Das Bild zeigt das Denkmal Famine Monument in Dublin/Irland von Rowan Gillespie. Die Große Hungersnot (irisch An Gorta Mór; englisch Great Famine) zwischen 1845 und 1849 war die Folge mehrerer durch Kartoffelfäule ausgelöster Missernten. Infolge der Hungersnot starben eine Million Menschen, etwa zwölf Prozent der irischen Bevölkerung. Weitere zwei Millionen wanderten aus. Von dem massiven Bevölkerungsverlust hat sich Irland bis in die Gegenwart nicht erholt.

Ende oder Wende

 Lektionen aus dem babylonischen Exil

An den Wassern zu Babel saßen wir und weinten, wenn wir an Zion gedachten. Unsere Harfen hängten wir an die Weiden im Lande. (…) Wohl dem, der deine jungen Kinder nimmt und sie am Felsen zerschmettert!1

Mit diesen Worten beschreibt Psalm 137 die Zeitenwende, die wir mit dem Babylonischen Exil umschreiben. Eine schreckliche, lebensverneinende Zeit. Furchtbares war geschehen. Unter dem babylonischen König Nebukadnezar waren die Feinde des Gottesvolkes in Jerusalem eingedrungen und hatten es zerstört. Das Volk wurde deportiert – der Staat Juda war dem Untergang geweiht – und am schlimmsten: der Tempel des einzig-einen Gottes, des Schöpfers des Himmels und der Erden, des Allmächtigen, war geplündert und geschleift!1 Im sechsten Jahrhundert vor Christus schien das Ende aller Zeit gekommen. Zumindest für das Volk Israel. Trotz aller Warnungen der Propheten hatte sich niemand solch eine Zeitenwende ausmalen können.

Krisenzeit

Meistens entstehen Zeitenwenden durch Krisen. Und in ihrer Unabwägbarkeit führen sie in weitere Krisen hinein. Dazu wird uns der ebenso unbestreitbare wie unabsehbare Klimawandel nötigen. Da bricht durch den Überfall des einen auf den anderen ein lokaler Krieg aus, und wir können gar nicht außen vor bleiben. Da sind Dürre- und Hungerperioden sowie politische Instabilität in Afrika und sie begegnen uns in den Menschen, die bei uns Zuflucht suchen. Wir alle bekommen die Auswirkungen zu spüren. In einer globalen Welt werden die Krisen anderer schnell zu unseren eigenen. Und alle Unsicherheit, Ungewissheit und Angst überfallen dann auch uns.

Das war vor gut zweieinhalbtausend Jahren nicht anders. Die Zeitenwende unter den Babyloniern führte in den Folgezeiten zu den Krisenzeiten unter den Griechen mit Alexander dem Großen und schließlich zu den Eroberungszügen des römischen Imperiums. Und das hatte für Israel schmerzlich spürbare Folgen. Die Oberschicht war verschleppt, nur eine Minderheit an Landarbeitern blieb als Tributpflichtige zurück. Die Weggeführten mussten sich im riesigen Reich Nebukadnezars in geschlossenen Siedlungen niederlassen. Zwar genossen sie eine gewisse Selbstverwaltung und Versammlungsfreiheit, manche konnten gar in hohe politische Positionen aufsteigen. Aber unter allem saß das Elend der Krise tief. Da war der Verlust des verheißenen Landes und mit ihm schienen auch die Verheißungen Gottes dahin zu sein. Durch das Ende des Tempelkultes war der Jahweglaube zutiefst in Frage gestellt. Der eingangs zitierte Psalm hat die damit einhergehenden Gefühle verarbeitet. Die drastischen Worte können wir stehenlassen, weil wir wissen, was der Herr dem Volk, dessen Wehklagen er vernimmt, durch den Propheten ausrichten lässt: Nicht nach dem Verderben, sondern nach dem Gedeihen Babylons sollen die Juden trachten, damit sich Gottes Verheißungen für Israel und für die Völker erfüllen:

Suchet der Stadt Bestes, dahin ich euch habe wegführen lassen, und betet für sie zum HERRN; denn wenn’s ihr wohlgeht, so geht’s euch auch wohl. (Jer 29,7)

Entscheidungszeit

In der Medizin spricht man von einer Krise, wenn es bei einem Schwerkranken in die entscheidende Phase geht. Es kann besser werden oder schlechter. Das kann Leben oder Tod bedeuten. Ein neuer Anfang oder das Ende. Zeitenwende ist Krisenzeit und Krisenzeit ist Entscheidungszeit. Unter den nach Babylon Verschleppten war ein junger Mann: Daniel. In seinem Bericht können wir von Entscheidungen lesen, die in solch einer Zeit damals wie heute unabdingbar sind.

Zunächst ist Einsicht in die Lage gefragt. Von Daniel und seinen Freunden lesen wir: Diesen vier jungen Leuten gab Gott Verstand und Einsicht für jede Art von Schrift und Weisheit. Daniel aber verstand sich auf Gesichte und Träume jeder Art (Dan 1,17). Einsicht meint, die Lage recht deuten zu können. Nicht im Selbstmitleid zu versinken. Auf Gott vertrauen. Nicht dem Vergangenen nachtrauern, sondern hoffnungsvoll auf Gott und damit nach vorne schauend zu leben.

Damit verbunden ist Eindeutigkeit gefragt. Aber Daniel nahm sich in seinem Herzen vor, dass er sich mit des Königs Speise und mit dem Wein, den dieser trank, nicht unrein machen wollte, und bat den obersten Kämmerer, dass er sich nicht unrein machen müsste (Dan 1,8). In unsicheren Zeiten neigen Menschen dazu, ihr Fähnlein nach dem Wind zu hängen. Daniel aber wollte sich nicht korrumpieren lassen, er wollte klar Kurs halten mit seinem Gott. Denn er wusste: Jetzt ist gefragt, dass man weiß, worauf es ankommt. So ist das Bekenntnis Daniels und seiner Freunde zu verstehen: Denn es gibt keinen anderen Gott als den, der so erretten kann (Dan 3,29). Den wollten sie bezeugen – unter allen noch so unsicheren Umständen – und nicht einfach nur mit dem eigenen Leben irgendwie davonkommen.

Um das tun zu können, war schließlich geistliche Klugheit gefragt. Neige deine Ohren, mein Gott, und höre (…). Denn wir liegen vor dir mit unserm Gebet und vertrauen nicht auf unsere Gerechtigkeit, sondern auf deine große Barmherzigkeit (Dan 9,18). Wenn sich alles ändert und nichts mehr als sicher gelten kann, muss man sich auf das Wesentliche besinnen. Solche Klugheit nennt die Bibel Weisheit. Wenn scheinbar nichts mehr zählt, muss man auf Gott zählen! Gerade jetzt muss man sich ganz und gar auf Gott verlassen!

Daniel nahm in dieser so schweren Zeitenwende seinen Platz ein. Er hat sich nicht versteckt. Er hat Einsicht mit Eindeutigkeit gepaart. Und sein Wissen über das, worauf es nun ankommt, aus seiner geistlichen Klugheit geschöpft.

Zeitenwenden aller Art brauchen solche Typen! Entschiedenheit war und ist gefordert! Heinrich
Spaemann schreibt einmal von solchen Persönlichkeiten: „Mir scheint, heute braucht der Herr mehr denn je eine Avantgarde von Beherzten. Er braucht Leute, die frei sind von der feigen Angst um ihre Habe, ihre Stellung – Arme. Leute, die nur wissen, dass sie nötig sind, sich aber nicht einbilden, wichtig zu sein – Dienstmutige. (…) Wenn nichts aufschiebbar ist, was könnten wir heute schon tun? Das Erste und Wichtigste: sich entschließen, ganz bei der Sache zu sein (der Sache Jesu), für sie verfügbar zu werden.“2

Kein Zeitenende

In solch unsicheren Zeiten braucht es eine Avantgarde der Beherzten. Nicht derer, die sich selbst für unersetzbar halten – schon gar nicht derer, die andere mit ihrer eigenen Angst anstecken – sondern derer, die Gott für unersetzbar halten und sich deshalb nüchtern und hoffnungsvoll in die Wirklichkeit der Zeitenwende wagen.

Und dann passiert immer wieder, was damals schon einmal passiert ist. Die Zeitenwende war und ist nie das Zeitenende! Aus dem scheinbaren Ende erwächst ein Neuanfang.

Inmitten der Ausweglosigkeit wuchs unter denen, die nach Babylon verschleppt waren, die Ent-Täuschung, wuchs der Blick für die eigene Wirklichkeit. Dort, in der Fremde und in aller Unfreiheit begannen sie mit der kritischen Aufarbeitung ihrer Geschichte. Bei dieser Besinnung reifte die Erkenntnis, dass sich die Worte der Propheten, die das Strafgericht immer wieder angekündigt hatten, erfüllt haben (Sach 1,5f; Klgl 2,17). Die Anerkennung der Autorität des prophetischen Wortes gab aber auch der Hoffnung auf die Zukunft Nahrung, denn die Propheten hatten nicht nur vom Gericht, sondern auch von Umkehr und Begnadigung gesprochen. (…) Sehr eindrücklich ist davon in den Worten vom ‚neuen Bund‘ (Jer 31,31–34) und in der Vision von der Erweckung der Totengebeine (Hes 37,1–14) die Rede“3. Die so unverständliche Niederlage wurde als Gericht Gottes erkannt. Und damit war Wirklichkeit gewonnen. Der Name Daniels – Gott hat gerichtet bzw. Gott hat sich Recht verschafft – weist übrigens auch dahin. Richten meint im biblischen Denken nicht aburteilen, sondern ausrichten. Inmitten der krisenhaften Zeitenwende gibt Gott seinem Volk eine neue Richtung.

Daraus entsteht dann eine überaus kreative Epoche. Die alten Überlieferungen werden gesammelt und editiert. So entsteht die Grundlage für das, was wir heute Altes Testament nennen. Und noch mehr: „Die Sammlung und Verlesung der heiligen Schriften führte zur Praxis des Wortgottesdienstes, wie er später in den Synagogen üblich war.“4 Der Ort, an dem Gott wohnte, der Tempel, war zerstört. Gottes Gegenwart aber wurde neu erfahren. Man musste nicht mehr nach Jerusalem pilgern um ihm zu begegnen. Plötzlich war klar: Gott geht mit uns. Er ist auch mit uns ins Exil gegangen. Er ist immer und überall bei uns! So entsteht statt des Tempels die Synagoge.

Und statt des kultischen Opfers entsteht die liturgische Feier des Sabbats. Beides – Synagoge und Sabbat – haben Israel später, nach der Zerstörung des zweiten Tempels im Jahr 70 n. Chr. durch die Römer und der nachfolgenden Zerstreuung und fast zweitausendjährigen Verbannung aus dem Heiligen Land, durchgetragen.

Und noch etwas geschieht in der Zeitenwende des Exils. Es blühen ganz neue Möglichkeiten auf. Daniel spricht zu heidnischen Königen! Er macht seinen Gott unter den Babyloniern bekannt. Ohne Exil kaum denkbar! Und die sogenannten Gesichte Daniels eröffnen einen ganz neuen Blick für die Zukunft Gottes mit Israel und der ganzen Menschheit. Es beginnt das Denken, das wir heute mit dem Begriff Heilsgeschichte verbinden.

Ja – in und mit Krisen kann man leben. Man kann darin sogar wachsen. Ein Neuanfang wird ermöglicht, der über den alten Zustand weit hinausgeht, und man am Ende deutlich mehr hat als je zuvor. Aber es braucht Menschen, die sich in solch schwierigen und unübersichtlichen Momenten Gott anvertrauen und ihm zutrauen, dass er Neues beginnen lässt! Welch hoffnungsvoller Blick auch in unserer Zeit mit ihren Krisen und Zeitenwenden!

Regierungszeit Gottes

Der Alttestamentler Hans Möller schreibt: „Daniels Buch kündet von der malkuth Gottes.“5 Es ist das hebräische Wort für Königreich oder Königsherrschaft – im Neuen Testament dann die basilea tou theo – das Reich Gottes. Zeitenwenden sind nichts anderes als Facetten der Heilsgeschichte Gottes mit seiner Welt. In allem geht es um Gottes Regierungsherrschaft, die er sich durch nichts und niemanden nehmen lässt. In der Fremde erwächst Daniel ein heilsgeschichtlicher Blick auf die Ereignisse dieser Welt. Krisen haben schon immer einen nächsten Schritt in der Heilsgeschichte ermöglicht. In allem Chaos führt Gott diese Welt zu ihrem Ziel!

Nun ist es bis heute so, dass auch fromme Menschen gerne mal zum Pessimismus neigen. Daraus erwachsen Misstrauen gegen die „politische Kaste da oben“ – oder in Sachen Ethik eine Niedergeschlagenheit: alles geht den Bach runter. Und bei ökologischen Fragen – für uns Christen ja eigentlich Fragen der Schöpfung – entscheidet man sich wahlweise für den Untergang oder gegen diese „Öko-Spinner“. Und da wären ja auch noch die kirchlichen Skandale und die unablässigen Kirchenaustritte zu nennen. Wie würde wohl ein Daniel in unsere Zeitenwende hineinsprechen? Wenn ich seinen Bericht lese, spüre ich, wie tatkräftig hoffnungsvoll er auf Gott setzen würde! Aus der Alten Kirche ist uns ein Motto überliefert: Fluctuat nec mergitur! – Sie (die Kirche) schwankt, aber sie geht nicht unter! Von Karl Barth wird berichtet, dass er am Abend vor seinem Tod mit seinem Kollegen und langjährigen Freund Eduard Thurneysen telefonierte. Sie sprachen über die dunkle Weltlage, und Barth beendete das Gespräch mit den Worten: „Aber nur ja die Ohren nicht hängen lassen! Nie! Denn – es wird regiert!“6

Eine Zeitenwende wird immer wieder gerne proklamiert. Mal angstvoll, mal hoffnungsvoll. Und doch gibt es nur einen, den Einzig-Einen, der Zeitenwenden zulässt und sogar nutzt, um diese Welt an das gute Ziel zu bringen, das er mit ihr hat. Liselotte Corbach hat diese Wahrheit in einem Lied verdichtet.7 Beherzte können es als persönliches Gebet nutzen.

Herr, lass deine Wahrheit | uns vor Augen stehn;
lass in deiner Klarheit | Lug und Trug vergehn.

Gib uns reine Herzen | mach uns kampfbereit
und zu hellen Kerzen | in der Dunkelheit.

Lass uns selbstlos werden | wende unsern Sinn
auf der ganzen Erden | zu dem Bruder hin.

Liebe uns erfülle | lenke Herz und Hand,
weil dein Liebenswille | alle Welt umspannt.

Wollen in der Stille | hören deinen Plan,
tuen, was dein Wille | uns hat kundgetan.

In die Zeitenwende | hast du uns gestellt.
Hier sind Herz und Hände | für die neue Welt.

Anmerkungen:

1 Siehe 2 Könige 26,8-12
2 Heinrich Spaemann: Er ist dein Licht, Herder: Freiburg 1994, S. 210
3 Hans-Jürgen Zobel und Karl-Martin Beyse: Das Alte Testament und seine Botschaft, Ev. Verlagsanstalt: Berlin 1984, S. 217
4 Zobel-Beyse a.a.O. 216
5 Hans Möller: Alttestamentliche Bibelkunde, Concordia 2013, S. 257
6 Eberhard Busch: Karl Barths Lebenslauf, TVZ: Zürich 1975, S. 446
7 Text: Liselotte Corbach 1953, © mundorgel verlag gmbH, Lindlar

Das Bild zeigt das Denkmal Famine Monument in Dublin/Irland von Rowan Gillespie. Die Große Hungersnot (irisch An Gorta Mór; englisch Great Famine) zwischen 1845 und 1849 war die Folge mehrerer durch Kartoffelfäule ausgelöster
Missernten. Infolge der Hungersnot starben eine Million Menschen, etwa zwölf Prozent der irischen Bevölkerung. Weitere zwei Millionen wanderten aus. Von dem massiven Bevölkerungsverlust hat sich Irland bis in die Gegenwart nicht erholt. Quelle: Wikipedia

Salzkorn 3 / 2023: Zeitenwende?
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