Im Dschungel der Meinungen

Einen Weg zum Anderen bahnen

Gespräch mit Hanna N., Helen S., Silas W.r, Jens G. und Gerlind Ammon-Schad

Gerlind: Wir alle haben länger oder kürzer miteinander in der OJC in Reichelsheim gelebt. In der Redaktion war uns wichtig, eure Stimme einzubringen. Wie nehmt ihr in eurer Community die Stimmung um den Konflikt in Israel wahr?

Silas: In meinem Alltag erlebe ich zum einen das studentisch-christliche Umfeld, bei Campus Connect und in meiner WG. Hier dominiert die Israel unterstützende Haltung. Als Christen haben wir einen Zugang zum Judentum, der unseren Blick beeinflusst. Manchmal erlebe ich das allerdings auch als wenig reflektiert. Unter den Politikwissenschaftlern spielt der religiöse Aspekt gar keine Rolle. Israel ist einfach ein Staat, der Konflikt ein politisches Ereignis, das man möglichst analytisch betrachten soll. Es wird viel Wert darauf gelegt, dass man differenziert, dass die Opfer zur Sprache kommen und man sich die einzelnen Schicksale anschaut.

Ist das für dich ein Spannungsfeld?

Silas: Die beiden Positionen müssen sich gar nicht so sehr widersprechen. Mir liegt grundsätzlich der analytische Blick näher. In den Diskussionen höre ich von meinen Kommilitonen keine antisemitischen Äußerungen. Und ich selbst kann gut zum Ausdruck bringen, dass ich mich den Juden verpflichtet fühle. Bei den israelfeindlichen Statements von Fridays for Future allerdings wurde deutlich, dass ein stereotypisches Denken auch in der jungen Community noch vorhanden ist.

Hanna, du hast einen besonderen Zugang zu Israel…

Hanna: Während meines FSJ bei der OJC waren Nachfahren der aus Reichelsheim vertriebenen und ermordeten Juden zu Gast. Was sie erzählt haben, hat mich sehr berührt, und ich bin seither mehrfach nach Israel gereist und habe dort Beziehungen geknüpft. Durch diese Freunde ist mir der Terrorangriff sehr nahegekommen.

Was hörst du von ihnen?

Hanna: Vor allem die tiefe Sorge, dass falsche Informationen über den Krieg verbreitet werden. Ich erlebe ein großes Bestreben, authentisch von dem zu berichten, was die Menschen in Israel erleben.

Wie wird in deinem Arbeits- oder Gemeindeumfeld darüber gesprochen?

Hanna: Tatsächlich gar nicht so viel. Ich erlebe eine eher positive, Israel unterstützende Haltung. Zwei Freunde haben auf einen Whatsapp-Post von mir hin kritische Fragen gestellt. Ich war sehr klar in meiner Position, und das hat wohl provoziert. Da kam dann die Aussage: Israel begeht ein Kriegsverbrechen.

Helen, was erlebst du in Amsterdam?

Helen: Unter Christen erlebe ich einerseits eine starke Israelverbundenheit, aber gleichzeitig auch Angst davor, Kritik an Israel zu üben. Viele sind nicht einverstanden mit Vorgehensweisen der Regierung, auch in der Vergangenheit, wissen aber nicht, wie sie das ausdrücken sollen. Das führt zu einer Unbeweglichkeit, einer Art Neutralität, die lähmend wirkt. Auf Amsterdams Straßen sieht man viele Plakate mit pro-palästinensischen Aussagen.

Sind denn israelkritische Fragen per se antisemitisch? Das ist ja schwierig, denn oft wird nicht unterschieden zwischen Kritik an der Politik Israels vor dem Hintergrund einer grundsätzlichen Bejahung des Staates Israel und einer Kritik, die den Staat als solchen in Frage stellt. Ohne diese Unterscheidung gerät allerdings jedes Gespräch in eine bedenkliche Schräglage.

Hanna: Ich merke, dass Kritik an Israel schnell laut wird, aber wenn ich mich zu Israel stelle, werde ich für meine „unreflektierte Pro-Israelhaltung“ kritisiert. Es reicht in diesem Konflikt nicht, einfach aus dem Bauch heraus etwas zu sagen. Es ist wichtig, gut informiert zu sein und die eigene Meinung zu reflektieren. Genau das aber ist schwierig, denn schlussendlich ist keiner von uns vor Ort. Mich hat ein Video aus Israel sehr bewegt, in dem die Frau eines Soldaten sagt, dass sie aus Deutschland eine eher neutrale Haltung mitbekommt und dass sie dafür kein Verständnis hat, weil man in diesem Konflikt nicht neutral bleiben könne.

Silas: Mir fällt es in meinem Umfeld nicht schwer, darüber zu reden. Darum geht es ja im Studium: Konflikte genau unter die Lupe zu nehmen. Da wird auch mit harten Bandagen diskutiert. Ich habe nicht das Gefühl, für eine eher pro-israelische Haltung gecancelt zu werden. Andererseits muss ich auch nicht unreflektiert jede politische Handlung Israels verteidigen. Für mich ist auf der Grundlage einer guten Analyse beides legitim: eindeutig zu benennen, dass Israel nicht der Aggressor in diesem Krieg ist und damit die „pro Hamas Statements“ als antisemitisch zu bezeichnen, aber auch klare Kritik an der israelischen Realpolitik zu üben. Hanna, zu diesem Video, das du gesehen hast: Von den Deutschen wird aufgrund der Geschichte eine eindeutige Haltung pro Israel gefordert, andererseits aber aufgrund derselben Geschichte eine eindeutige Haltung gegen Krieg und autoritäre Strömungen. Und du hast recht: Neutralität geht gar nicht. Ich würde mir da eindeutigere Solidaritätszeichen wünschen. Ganz schwierig wird es, wenn pro Israel mit antimuslimisch, anti-palästinensisch oder Ausländerfeindlichkeit einhergeht. Da wird der mangelhaft aufgearbeitete Antisemitismus unter den Deutschen schnell auf die zugewanderten Muslime geschoben.

Helen: Das Thema ist so komplex, dass es mir schwerfällt, den Durchblick zu behalten und mir eine Meinung zu bilden. Ich frage mich, inwieweit man zum Beispiel die Siedlungspolitik in dem aktuellen Konflikt ins Spiel bringen kann oder ob das nicht die Ebenen vermischt. Und ich finde es auch schwer, sich gründlich zu informieren und gleichzeitig die politische und auch geistliche Dimension zu verstehen.

Es gibt einfach mehrere Ebenen. Die politische: Israel als demokratischer Staat, die geistliche: Israel als Volk Gottes, und die dritte Ebene ist unsere Verantwortung als Deutsche vor unserer Geschichte. Wir hatten schon das Thema Information. Wie und wo informiert ihr euch? Was sind eure Quellen?

Hanna: Ich bin in zwei WhatsApp-Gruppen. Das sind Menschen, die sich ausführlich in die Thematik einlesen oder direkten Kontakt mit Israelis haben. Außerdem lese ich die Informationen von CSI (Christen an der Seite Israels) und informiere mich aus Tageszeitungen.

Silas: Ich schaue bei Medien darauf, welche am wenigsten emotionalisieren. Wer hat einen eher nüchternen Blick? Ich bin tatsächlich ein Verfechter der Öffentlich-Rechtlichen. Ich höre sehr viel Deutschlandfunk, da gibt es oft sehr interessante Hintergrundreportagen, die auch Religion und Kultur beleuchten.

Helen: Ich halte mich auch an Tagesschau usw. Wenn es eher um den geistlichen Hintergrund geht, höre ich verschiedene Pastoren oder Redner, zum Beispiel
Johannes Hartl.

Silas: In Diskussionen kommt oft heraus, dass die wenigsten informiert sind. Man kann sich ja einfach mal einen Wikipedia-Artikel zum Nahen Osten durchlesen. Mit Fakten und einer historischen Perspektive kann man in der Diskussion etwas beitragen. Das sind ja Tatsachen, da muss man noch gar keine theologischen Argumente anführen. Information wirkt der Polarisierung entgegen.

Jens: Bei Arte habe ich schon aufschlussreiche Dokus gesehen. Ich habe aber auch einen palästinensischen Freund und einen Bekannten mit Angehörigen im Gazastreifen. Die Videos, die sie teilen, irritieren mich schon und bringen mich ins Nachdenken. Da wird sehr viel Leid gezeigt, und damit soll der Hass auf palästinensischer Seite gerechtfertigt werden.

Hanna: Aus meinen Quellen weiß ich, dass viele dieser Videos nicht der Wahrheit entsprechen, sondern der Propaganda dienen. Das Leid der Zivilbevölkerung im Gazastreifen ist unbestreitbar schrecklich, aber noch schlimmer finde ich die Instrumentalisierung durch die Hamas.

Jens: Mir hat in der medialen Darstellung lange die tatsächliche Wahrheit über den Terrorangriff gefehlt. Er war zwar tagelang in den Medien, aber die realen Taten der Hamas habe ich zum Beispiel aus einem Beitrag von Johannes Hartl erfahren. Es hätte mir geholfen, das von Anfang an gewusst zu haben.

Silas: Aber das war doch da, und ist es bis heute. Jeder Bericht über den Konflikt wird kontextualisiert und mit einem Satz eingeleitet: Nach dem Terrorangriff der Hamas auf Israel…

Jens: Ich habe ein langsames Kippen wahrgenommen. Das Grauen war relativ schnell vergessen und bald ging es mehr um die palästinensischen Opfer.
Die Sachlichkeit spricht eigentlich für unsere öffentlich-rechtlichen Medien. Aber dadurch bekommen die emotionalen, aufwühlenden Bilder anderer Beiträge im Netz mehr Gewicht.

Hanna: Wenn Israel an die Einhaltung der Menschenrechte gemahnt wird, frage ich mich, wie sie das in dieser Situation machen sollen? Wenn der Gegner menschenverachtend agiert und die eigene Bevölkerung ausliefert?

Wir kommen jetzt unweigerlich auf Realpolitik zu sprechen – lasst uns bei den Ausgangsfragen bleiben. Zum Abschluss noch eine letzte Frage: Was seht ihr als eure Verantwortung in der Kommunikation rund um den Israel-Palästina-Konflikt?

Jens: Ich überlege sorgfältig, was ich poste. Ich habe vor Wochen ein eindeutiges, Israel unterstützendes Statement gepostet und dadurch gleich eine Tür zugeschlagen. Die Diskussion mit meinem palästinensischen Freund war beendet, bevor sie überhaupt begonnen hatte. Ich würde heute posten, dass ich mich an die Seite der Opfer dieses Krieges stelle. Das hätte nicht polarisiert, sondern einen Gesprächsraum eröffnet. Ich möchte Israel unterstützen, aber die Opfer auf beiden Seiten im Blick behalten.

Hanna: Das stimmt, aber ich finde es wichtig, Stellung zu beziehen für meine Freunde und Geschwister in Israel und zu versuchen, soweit es mir möglich ist, gesicherte Informationen weiterzugeben, Lügen oder verdrehte Bilder hingegen zu entlarven.

Silas: Wir sind ja selber nicht die Betroffenen. Die Menschen, die das erleben, nehmen es anders wahr. Sie denken und fühlen anders, als es unserem Wunsch nach eindeutiger Positionierung entspricht. Ich möchte ein Gespür dafür behalten und sensibel bleiben, um nicht in eine Besserwisserhaltung zu verfallen.

Helen: Mir ist deutlich geworden, wie wichtig Information ist. Das ist eine große Verantwortung: Wie informiere ich mich, wem glaube ich?

Das entscheidet darüber, ob die Tür zum anderen offen bleibt. Wir haben keinen Einfluss über das Gespräch zwischen den betroffenen Konfliktparteien vor Ort, aber in unserem Umfeld haben wir eine Verantwortung. Das finde ich schwierig, weil es von mir Mut und auch Aufwand erfordert, aber es geht immer darum, miteinander im Gespräch zu bleiben. Wie kann man das Unfassbare in Worte fassen?
Danke für diese Runde!

Dieses Gespräch wurde per Zoom im Dezember 2023 geführt.

Hanna N. arbeitet als Ergotherapeutin in einer Frühförderstelle in Senden. Außerdem engagiert sie sich noch bei den Rangern in ihrer Gemeinde.

Helen S. studiert Ergotherapie und macht gerade ein Auslandssemester in Amsterdam. Sie hat sich dort einer anglikanischen Gemeinde und einer SMD-Gruppe angeschlossen.

Silas W. studiert in Heidelberg Politikwissenschaften und Philosophie und lebt mit anderen Christen in einer WG.

Jens G. arbeitet als Physiotherapeut in Wiesbaden und engagiert sich in der Gemeinde. Er kam später direkt von seiner Arbeit zum Gespräch hinzu.

Salzkorn 1 / 2024: Brennglas Israel
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