Ihr seid ein Geschenk für uns!

Sieben Holocaust-Überlebende zu Gast bei der OJC

Michael Wolf und Írisz Sipos  Mein Name ist Bat-Ami Halperin, ich bin 88 Jahre alt und 1931 in Polen ge­boren. ­Meine Schwester und ich haben als ­einzige in unserer Familie den Holocaust überlebt – weil wir blond und blauäugig ­waren. Unser Vater hatte uns für viel Geld bei polnischen Bauern untergebracht, damit wenigsten zwei seiner sechs Kinder durchkommen. „Ihr müsst überleben!“, schärfte er uns ein. „Bleibt eurem jüdischen Glauben treu und, wenn die Gefahr vorbei ist, erzählt allen, was man unserem Volk angetan hat.“ Damals war ich zwölf Jahre alt. Weil es für die polnische Bauern­familie schließlich zu gefährlich wurde, habe ich sie verlassen und musste mich allein in abgelegenen Dörfern und Wäldern verstecken. Dabei war ich oft in großer Gefahr. Aber die Worte meines Vaters haben mich ein Leben lang begleitet. Zum Zeichen dafür trage ich den Namen Bat-Ami – „Tochter meines Volkes“.

Die kleine Dame, die dies berichtete, sprühte vor Lebensenergie. Sie war mit sechs anderen Shoah-

Überlebenden der Einladung der OJC gefolgt, um fünf Tage in Reichelsheim und drei Tage in Berlin mit uns zu verbringen. Alle sind sie Zeitzeugen der Judenverfolgung während des Dritten Reiches und haben ähnlich prägende und bewegende Erfahrungen gemacht. Ihre Berichte waren voller persön­licher Erinnerungen und deswegen so berührend.

Wie der Bericht von Eva Glatter (geb. 1941), deren Vater bereits während des ­Pogroms von Iași, Rumänien umgekommen war, bevor sie geboren wurde. Diesem Pogrom ­waren mehr als 10.000 Juden zum Opfer gefallen. Niemand konnte das klammernde, schreiende Mädchen von der Mutter trennen, als diese zur Zwangsarbeit beordert wurde. So schuftete die junge Frau mit dem Kind auf dem Arm, während sie um ihrer beider Leben fürchtete.

Oder Aharon Shmilowitz (geb. 1934), ­dessen Vater nicht bei der Familie sein konnte, weil er interniert war, als der Achtjährige mit der Mutter aus ihrer Wohnung vertrieben wurde. Er erinnert sich, dass ihm bei kleinen Besorgungen in der Stadt Jugendbanden nachstellten und ihn verprügelten, weil er einen gelben Stern trug.

Auf Initiative unseres langjährigen israelischen Freundes Ilan Brunner (geb. 1934) waren sieben bei Tel Aviv lebende Über­lebende des Genozid nach Reichelsheim ­gekommen, um die Erinnerung an das schreckliche Geschehen wachzuhalten und die Bereitschaft zur Versöhnung zu dokumentieren.

Sie stammen aus Rumänien und Polen, wo ihre Familien dem Wüten der SS und der Nazi-Kollaborateure ausgeliefert waren. Alle haben als Kinder und Jugendliche viele, wenn nicht alle Verwandten verloren und selbst nur wie durch ein Wunder überlebt. Wir möchten ihre Namen an dieser Stelle nennen, weil das für jüdische Menschen von ­großer Bedeutung ist. Neta Leibowich (geboren 1937 in Rumänien), Harieta Berkowitz (1940, Rumänien), Ilan Brunner (1934, Tschechoslowakei), Bat-Ami Halperin, (1931, Polen), Eva Glatter (1941, Rumänien), Aharon Shmilowitz (1934, Rumänien), ­Dvorah Ochert, (1934, England).

Ilan Brunner wurde als Fünfjähriger nach dem Einmarsch der Wehrmacht in Prag mit seinem älteren Bruder von den Eltern in einen der sog. „Kindertransporte” nach England gesetzt. Die Familie entkam so der Verfolgung und fand erst nach dem Krieg im jungen Staat Israel wieder zusammen. Den Dialog mit der Nachkriegsgeneration in Deutschland pflegte Brunner schon während seiner Tätigkeit als Pressesprecher der Armee.

Seit gut 20 Jahren organisiert er ehrenamtlich Begegnungen zwischen jungen Deutschen und Israelis, die durch Terrorangriffe verletzt wurden, bzw. mit israelischen Eltern, die ein wehrpflichtiges Kind durch Terrorangriffe verloren haben. Für sein Engagement im Projekt „Disraelis = Disabled ­Israelis” wurde er 2014 mit dem Bundesverdienstkreuz und im gleichen Jahr mit dem ojcos-Stiftungspreis in ­Reichelsheim ausgezeichnet.

Höhepunkte der Begegnung waren ein Erzählabend bei der OJC und das Treffen mit Schülern und Schülerinnen der Sekundarstufe an der Georg-­August-Zinn-Schule (GAZ) in Reichelsheim. „Diese Begegnung bietet die einzigartige Gelegenheit, Berichte von Zeitzeugen zu hören”, begrüßte Dr. Dirk Strohmenger, Leiter der Fachschaft Geschichte an der GAZ, Gäste und Teilnehmer. Die gut vorbereiteten Schüler nutzten die Möglichkeit zum Austausch mit den Gästen und wollten genau wissen, wie es sich anfühlte, in dieser schlimmen Zeit Kind zu sein, Lebensangst zu haben, die Trennung von den Eltern zu verwinden, durchzukommen „Haben Sie Menschen sterben sehen?”, – „Können Sie den Deutschen vergeben?”, – „Woher nehmen Sie die Kraft, die Hand zur Versöhnung auszustrecken?” – so lauten Fragen aus den Reihen der Jugendlichen, die sich im Unterricht ausgiebig mit dem Dritten Reich befasst haben.

Die Gäste haben es sich und den Schülern mit den Antworten nicht leicht gemacht. „Ich beobachte mit Besorgnis den neu aufkeimenden Antisemitismus und den Terror in Deutschland und in der EU”, beklagte etwa Ilan Brunner. „Synagogen werden überfallen, Friedhöfe geschändet und Juden auf offener Straße angegriffen. Hat man vergessen, wo die Gewalt durch Radikale und das Wegschauen der Vielen hinführt? Wir sind hier, um daran zu erinnern.”

„Ihr seid die Zukunft”, betonte Neta Leibowich, die als Vierjährige mit den Eltern aus ihrem Haus vertrieben wurde. Lange Zeit ­waren sie auf der Flucht, während der ihr ­Vater von der Mutter und den Kindern getrennt wurde. Als er schließlich zurück zu ihnen fand, starb er an den Folgen von Strapazen und Krankheit im Jahr 1944. „Wir glauben daran, dass es eure Generation besser macht, weil ihr die Spirale von Hass und Gewalt durchschaut und gegen den Antisemitismus aufsteht. Es liegt an euch, dass so etwas nie wieder passiert.“

Und Harieta Berkowitz, die ebenfalls in Iaşi in Rumänien geboren ist, ergänzt: „Für die Vergangenheit trifft euch keine Schuld, aber ihr seid für die Zukunft verantwortlich.“

Nach ihrem Leben in Israel gefragt berichteten ­alle voller Stolz von ihren Familien, die für sie das wichtigste ist, von der Freude, Kinder und Enkel aufwachsen zu sehen, und wie froh und dankbar sie sind, als Juden im Land Israel zu leben. Dort ­haben sie eine Heimat für ihr Alter und wissen sich trotz ­aller Anfeindungen geschützt und sicher. Angesichts der schweren Erfahrungen in ihren Herkunftsländern wurde ihr Bekenntnis zum Leben in Israel für das junge Publikum verständlich. Aharon Shmilowitz fasste seinen Eindruck vom Besuch in der Schule so zusammen: „Ich habe in den Gesichtern der Schüler gesehen, dass sie jedes unserer Worte verstanden und aufgenommen haben. Das ist mir eine große Freude.“

Trotz der Schatten der schweren Vergangenheit waren die gemeinsamen Tage mit den Gästen voller Freundlichkeit, Fröhlichkeit und Aufgeschlossenheit. Die alten Herrschaften interessierten sich sehr für die Freiwilligen der OJC-Jahresmannschaft und staunten über deren ehrliches Interesse an ­ihrer Geschichte. Auch die jungen Deutschen waren von der erstmaligen Begegnung mit Zeitzeugen des ­Holocaust beeindruckt. Als sie von den Gästen gefragt wurde, was sie an dem Thema beschäftigt, antwortete eine junge Frau, sie wolle mehr über die Vergangenheit wissen, um für ihre eigene Zukunft daraus zu lernen. Ihre Großmutter, die die Nazizeit in Deutschland erlebt hat, habe nie auf ihre Fragen geantwortet.

Altbürgermeister Gerd Lode, der sich viele Jahre für die Begegnung mit Reichelsheimer Juden und ihren Nachkommen eingesetzt und die deutsch-jüdischen Versöhnungsprojekte der OJC aktiv unterstützt hat, führte die Gruppe zu den jüdischen Stätten des Ortes, zur Gedenktafel an der ehemaligen Synagoge, zu den Stolpersteinen vor den ehemals jüdischen Häusern, zeigte, wo früher das Judenbad war, den jüdischen Friedhof, und das Heimatmuseum.

Uns alle berührte die große Lebensfreude der ­Gäste und die Offenheit, mit der sie uns befragten, mit uns sangen und am Freitagabend den Shabbat begrüßten. Nach dem Lied der OJC-Kinder: „Lachaim, auf das Leben“, dem guten Essen, dem fröhlichen ­Musizieren und Erzählen einiger Witze meinte ­eine Teilnehmerin: „Solch einen schönen Schabbes ­habe ich schon lange nicht mehr erlebt!“

Die Auseinandersetzung mit der schweren Vergangenheit hatte auch ihre Grenzen. Unser Spaziergang in den abschließenden Tagen in Berlin führte vom Kanzleramt über den Reichstag zum Brandenburger Tor. Unterwegs wurde das neue Denkmal für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und ­Roma Europas interessiert und eingehend besichtigt. Der Gang zum Holocaustdenkmal war dann doch zu schwer. Am folgenden Tag wollte nur die Hälfte der Gruppe ins jüdische Museum in Berlin, während die anderen einen Besuch von Schloss Charlottenburg mit dem Porzellankabinett vorzogen. Es war bewegend, welche Bedeutung Schönheit, Kunst und Kultur für unsere Besucher haben.

Ein OJC-Mitarbeiter fasste den Ertrag der Begegnung so zusammen: „Der Antisemitismus ist häufig theoretisch. Jetzt hat die Geschichte und das Er­gehen der Juden durch euch ein Gesicht bekommen.“ Und ein Freiwilliger: „Ihr seid trotz eurer Lebensgeschichte so fröhlich, ihr singt und lacht. So seid ihr ein großes Geschenk für uns!“

Wir sind unseren Gästen dankbar, dass sie die ­Mühe der Reise nicht gescheut haben und wurden im Vorhaben bestärkt, uns weiterhin für die Begegnung mit Zeitzeugen einzusetzen, um die Erinnerung wach zu halten, Versöhnung zu ermöglichen und aufzuklären, damit solchen Verbrechen in Zukunft gewehrt wird. Wenn es Ihnen, liebe Freunde, möglich ist, uns darin zu unterstützen, freuen wir uns über einen Beitrag zu den noch nicht vollständig gedeckten Ausgaben für die Tage mit den Holocaustüberlebenden.   

Salzkorn 2 / 2019: Kein Signal?!
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