vom Rauchzeichen zum Smartphone, von der Höhlenmalerei zum Emoji ein technischer Fortschritt sein mag, jedoch kein kultureller oder gar moralischer. Dass auch die beste Hightech-Medizin zum Töten taugt, und dass auch die cleverste digitale Zivilisation ihr menschliches Gesicht verliert, wenn sie nur noch auf das gesellschaftlich Akzeptierte und Machbare setzt, auf den Pragmatismus des Augenblicks. Pragmatismus kann dazu führen, dass man mehr mit dem Kopf rechnet als mit dem Herzen sieht. Dass man nicht mehr erkennt, wie das Böse Stück für Stück, ganz unmerklich, die Standards des Humanen herabsetzt. Wie die Gesellschaft kälter wird und schließlich gnadenlos: der Nährboden für Entfremdung, Hass und Gewalt.
… schon seit Adam und Eva
Es ist wichtig zu betonen, dass die Rede vom Bösen keine Rechtfertigung für Verbrecher ist, die den Teufel für ihre Taten verantwortlich machen. Das Christentum sieht die menschliche Freiheit als bedingte Freiheit, unter dem Einfluss von Natur, Umwelt und verschiedenen Mächten, jedoch so, dass stets Freiräume des Entscheidens, Handelns und Verantwortens bleiben. Richtig verstanden ist die Rede vom Bösen eine geistliche Hilfe, um die großen Versuchungen zu erkennen, denen der Mensch seit Adam und Eva ausgesetzt ist. Eine seelische Orientierung, die wachsam und bescheiden machen soll, selbstkritisch und dadurch selbstbewusst, nüchtern und dadurch charakterfest.
Herrschen stattdessen Unwissen, Ignoranz oder Gleichgültigkeit, wird der Mensch schwach. Es überwiegt das ängstlich-angepasste Mitgehen mit der Herde, das realitätsscheue Schönreden und Wegschauen: eine nützliche Grundlage für Schreckensherrschaften. Die sogenannte „schweigende Mehrheit“ gibt dem Bösen aus Feigheit und Bequemlichkeit oft mehr Raum als der Extremismus verstreuter Minderheiten, das lehrt die Geschichte. Doch es bedeutet nicht, dass es so bleiben muss.
Die Wiederentdeckung des jüdisch-christlichen Realismus könnte entscheidende Kräfte zum Guten mobilisieren, vor allem bei jungen Menschen, die im Fitness- und Vergnügungspark der Gegenwart wieder nach Tiefe und Sinn suchen. Eine Tiefe, zu der die Erfahrung gehört, dass Freiheit, Lebendigkeit und Güte alles andere als selbstverständlich sind, dass man ihnen Sorge tragen muss. Die Erfahrung, dass der Mensch nicht von Natur aus gut ist, sondern viel Leid in die Welt bringen kann, aber auch viel Liebe. Mit den Worten des Schriftstellers Friedrich Dürrenmatt: „Die Liebe ist ein Wunder, das immer wieder möglich ist, das Böse eine Tatsache, die immer vorhanden bleibt.“
Giuseppe Gracia: Der Westen hat verlernt, mit dem Bösen zu rechnen: damit riskiert er den eigenen Untergang. Zuerst ersch. in Neue Zürcher Zeitung, 1.11.2024. Wir veröffentlichen hier das ungekürzte Original.