Maulbeerfeigen am Baum (gemeinfrei)

Die Welt ist voller Lösungen

Von der Kunst Maulbeerfeigen zu ritzen

Zugegeben: Große Themen und große Fragen gehören zu meinen Leidenschaften! Wenn sie mich packen, lassen sie mich so schnell nicht wieder los. So geht es mir auch mit der „Zeitenwende“ – klingt für mich gleichzeitig verunsichernd, etwas bedrohlich, aber auch herausfordernd, einladend und hoffnungsvoll.

Sicher nicht zufällig hat dieser Begriff sogar einen Platz im Leitbild der OJC gefunden: „Unsere westliche Gesellschaft steht in einer Zeitenwende. Das Grundgefühl der Unbehaustheit, zerbrochene Beziehungen und eine wachsende Sinnkrise fordern uns heraus, neue Perspektiven zu entwickeln.“1 Neue Perspektiven. Wie gewinnt man die? Wie kommen wir dahin, unser Denken und Handeln nicht an der Katastrophe, sondern an Gottes Verheißungen auszurichten?

Die etwas steile Feststellung eines klugen Denkers (Quelle leider unbekannt) geht seit langem mit mir: „Christen haben die Übergänge von einem Zeitalter ins andere moderiert.“ Interessant: Nicht unbedingt „herbeigeführt“ oder „angestoßen“, aber doch wesentlich dazu beigetragen, dass die Übergänge bewältigt werden konnten, menschlich und gesellschaftlich. Könnte es wirklich so gewesen sein? Und wenn ja: Wie haben sie das bewerkstelligt? Thomas Cahill beginnt seinen Bestseller„How the Irish saved civilization“ mit folgendem Zitat:

“Nothing that is worth doing can be achieved in our lifetime; therefore we must be saved by hope. Nothing which is true or beautiful or good makes complete sense in any immediate context of history; therefore we must be saved by faith.“2

Wirre Zeiten überdauert, wer trotz aller Widerstände unbeirrt das Wahre, Schöne und Gute sucht, festhält und umsetzt, auch wenn es im Jetzt und Hier keinen erkennbaren Sinn oder Nutzen hat. Dazu müssen wir erst einmal gerettet werden, durch Glauben!

Was wirklich zum Ziel führt

Als das römische Reich im 5. Jh. in die Hände der Barbaren fiel, die nicht nur die stolzen Gebäude, sondern auch Kunst und Literatur zerstörten und verbrannten, kopierten irische Mönche auf ihrer abgelegenen Insel mit Hingabe und Leidenschaft sämtliche Bücher und Schriften, geistliche und weltliche, die ihnen in die Finger kamen. Sie lasen und liebten offenbar diese Bücher, die geheimnisvolle Schönheit der Buchstaben, die sie durch ergänzende kunstvolle Illustrationen noch betonten. Berühmt geworden ist aus dieser Zeit insbesondere das Book of Kells. Sehr wahrscheinlich hatten sie keine Ahnung, dass sie mit diesen Büchern hundert Jahre später dem untergegangenen westeuropäischen Kontinent seine Kultur „wieder zurückbringen“ sollten. Aber sie suchten und bewahrten offenbar das Wahre, Gute und Schöne um seiner selbst willen. Dadurch gewannen sie ein gewaltiges Maß an Resilienz, das ihnen auch in den kommenden tragischen Epochen der irischen Geschichte zu Gute kam.

Wie können wir diese Fähigkeit erlangen? Um das Wahre, Gute und Schöne überhaupt erkennen zu können, braucht es ein von Christus erneuertes Denken und die Gabe der Unterscheidung. Deshalb mahnt Paulus die Christen in Rom:

Lasst euch nicht in das vorgefertigte Muster des Zeitgeistes pressen. Gestaltet euch stattdessen um, indem ihr ein neues Denken beginnt. Auf diese Weise könnt ihr beurteilen, was dem Willen Gottes entspricht, nämlich das wahrhaft Gute, das, was seine Zustimmung findet und wirklich zum Ziel führt. (Röm 12,2 Das Buch)

Jede Zeit, jede Kultur hat ihre bewussten oder unbewussten Denkmuster, die auch die Christen prägen. Und leider sind die heutigen Denkmuster stark polarisierend. Lassen wir uns also nicht festlegen, weder auf progressive noch auf konservative Denkschemata. Denn weder das eine noch das andere ist per se gleichzusetzen mit dem Willen Gottes. Hören wir nicht auf, unser Denken erneuern zu lassen, bis wir herausgefunden haben, was „wirklich zum Ziel führt“.

Der Zeitgeist ändert sich schnell. Verwandlung des Denkens aber geht langsam. Wie ist es möglich, das sich ohnehin verändernde Denken vom Heiligen Geist befruchten zu lassen?

Durch den Schnitt zur Reife

Dazu also die Sache mit den Maulbeerfeigen: Ich bin kein Prophet noch ein Prophetenjünger, sondern ich bin ein Rinderhirt, der Maulbeerfeigen ritzt, so die Selbstvorstellung des Propheten Amos (Amos 7,14).

Basilius der Große (+379) deutet diesen Maulbeerfeigenbaum (Sykomore) auf die die Christen umgebende heidnische Kultur: „Die Sykomore3 ist ein Baum, der sehr viele Früchte trägt. Aber sie schmecken nach nichts, außer man ritzt sie sorgfältig und lässt ihren Saft abfließen, wodurch sie wohlschmeckend werden. Deshalb, glauben wir, ist (die Sykomore) ein Symbol für die Gesamtheit des Heidentums: sie bildet eine Fülle, ist aber gleichsam fade. Das kommt vom Leben in den heidnischen Gewohnheiten. Wenn man es fertigbringt, sie durch den Logos zu ritzen, wandelt sie sich, wird schmackhaft und brauchbar.“4

Was für ein wunderbares Bild! Die gute Nachricht ist: In all den ungenießbaren Früchten unserer säkularisierten Kultur ist etwas Schmackhaftes, Brauchbares verborgen, es ist bloß noch nicht reif! Das bedeutet nichts anderes als: Gott hat seine Menschheit, die sich von ihm abgewandt hat, nicht preisgegeben. Das Gute, Wahre und Schöne ist immer noch da, auch wenn es sich noch so hässlich verkleidet. Sehr poetisch beschreibt dies auch Pater Alfred Delp: „Das eine ist mir so klar und spürbar wie selten: Die Welt ist Gottes so voll. Aus allen Poren der Dinge quillt uns dies gleichsam entgegen.“

Aber es braucht eben noch den gezielten Schnitt „durch den Logos“, durch das lebensschaffende Wort des Schöpfers, das in Jesus Mensch geworden ist. „Der Logos bedient sich seiner Knechte, der ‚Maulbeerfeigenzüchter‘. Der nötige Eingriff setzt Sachverstand, Kenntnis der Frucht und ihrer Reifungsprozesse, Erfahrung und Geduld voraus.“5. Darin liegt das Geheimnis. Jünger Jesu müssen sich intensiv, geduldig und einfühlsam mit ihrer jeweiligen historisch gewachsenen Kultur (und den zugehörigen Menschen!) auseinandersetzen, mit ihren aufbrechenden Abgründen wie auch mit ihren Chancen, bevor sie ihre Früchte „zur rechten Zeit, auf die rechte Art und in der rechten Weise“ durch den Schnitt des Evangeliums zur Reife bringen können. „Nothing we do, however virtuous, can be accomplished alone; therefore we must be saved by love.“6 Wir sind aufgefordert, in der Welt zu bleiben, wie Gott in der Welt bleibt.

„Gott liebt diese Welt. Ihre Dunkelheiten hat er selbst erhellt:
Im Zenit der Zeiten kam sein Sohn zur Welt.“ (Walter Schulz, EG 409,4)

Wenn wir das Evangelium in unsere sich rasend schnell wandelnde postchristliche Zeit hineinübersetzen wollen, kommen wir nicht umhin, uns mit den (verständlicherweise befremdlichen) Auswüchsen unserer Kultur auseinanderzusetzen, die tieferen Fragen hinter den oberflächlichen Äußerungen von Aggression oder Verzweiflung zu ergründen, etwa solche: Wer sagt mir, wer ich bin (Identität)? Wer steht zu mir (Zugehörigkeit)? Welchen Sinn hat Sexualität? Habe ich eine Zukunft? Was bedeutet Hoffnung?

Eine helfende Antwort

Und dann müssen wir diese Fragen nah an uns heranlassen, ohne vorschnell zu antworten, denn sie könnten auch uns hinterfragen. Vielleicht waren die Antworten, die wir bisher gegeben haben, missverständlich, unzureichend oder sogar falsch? Wie ist es denn überhaupt zu den großen Krisen gekommen, die in unseren Tagen eine Zeitenwende einläuten könnten? Welche Rolle hat die Kirche Jesu dabei gespielt (im Positiven wie im Negativen)? Wir erleben derzeit die „vierte industrielle Revolution“ (Digitalisierung) und eine fortschreitende sexuelle Revolution (neosexuelle Revolution), mit all den unübersehbaren Kollateralschäden in den Bereichen Ehe und Familie, Lebensrecht, Ausbeutung von Mensch und Natur, wachsende Ungleichheit zwischen Arm und Reich. Und möglicherweise wird aufgrund sich zuspitzender Krisen auch eine ökonomische Revolution auf uns zukommen. Können wir in und mit dieser Kultur durch Christus eine helfende Antwort finden? „Nicht das moralisch Korrekte wird in einer ideologisch-moralisch überfütterten Zeit den Unterschied machen, sondern die Demut und das Vermögen, Irrtümer eingestehen zu können und leidenschaftlich an einer lebenswerten Zukunft zu bauen.“7

„No virtuous act is quite as virtuous from the standpoint of our friend or foe as it is from our standpoint. Therefore we must be saved by the final form of love which is forgiveness.“8

Unsere Antwort muss, wenn sie christusgemäß sein will, einer Kultur des Lebens dienen, wie es im OJC-Auftrag heißt:

Richtung in Christus finden –  Kämpfen für eine Kultur des Lebens.

„Im Hoffnungshorizont der biblischen Botschaft ist ein tiefes Verstehen der Menschen- und Weltgeschichte möglich. Das jüdisch-christliche Erbe gibt uns zukunftsfähige Orientierung. Auf dieser Grundlage und um der nächsten Generation willen nehmen wir geistige und gesellschaftliche Entwicklungen wachsam wahr, setzen uns mit ihnen inhaltlich auseinander und beziehen Stellung. Unser Ziel ist es, insbesondere junge Menschen zum Querdenken (sic!) herauszufordern und – wo möglich – mit ihnen gemeinsam konstruktive Alternativen zum Zeitgeist und kulturellen Mainstream zu entwickeln und einzuüben.“9

Konstruktive Denkschulung braucht notwendig Gemeinschaft. Ratzinger erklärt dazu: „Christwerden braucht einen Lebenszusammenhang, in dem sich kulturelle Heilung und Verwandlung vollziehen kann. Die Evangelisierung ist nie nur intellektuelle Mitteilung, sie ist ein Lebensprozess, Reinigung und Verwandlung unserer Existenz, und dazu ist Weggemeinschaft nötig.“10 Das ist ein Grund, warum wir in verbindlicher Gemeinschaft leben, glauben und denken (und andere dazu anstiften wollen), und warum wir junge Menschen einladen, für eine Zeit lang unser Leben zu teilen. Ebenso sind wir angewiesen auf die Ergänzung und Korrektur der Freunde und Weggefährten, die ganz „in der Welt“ und nah dran an ihren Früchten leben und arbeiten.

Miteinander fragen wir, wie man in dieser verrückten Welt überhaupt noch als Christ leben kann! Wir suchen miteinander nach Wegen in eine lebenswerte Zukunft, wie letztens zum Beispiel in der FSJ-Themenwerkstatt zur Kontroverse um das bedingungslose Grundeinkommen (Danke, Silas!).

Das Zukünftige ist schon gegenwärtig. „Tomorrow – Die Welt ist voller Lösungen“, so der Titel einer Doku. Ja, genau! Es braucht nur einen gezielten Schnitt.

Vielleicht werde ich doch bald eine Fortbildung beantragen: zur Maulbeerfeigenzüchterin!

 

Anmerkungen:
1 OJC-Kommunität: Wie Gefährten leben, Eine Grammatik der Gemeinschaft, Leitbild der OJC, I. Auftrag, Fontis-Verlag 2013
2 „Nichts, was wir in unserem Leben zustande bringen, ist die Anstrengung wirklich wert; nur die Hoffnung kann uns retten. Nichts Wahres, Schönes oder Gutes macht in der Geschichte einen Sinn; nur der Glaube kann uns retten.“ Reinhold Niebuhr; Wie die Iren die Zivilisation retteten, Thomas Cahill, btb 1998
3 https://www.bibelwissenschaft.de/wibilex/das-bibellexikon/lexikon/sachwort/anzeigen/details/sykomore/ch/a5ea688f9393004b111f44b093fa795f/
4 Joseph Ratzinger: Unterwegs zu Jesus Christus, St. Ulrich Verlag 2005, S.45
5 Ratzinger a.a.O. S.46
6 „Nichts, was wir tun, wie tugendhaft es auch sei, wird von uns allein vollendet; nur die Liebe kann uns retten.“ R. Niebuhr, s.o.
7 Markus Müller; Christsein in unsicherer Zeit; EINS, Das Magazin der Evangelischen Allianz in Deutschland, Heft 3/2022
8 „Keine tugendhafte Handlung ist vom Standpunkt unseres Freundes oder Feindes noch genauso tugendhaft wie von unserem Standpunkt aus. Deshalb müssen wir durch die endgültige Form der Liebe, die Vergebung, gerettet werden.“ Reinhold Niebuhr, The Irony of American History
9 Wie Gefährten leben, a.a.O.
10 Ratzinger a.a.O. S.49

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1 Kommentar. Hinterlasse eine Antwort

  • Markus Müller
    20. September 2023 10:55

    Ich finde es wunderbar, wie Ihr als OJC nicht einfach auf der manchmal auch christlichen Welle der Negativität mitreitet. Es gibt die konstruktive Realität (eben nicht nur die destruktive), und die Welt ist voller Lösungen, auch wenn das Zerstörerische ins Auge springt. Dreh- und Angelpunkt einer neuen Welt wird die Hoffnung sein. die einzige Frage: Wie pflegen wir den Garten der Hoffnung? Danke für alles Vor-Denken! Viel Segen darin!

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