Wie kommt das „Wir“ vom Fleck?

Entscheidungsfindung als Abenteuer

Leben heißt in Bewegung bleiben. Lebendig bleiben heißt, sich auf Neues einzulassen, Veränderung zu wagen und mutig Entscheidungen anzugehen. Entscheidungsprozesse sind – das gilt für persönliche wie für gemeinsame – sensible Vorgänge mit einer großen Spannweite von Vorstellungen, Gefühlen und Dynamiken. Auch in christlichen Werken – so erleben wir es bei uns – gab und gibt es stets beides: Wunsch und Frust. Frust etwa über Entscheidungsprozesse, die sich fruchtlos in Endlosdiskussionen, Fraktionen- und Lagerbildung verlieren und zu keinem Ende kommen. Oder umgekehrt, wenn sie „von oben“ getroffen wurden und man selbst sich nicht hinreichend miteinbezogen wähnt. Zugleich ist da der berechtigte Wunsch, sich bei Themen, die einem wichtig sind, einzubringen, bei nervigen oder komplizierten Sachverhalten hingegen, dass endlich „die Zuständigen“ eine Entscheidung treffen. Als Gemeinden, christliche Werke und geistliche Gemeinschaften stehen wir immer wieder vor der spannenden Herausforderung, auf Veränderungen um und unter uns zu reagieren. Es liegt an uns, sie anzupacken, wachstümlich und zukunftstauglich zu gestalten, damit wir nicht passiv von den Konsequenzen überrumpelt werden.

Doch wie?

Entscheidungsprozesse können sich unterschiedlich gestalten. Was für das Ganze förderlicher ist, eine zielorientierte, charismatische Leiterfigur bzw. Leitung, oder eine von der Basis her operierende, das kann je nach Charakter, Größe eines Werkes oder je nach Phase, in der es sich befindet, unterschiedlich sein. Heute ist man meist um breite Partizipation bemüht. Jedes System hat seine Vor- und Nachteile. Und jedes weckt andere Bedenken: Können wenige bei einer Entscheidung die Anliegen aller im Blick haben? Kommt man als Werk vom Fleck, wenn alle zu allem Stellung beziehen sollen? Und dann die Feinheiten: Wie gehen wir als geistliche Werke mit heiklen und grundlegenden Fragen um? Wie beschreiten wir einen Weg, in der neben den Sachfragen auch die Anliegen, Stärken oder Sorgen der unterschiedlichen Mitglieder hilfreich eingebunden sind? Vor allem aber: Wie schaffen wir einen Raum für den Heiligen Geist, der in solche Prozesse hineinreden möchte? Wie kommen wir von fruchtlosen und furchtbaren Diskussionen zu konstruktiven und nachhaltigen Entscheidungen?

Standortbestimmung

Veränderungen, die uns ein Umdenken abverlangen, sind vielfältig: rasantes Mitgliederwachstum oder schleichender Schwund; ein geistgewirkter Aufbruch oder der massive Spendeneinbruch; steigende Nachfrage oder Desinteresse am aktuellen Angebot; ­starke Verjüngung oder Überalterung der Mitarbeiter. Eine gründliche Bestandsaufnahme ist notwendig: Wo kommen wir her? Wo stehen wir als Werk? Welches Tun oder Lassen hat diese Situation herbeigeführt? Je nüchterner diese Bestandsaufnahme erfolgt und je radikaler der Status quo hinterfragt wird, desto wahrscheinlicher finden sich tragfähige Lösungen.

Den Versuchungen widerstehen

Das Unangenehme an Veränderungen ist, dass sie die gewohnte Ordnung in Frage stellen. Ordnung besteht, wo alles nach Plan läuft und wenig Unvorhersehbares oder gar Unbekanntes das vertraute Bild stört. Es irritiert uns, wenn Umstände oder Entscheidungen uns zwingen, einen solch geordneten Ort zu verlassen. Deshalb geraten wir – ob als Individuen oder als Gruppe – in Versuchung, vorschnell wieder eine Ordnung herstellen zu wollen, etwa durch

1)
Flucht nach vorne: Dazu gehört die Versuchung, schnelle und einfache Lösungen zu suchen. Das mag kurzfristig helfen, das Gefühl der Verunsiche­rung und Ohnmacht zu umgehen, löst aber die Probleme nicht und verhindert sogar lang­fristig vollmächtiges Wirken.

2)
Idealisierung des Früher: „Wenn wir es so machen wie früher, wird es wieder.“ Hier liegt die Versuchung darin, eine bewährte Phase oder den segensvollen Anfang auf das Heute zu projizieren. „Kopieren statt kapieren“, nannte das der Gründer der OJC, Horst-Klaus Hofmann. Zeiten, Menschen und Umstände ändern und wandeln sich, Werke müssen dies in der Art und Weise, wie sie ihre Vision vermitteln und ihren Auftrag umsetzen, adaptieren. Stefan Kiechle schreibt: „Wenn zum Gründungscharisma eines Ordens gehört, auf eine konkrete Not einer bestimmten Zeit eine konkrete Antwort zu geben, die sonst niemand gibt …, dann muss dieser Orden in eine Identitätskrise geraten, sobald in einer anderen Zeit diese Not nicht mehr besteht oder andere Helfer eine ebenso gute oder bessere Antwort auf die Not geben.“1

3)
Den Sündenbock suchen: Ein weiteres Ablenkungsmanöver ist das Verantwortlichmachen gewisser Umstände oder Personen für die Misere. Das entlastet insofern, als es die Verantwortung von einem selbst auf andere verlagert, es behebt aber nicht das Problem.

4)
Augen zu und durch: Die Krise aussitzen und hoffen, dass sie irgendwie oder durch irgend­jemanden von selbst verschwindet oder eine Lösung sich auftut.

Das Chaos zulassen

Zwischen den Polen von Ordnung und Chaos pulsiert das Leben und Wirken. Ordnung und Stabilität sind förderlich für den Auftrag. Wenn aber Selbsterhaltung und das Bedürfnis nach Sicherheit in einem Werk überhandnehmen, können sie starr werden und beginnen, sich um sich selbst zu drehen. Selbstbezogenheit, Angst vor Veränderung und das Festhalten an veralteten Strukturen und Methoden verhindern notwendige Wachstumsschritte und sind Inspirationskiller.

Es tut gut, bei grundlegenden Veränderungsprozessen ein „Chaos-Moment“ zuzulassen. Chaos stammt vom griechischen Verb chiano, was so viel wie klaffen oder gähnen heißt. In der Zeit zwischen der stabilen Vergangenheit und der verheißungsvollen Zukunft herrscht Ungewissheit. „Chaos ist das, was wir tun, wenn wir nicht wissen, was wir tun. Kurz, es ist der Ort, an dem wir endgültig den Durchblick verlieren.“2 Es fällt schwer, das zuzulassen, und doch kann solch ein Moment hilfreich sein, um wieder Gottes Blick auf das eigene Werk zu entdecken. „Chaos ist das große Ungestaltete, die bloße Möglichkeit, welcher der Gott der Genesis zu Anbeginn der Zeit eine Ordnung verlieh – und zwar allein durch sein Wort. Es ist dieselbe reine Möglichkeit, aus der wir, die wir nach seinem Bild geschaffen wurden, unser Leben gestalten, Augenblick für Augenblick. Chaos ist somit auch Freiheit, die große furchtbare Freiheit.“3 Das „Chaos“ zulassen heißt, eine Erneuerung zulassen, die durch den Heiligen Geist gewirkt ist. Chaos zulassen heißt, Gott die Möglichkeit geben, eine neue Ordnung, Erneuerung des Auftrages in Form und Inhalt zuzulassen. Das Chaos zulassen heißt, „out of the box“ zu denken, sich also außerhalb des Gewohnten und Bekannten zu bewegen.

Damit das kreative und nach neuen Lösungen ­stre­bende „Chaos“ fruchtbar werden kann, braucht es die Haltung der Kontingenz und Indifferenz. Kontingenz stammt vom lateinischen contingentia und bedeutet „Möglichkeit“. Eine solche Haltung ist offen für die Vision, dass ein Projekt, die Nutzung eines Gebäudes oder der missionarische Einsatz auch ganz anders sein kann. Es ist offen und lässt das Andere, sogar göttlich-innovativ Mögliche zu.

Das geistliche Pendant dazu ist die Haltung der Indifferenz. Darin bewegt man die verschiedenen Möglichkeiten „gleich-gültig“ vor Gott. In gleicher Gültigkeit fragt man IHN selbst, welche dieser Möglichkeiten dem Reich Gottes noch mehr dient und ihn noch mehr ehrt. Sie ist eine Haltung, in der um eine Entscheidung gerungen werden muss, die zu einem noch mehr an Glaube, Liebe und Hoffnung führt. Gleich-gültig hießt eben nicht „egal“, sondern es geht darum, sich frei zu machen von eigenen Festlegungen, Vorentscheidungen, Ängsten, Vorlieben und persönlichen Interessen. Die Voraussetzung dafür, dass Werke Werkzeuge Gottes bleiben, ist es, nach dem Willen Gottes zu fragen und darauf zu vertrauen, dass ER antworten wird. Die Haltung der Kontingenz öffnet Herz und Geist für die Möglichkeiten und die Indifferenz bewegt die Alternativen und erbittet Gottes Richtungsweisung. Beides ist fundamental für die vier Schritte, die wir als Gemeinschaft in weitreichenden und grundlegenden Fragen begehen, etwa beim Eintritt eines Assoziierten in die Kommunität, bei der Weiterentwicklung des Auftrages, bei Verkauf, Umwidmung oder Neubau einer Immobilie oder wenn wir schwierige Fragen im Leitungsgremium bewegen.

In vier Schritten nach vorne

  1. Information

Die Leitung verschafft sich einen Überblick und erläutert dem Gremium – das kann der Vorstand, die Ordens­gemeinschaft, ein Ausschuss, die Gemeinde sein – die Sachlage. Das beinhaltet die Darstellung der anstehenden Herausforderungen und die darin enthaltenen Chancen und Schwierigkeiten. Allen Beteiligten muss die konkrete Fragestellung vor Augen stehen und ob bzw. dass eine Entscheidung ansteht. Wenn die Leitung bereits eine bestimmte Richtung favorisiert, gilt es, diese vorzustellen und zu erläutern. Verständnisfragen werden sofort geklärt.

In der Regel öffnet man an dieser Stelle das Gespräch. Bei heiklen Themen entwickelt sich meist eine lebhafte bis hitzige Diskussion, in der die Wortstarken kräftig nachladen und die Wortkargen die Redesalven ertragen. Wenn es schlecht läuft, gehen alle am Ende der Veranstaltung frustriert nach Hause.

  1. Stille

Stattdessen hat es sich bewährt, alle in die Stille und in das Gebet zu entlassen. Jeder sollte seine Fragen zuerst vor Gott bringen, sie vor ihm bewegen und mit ihm darüber ins Gespräch kommen. Das kann, je nach Fragestellung und Problemlage, zehn Minuten bis zu einer Stunde brauchen. Still sein heißt, Gott zu bitten, einem in Worten, Eindrücken, Gefühlen, Bildern oder Gedanken Weisung zu geben. Es kann sein, dass einem schlagartig klar wird, was zu tun ist und wie der Weg aussieht. Ist man selbst unmittelbar betroffen, hilft es, die eigenen Gedanken und Gefühle anzuschauen und zu sortieren. So kann man unterscheiden, welcher Gedanken Unruhe oder Unfrieden hervorruft, bzw. bei welchem sich ein innerer Friede einstellt. Für die Rationalen hilft das Abwägen zwischen Für und Wider. Das höchste Maß an Indifferenz gewinnt man, wenn man die Fragestellung am Ende so bewegen kann, als würde sie einen nichts angehen.

  1. Austausch

Dreh- und Angelpunkt des Prozesses ist der Austausch, der ein Verheddern in Endlosdiskussionen deutlich reduziert: Reihum teilt jeder seine Gedanken aus der Stille mit4. Folgende Regeln haben sich bewährt: Der Berichtende bleibt bei sich und teilt seine Gedanken mit. Er bezieht sich nicht auf das Gesagte des Vorredners. Er philosophiert, theologisiert und belehrt nicht. Die anderen hören zu und versuchen zu verstehen, was Gott durch diese Person allen zu sagen haben könnte. Das Gesagte wird nicht kommentiert oder gar debattiert5. Der Gesprächsleiter achtet auf die Einhaltung dieser Regel und auf die vorab festgelegte Redezeit. Auch wenn diese Art des Anteilgebens ungewohnt ist oder als langwierig erscheint, sie führt in der Regel deutlich nachhaltiger zu einer gemeinsamen Entscheidung. Denn jeder kommt zu Wort und jeder legt seine Gedanken in die Mitte. Alle hören alle Möglichkeiten und Optionen. Die eigene Stimme in die Mitte geben heißt auch, sie „abgeben“, sie den anderen anver­trauen und damit indifferent werden. Ausgesprochenes: Gedanken, Wünsche, Freuden oder Ängste werden somit verhandelbar. Es stärkt das Vertrauen in der Gruppe, weil jeder gehört wurde. Jede Stimme ist gleich wichtig, wie es in der Benediktregel heißt: „Der Abt soll vor wichtigen Entscheidungen immer den Rat aller Mönche einholen. In der Versammlung sollen auch die jungen Mönche zu Wort kommen. Manchmal spricht der Geist gerade durch die Jüngsten.“ In dieser Form des Austausches kann schon eine Richtung zum Vorschein kommen. Dies gibt der Leitung ein zuverlässiges Stimmungsbild und kann für den nächsten Schritt sehr hilfreich sein.

  1. Gespräch und Diskussion

Wenn jetzt der Raum für Diskussion geöffnet wird, ist das Gespräch durch den vorangegangenen Austausch entlastet, weil jeder schon einmal jeden gehört hat. Jetzt dürfen auch die Fetzen fliegen, solange der Umgang miteinander respektvoll bleibt. Für die Leitung bietet das Gespräch eine Gelegenheit, weitere Knackpunkte, Missverständnisse und Unbedachtes ­in den weiteren Prozess mit einzubeziehen und beizeiten zu ­klären.

Eine weitere Runde drehen?

Nach einer ersten Runde zeichnet sich meist schon ­eine Richtung ab, die die Leitung aufgreift, prüft, weiterentwickelt und wieder in die Gemeinschaft hin­einbringt. Manchmal reicht eine Runde, manchmal müssen die vier Schritte mehrfach gegangen werden. So hat der Neubau unseres Mehrgenerationenhauses mehrere Runden gebraucht. Am Anfang des Prozesses waren ca. ein Drittel der Gefährten für den Bau, ein Drittel dagegen und ein weiteres Drittel hatte dazu keine Meinung. Am Ende des Weges konnten wir dankbar und einmütig eine Entscheidung treffen.

Festmachen

Wir können dankbar für jeden errungenen Konsens und eine Entscheidung in Einmütigkeit sein. Unsere Regel schreibt: „Es wird die größtmögliche Übereinstimmung gesucht. Wesentlich dabei sind der Dialog und die Vielstimmigkeit im Abwägen offener Fragen. Wird eine gemeinsame Entscheidung getroffen, so ist das sehr gut.“ In der Realität kann jeder Prozess im Dissens steckenbleiben oder eine Entscheidung muss getroffen werden, weil die Umstände es erfordern. In diesem Fall sieht unsere Regel vor: „Den Gefährten obliegt die Erörterung und Unterscheidung des Problems, dem Prior die Entscheidung.“ Hier braucht es Vertrauen auf beiden Seiten.

Veränderungen begleiten

Nach der Sondierung und der Konsolidierung kommt die Initialisierung. Wer soll beauftragt werden, das neue Projekt, die Vision umzusetzen? Wann starten wir als Werk durch und welche Fragen müssen wir außerdem berücksichtigen? Neben dem Anfeuern des Neuen braucht es auch die Begleitung im Loslassen und Raum, das zu betrauern, was an Bewährtem und Vertrautem um des Neuen willen weichen muss. „Veränderungen sind selten ein schmerzloser Prozess. Mit Veränderungen kommt Bewegung in ein System und Bewegung erzeugt Reibung. Reibung erzeugt Schmerz. Jede Veränderung bedarf Opfer und Anstrengung.“6 Reibung, Schmerz, Kosten und Opfer, die zu bringen sind, müssen benannt oder ausdrücklich wertgeschätzt werden, damit sie im Untergrund nicht weiter schwelen und die Erneuerung immer wieder in Frage stellen.

Feiern nicht vergessen

Wenn schon die Begleitung von Abbrüchen wichtig ist, so ist es noch wichtiger, Umbrüche und Neuaufbrüche bewusst zu gestalten und das Feiern nicht zu vergessen. Dank an Gott, Dank an die Mitarbeiter und ein fröhliches Fest vergewissern uns als würdiger und kraftvoller Auftakt in die Zukunft: Alleine geht es zwar schneller; gemeinsam kommt man aber weiter!             >>

 

Anmerkungen:
1 Stefan Kiechle, Erneuerung oder Neugründung, Mainz 2002, S. 88.
2 Jordan Peterson, 12 Rules for Life. Ordnung und Struktur in einer chaotischen Welt, München 2018, S. 91.
3 Jordan Peterson, ebd., S. 90.
4 Bei Gruppen bis 50 Personen funktioniert das Prinzip. Bei größeren lohnt es sich, kleinere Gruppen zu bilden.
5 Friederike Klenk, Die Perle im Gemurmel, Austausch – eine geistliche Übung, Salzkorn, Jubiläumsmagazin 2018, S. 46.
6 Krogerus, Mikael et al. The Chance Book – Fifty models to explain how things happen. Profile Books, S. 82.

Salzkorn 3 / 2019: Miteinander
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