Ich bin / habe viel angestoßen – Was mich Verschiedenheit gelehrt hat

Susanna Bitterolf – Wenn ich mir Fotos von meinem Jahr in der OJC angucke, werde ich wehmütig. Was für eine intensive Zeit voller Erfahrungen, aufregender Erlebnisse und eindrücklicher Begegnungen! Ich bin dankbar, dass ich mich darauf eingelassen habe und merke, dass ich in meinem Alltag davon profitiere. Das Zusammen­leben mit so unterschiedlichen Menschen war bereichernd und herausfordernd. In unserer Dreier-Mädels-WG teilten wir unsere Zimmer, Launen, Geschmäcker und den Haushalt. Mit unseren Arbeitsanleitern, Hauseltern und WG-Begleitern bekamen wir Menschen an die Seite, die uns aufnahmen, ins Herz schlossen, aber auch Erwartungen an uns hatten. Schon nach kurzer Zeit fühlte ich mich Zuhause. Es machte Spaß, unsere Wohnung einzurichten, selbstständig zu werden und zu merken, wie wir zusammenwachsen. Wir verbrachten viel Zeit in unserer WG, aßen zusammen und erzählten einander. Die OJC begeisterte mich und ich war stolz, Teil dieser großen Gemeinschaft zu sein. 

Im Laufe des Jahres nahm die Begeisterung nicht ab, doch ich erlebte auch Herausforderungen und Konflikte. Ich bin ein kreativer, aktiver, aber auch reflektierender Mensch und habe viel Freude daran, Ideen auszuarbeiten und umzusetzen. 

Deshalb ergriff ich oft die Initiative und versuchte, ­sowohl mein Jahresteam, meine WG als auch OJC-Mitarbeiter von meinen Vorhaben zu überzeugen. Ich plante Unternehmungen, lud Menschen zu uns ein, dachte mir Geburtstagsrituale und Streiche aus. Doch nicht immer stieß ich auf die erhoffte Begeisterung, hatte oft den Eindruck, dass die anderen nicht so mitzogen, wie ich es mir gewünscht hätte. Ziemlich schnell hatte ich die Rolle der Initiatorin und Zuständigen. Ich hatte den Eindruck, dass von mir Zuverlässigkeit und Energie erwartet wurden, gleichzeitig meinte ich, keine Schwäche zeigen zu dürfen. Das strengte mich unheimlich an, aber es fiel mir auch schwer, Aufgaben abzugeben. Mein Pflichtbewusstsein trug sicher dazu bei, dass ich immer wieder Dinge an mich zog, statt darauf zu vertrauen, dass der andere nach seinen Möglichkeiten sein Bestes geben würde. Ich musste schmerzlich lernen, Verantwortung abzugeben, statt zu jammern und die Dinge dann trotzdem zu machen, über Fehler hinwegzusehen und auch mal Aufgaben zurückzuweisen. Manchmal ist weniger mehr.

Auch mit meinen Arbeitsgebieten war ich nicht immer zufrieden. Anders als erhofft war ich hauptsächlich in der Hauswirtschaft eingesetzt. Das konnte ich bis zum Schluss nur schwer akzeptieren. Ich hatte viele Ideen, wie die Situation geändert werden und welche Aufgaben ich stattdessen übernehmen könnte. Mich langweilte die Eintönigkeit und ich sehnte mich nach Aufgaben, die mir sinnvoller und wertvoller schienen. Mein Herz hängt an der Arbeit mit Menschen, mit Kindern und Jugendlichen, und ich wusste schon, dass ich das einmal beruflich machen möchte. Ich wollte erprobte Abläufe aufbrechen, suchte immer wieder das Gespräch und Unterstützung für meine Vorhaben. Doch auch hier begegnete mir Zurückhaltung und Unverständnis. Trotz meiner Bemühungen veränderte sich in meinen Augen sehr wenig. ­Stattdessen habe ich lernen müssen, nicht immer zu leisten, sondern auch mal sein zu dürfen. Das war manchmal schmerzlich, aber durch diese Erfahrungen lernte ich, mit Enttäuschungen umzugehen. Sie haben mich dazu angehalten, mich mit mir selbst zu befassen und zu merken, was ich wirklich brauche und was mir guttut. Ich habe erfahren, dass man Situationen, die man nicht ändern kann, trotzdem aushalten und mit den Menschen verbunden bleiben kann. Immer wieder werde ich im Leben Ernüchterung erfahren, doch es ist wichtig, nicht zu fliehen, sondern Spannungen und Verschiedenheit zu akzeptieren. Manche Ideen konnte ich auch um­setzen und habe vielleicht das eine oder andere ins Rollen gebracht. Ich bereue es auf keinen Fall, Konflikten nicht aus dem Weg gegangen zu sein und Her­ausforderungen angenommen zu haben. ­Alle ­Kämpfe und aller Schmerz haben mich im Guten geprägt, und ich konnte in Frieden gehen. Sind das nicht auch Bewährungsproben unseres Glaubens und wichtige Schritte im Vertrauen auf Gott?! Ich lernte, mit ­allen Rückschlägen, Wünschen und Enttäuschungen zu ­Jesus zu kommen, überwog doch die Freude jeden Tag bei Weitem! Auf Gott allein möchte ich meine Hoffnung und mein Vertrauen setzen. Er kennt mich so gut! Auch in meinem Unialltag erlebe ich Enttäuschungen und Verletzungen. Sobald man mit anderen Menschen unterwegs ist und sie an sich ranlässt, ist das unausweichlich. Nun kann ich aber meine innersten Bedürfnisse und Gefühle besser verstehen und einschätzen und das Gespräch mit anderen suchen. Und ich versuche, Herausforderungen auch mal mit Humor zu begegnen und mir selbst und anderen immer wieder zu verzeihen. Gott macht es ja auch. 

Ich durfte mich in diesem Jahr ausprobieren, scheitern und wieder aufstehen. Mir wurde Verantwortung übertragen und Vertrauen geschenkt. Ich erfuhr persön­liche Begleitung und Gottes große Gnade, Liebe und Zuspruch. Rückblickend verstehe ich manches Verhalten, Entscheidungen und Situationen besser. Bei anderen Dingen habe ich meine Meinung beibehalten und hätte anders entschieden. Aber das ist okay so, ich bin ja immer noch ich, manchmal Andersdenkende und Anecker. Ich bin Gott und der OJC dankbar für das große Geschenk dieses Jahres. Danke für alles Schöne, Neue, Aufregende und Traurige. Danke für alle Gespräche, Erlebnisse, Erkenntnisse und Freundschaften.

Von Susanna Bitterolf

 

Salzkorn 1 / 2020: Selbst.bestimmt. Im Fadenkreuz der Identitätspolitik
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