© World Vision

Der unterirdische Wald

Eine Vision für die Sahelzone

Tony Rinaudo, australischer Agrarexperte, hat in den letzten 35 Jahren Millionen Kleinbauern in Afrika dazu inspiriert, Bäumen als Hüter fruchtbarer Erde und des Regens eine Chance zum Wachsen zu geben, anstatt sie als Feinde oder nur als Futter und Feuerholz zu betrachten. Er hielt Ende April 2023 beim Kongress Christlicher Führungskräfte in Berlin einen beeindruckenden Vortrag, den wir hier abdrucken. 

Ich bin in einem sehr schönen Teil Australiens aufgewachsen. Wir schwammen und fischten im nahegelegenen Fluss. Wir haben das Wasser getrunken. Wir kletterten auf die Bäume und wanderten nach Herzenslust.

Drei Dinge haben mich zu dem Menschen gemacht, der ich heute bin: Zu sehen, wie das Buschland, das ich liebte, zerstört und die Flüsse durch Pestizide vergiftet wurden. In den Nachrichten zu verfolgen, dass Kinder in anderen Teilen der Welt ohne eigenes Verschulden hungrig zu Bett gehen mussten. Das machte mich wütend, und ich war frustriert, weil ich nichts ändern konnte.

Der dritte Einfluss war der starke Glaube meiner Mutter. Sie lehrte mich, dass es wichtigere Dinge gibt als finanzielle Sicherheit, dass wir die Hüter unserer Brüder und Schwestern sind und die Pflicht haben, uns denen zuzuwenden, die weniger Glück hatten als wir, um gute Verwalter der Schöpfung Gottes zu sein. Also tat ich das Einzige, das mir möglich schien: Ich sprach ein Kindergebet und bat Gott, mich zu benutzen, um irgendwo etwas zu bewirken.

Am Rande des ökologischen Zusammenbruchs

An der Universität lernte ich Liz kennen. Nach unserem Abschluss heirateten wir und schlossen uns Serving in Mission an, die uns in die Republik Niger in Westafrika entsandte. Niger ist eines der ärmsten Länder der Welt, ohne Küste und am Rande der Wüste Sahara. Die Landschaft, einst artenreicher Trockenwald mit Wasserquellen, Wildbestand und fruchtbaren Farmen auf Waldlichtungen, befand sich bei unserer Ankunft am Rande des ökologischen Zusammenbruchs. Die Folgen des Klimawandels und der großflächigen Abholzung waren verheerend: Dürreperioden. Missernten. Verlust des Viehbestands. Hunger. Vertreibung. Selbst in Jahren mit ausreichend Niederschlag bot das entwaldete Land keinen Lebensraum für nützliche Vögel, Eidechsen und Spinnen, ansonsten gesunde Ernten wurden dezimiert. Wenn aber Abholzung eine der Hauptursachen dieser Probleme war, dann, meinte ich, müsste die Wiederaufforstung einen wichtigen Beitrag zu ihrer Lösung leisten.

Ich stürzte mich mit Leib und Seele auf diese Aufgabe, las, konsultierte Experten und experimentierte mit verschiedenen Methoden. Nichts erwies sich als wirtschaftlich tragfähig oder nachhaltig. 80 Prozent der neu gepflanzten Bäume gingen ein und für die Menschen, denen ich helfen wollte, war ich zu allem Überfluss der verrückte weiße Farmer. Wer bei klarem Verstand würde Bäume auf wertvolles Ackerland pflanzen – erst recht in Zeiten des Hungers?! Sie meinten, dass die Bäume zu viel Raum und Zeit brauchten, bevor sie Nutzen brachten. Ich hingegen war überzeugt, dass es ohne einen gewissen Baumbestand in dieser Region keine lebensfähige Landwirtschaft geben würde.

Hoffnung wurzelt in der Berufung

Ich war entmutigt und hätte leicht aufgeben und nach Hause gehen können. Aber ich war mir meiner Berufung gewiss, erinnerte mich an das Gebet meiner Kindheit und wusste, dass Gott keine Fehler macht. Es musste eine Lösung geben. So betete ich auf einem Buschpfad im Gehen: „Lieber Gott, vergib uns, dass wir das Geschenk deiner Schöpfung zerstört haben. Menschen hungern, sie sind arm, sie haben Angst vor dem Morgen und wissen nicht, was der nächste Tag bringt. Du aber liebst uns dennoch. Zeige uns, was wir tun sollen, öffne uns die Augen. Hilf uns.“

Als ich gebetet hatte, fiel mir etwas Buschartiges am Wegrand auf. Ich machte mir die Mühe, es genauer anzusehen. Das Blatt einer Pflanze verrät wie eine Signatur, um welche Art es sich handelt. Mir war sofort klar, dass dies kein Strauch, sondern ein Baum sein muss, der gefällt worden war und nun aus dem Stumpf wieder austrieb. Das war der Moment, der alles veränderte: die Antwort auf mein Gebet! Denn Millionen solcher „Büsche“ waren über die Landschaft verstreut. Ich brauchte keine enormen Ressourcen zum Bepflanzen, auch keine Wunderbaumart, die Dürre und Ziegen standhielt, um die Wüste zurückzudrängen. Hier war alles, alles, was ich brauchte, aber ich war zwei Jahre lang völlig blind gewesen für das, was mir buchstäblich zu Füßen lag!

Das verborgene Leben unter dem Staub

Ich nenne diese Sträucher und Samen im Boden den „unterirdischen Wald“. Wenn wir in den Boden sehen könnten, würden wir schnell erkennen, dass die meisten Bäume nicht einfach absterben, wenn der Stamm gefällt wird. Das Wurzelwerk ist genauso groß und stark, nur unter der Oberfläche verborgen. Es hat eine enorme Kapazität wieder auszutreiben und zu Bäumen heranzuwachsen, wenn man ihm eine Chance gibt. Die Methode selbst ist einfach: man muss die dafür geeigneten Stümpfe von dort natürlich wachsenden Bäume auswählen, überflüssigen Austrieb beschneiden und die jungen Triebe vor umherstreifendem Vieh, Feuer und Diebstahl schützen.

Unser eigentlicher Kampf war gar nicht der gegen die sich ausbreitende Sahara, sondern gegen falsche Überzeugungen und Vorstellungen, gegen negative Einstellungen gegenüber der guten Schöpfung Gottes und unsere destruktiven Gewohnheiten. Meine Entdeckung veränderte auch meine gesamte Denkweise und meinen Ansatz. Ich begann mit Freiwilligen zu arbeiten und kam innerhalb kürzester Zeit zur Überzeugung, dass dies die Lösung war, nach der ich gesucht hatte.

Unverzagt an Gott festhalten

1983 jedoch führte eine schwere Dürre zu Ernteausfällen. Es war eine Sache, als Kind Hunger im Fernsehen zu sehen, aber etwas ganz anderes, wenn die Menschen, die man kennen und lieben gelernt hatte, Hunger litten. Ich hatte kein Geld. In der Stadt schien es kein Getreide zu kaufen zu geben und der Premierminister verweigerte uns die Genehmigung, Lebensmittelspenden zu verteilen. Das belastete mich sehr schwer, denn täglich versammelten sich mehr und mehr Menschen um unser Haus, schliefen über Nacht auf dem Boden und baten mich um Lebensmittel.

Als mir eines Morgens mein Frühstück wie ein Kloß im Hals steckte und Tränen mir die Augen füllten, fiel mein Blick auf folgenden Vers in der aufgeschlagenen Bibel: Fürchte dich nicht und erschrecke nicht vor dieser großen Schar; denn der Kampf ist nicht dein, sondern Gottes. Ich wusste nicht, was oder wann, aber ich wusste, dass Gott etwas Bedeutendes tun würde.

Noch nicht mal zwei Wochen später verstarb der Premierminister und der Interimspremier erteilte uns innerhalb von zwei Tagen die Erlaubnis, Lebensmittel zu verteilen. In den nächsten sechs Monaten spendeten Christen aus aller Welt eine halbe Million Dollar, mit denen wir über 35.000 Menschen helfen konnten.

Das Wurzelwerk trägt neue Triebe

Die Empfänger von Nahrungsmittelspenden verpflichteten sich, 40 Bäume pro Hektar Land zu pflegen. Nach und nach erkannten die Bewohner der Gegend die Vorteile und in den nächsten 20 Jahren wurden etwa 200 Millionen Bäume auf 5 Millionen Hektar Ackerland regeneriert. Die Initiative strahlte aus, weitere Organisationen stießen zu unserer Bewegung.

Wenn ich, zuletzt 2019, wieder in den Niger reise, ist die Veränderung offensichtlich. Die Abwärtsspirale aus Degradierung, Armut und Verzweiflung hat sich zu einer Aufwärtsspirale des relativen Wohlstands und erneuerter Hoffnung entwickelt. Die Landwirte bauen mehr und verschiedene Arten von Nutzpflanzen an und halten Vieh, und aufgrund der größeren Artenvielfalt ist ihr Wirtschaften viel widerstandsfähiger gegen Klimaschocks wie Dürren und schwere Stürme.

Ich ging 1999 zu World Vision und begann, FMNR (Farmer Managed Natural Renaturation) überall einzuführen, wo ich hinkam. Ich sehe, wie sich einst ausgetrocknete Landschaften erholen. Leben kommt wieder in karges Land. Die Bauernhöfe werden produktiver. Die Menschen blühen auf. Wenn ich Gemeinden besuche, die sich FMNR zu eigen gemacht haben, gibt es meist eine große Feier. Die Bewohner sind glücklich, sie zeigen mir, was sie erreicht haben. Sie klatschen, tanzen, singen. Sie jubeln und freuen sich. Könnte es sein, dass wir, wenn wir mit statt gegen Gottes Schöpfung arbeiten, einen Vorgeschmack auf den Himmel auf Erden bekommen?

Die Schöpfung als unser Erbe verwalten

Ich habe tatsächlich Hoffnung. Nicht in mich selbst. Nicht in die Technik. Sondern Hoffnung in Gott. Aber ich glaube auch, dass das Volk Gottes von seiner zerstörerischen Lebensweise umkehren muss. Als die Menschen im Niger ihr Handeln änderten, haben ihnen die Baumstümpfe, bildlich gesprochen, vergeben: Sie wurden erneuert und begannen zu geben und zu segnen. Ich glaube, dass der Gott, der uns liebt und der sich an seiner Schöpfung erfreut, uns vergibt, wenn wir Buße tun. Er wird das Antlitz der Erde erneuern, die dann geben und geben und segnen wird, wie es ihre Bestimmung ist. Ich möchte zum Schuss drei Gründe nennen, warum ich denke, dass Christen eine Verantwortung für die Schöpfung haben.

Erstens: Christen sollten sich um die Schöpfung kümmern, weil die Schöpfung Gott gehört, ihm, den wir Herr nennen. Da wir wissen, dass Umweltzerstörung zu menschlichem Leid führt, ist für die Schöpfung zu sorgen zugleich ein Akt der Nächstenliebe.

Zweitens: Christen, die wissen, dass gute Haushalterschaft den Hunger verringert und wir Menschen aus der Armut befreien und das Risiko von Umweltkatastrophen verringern können, sind dazu verpflichtet, sich an vorderster Front für den Schutz und die Wiederherstellung einer gesunden Umwelt einzusetzen.

Drittens: Da Gott alles, was er geschaffen hat, für sehr gut befunden hat, hegen und schützen wir die gute Schöpfung auch um ihrer selbst willen, unabhängig davon, welchen wirtschaftlichen oder funktionalen Nutzen wir davon haben.

Schließlich glaube ich, auch wenn das unter Christen kontrovers diskutiert wird, dass die Erde als eine einst erneuerte Erde unsere Heimat für die Ewigkeit ist. Ein tief gegründetes biblisches Verständnis erkennt an, dass Gottes Gericht eine radikale Reinigung der gesamten Schöpfung bedeuten wird, aber dass Gottes rettende Liebe zu allem, was er geschaffen hat, schließlich zur Umgestaltung und Erneuerung der Schöpfung führen wird. So wie Gott zerbrochene und verkorkste Menschen erneuert und sie in Christus zur neuen Kreatur macht, so wird er diese ganze beschädigte und seufzende Schöpfung wieder neu machen. Und so wie wir unser eigenes Haus pflegen und instandhalten, sollten wir uns auch um den einzigen Planeten kümmern, den wir kennen und den unsere Kinder und künftige Generationen von uns erben werden.

Tony Rinaudo (Jg. 1957) arbeitete nach dem Bachelor in Agrarwissenschaften über 18 Jahre lang in der Republik Niger. Infolge seiner Initiative wurden dort ca. 7 Mio Hektar Steppenland wieder aufgeforstet, was zu einer Transformation der Landschaft führte. Seine innovative Arbeit wurde 2018 mit dem Right Livelihood Award, bekannt als „alternativer Nobelpreis“, ausgezeichnet. Seit 1999 engagiert er sich bei der internationalen Kinderhilfsorganisation World Vision. Tony ist verheiratet mit Liz und Vater von vier Kindern.

Salzkorn 3 / 2023: Zeitenwende?
⇥  Magazin bestellen oder PDF downloaden
Vorheriger Beitrag
Ende oder Wende
Nächster Beitrag
Die Welt ist voller Lösungen

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Bitte füllen Sie dieses Feld aus.
Bitte füllen Sie dieses Feld aus.
Bitte gib eine gültige E-Mail-Adresse ein.
Sie müssen den Bedingungen zustimmen, um fortzufahren.

Weitere Artikel zum Thema

Archiv