Im digitalen Störfeuer

Unsere Sinne neu für Gottes Signale schärfen

Fortschritt oder Versklavung; neue Weltordnung, Turmbau zu Babel 2.0 oder doch gleich die digitale Apokalypse? Die Geister scheiden sich, und so zeichnen die Optimisten Hoffnungs- und die Pessimisten Horrorszenarien an die Wand. Fest steht, dass wohl kaum eine Entwicklung unser Menschsein so umkrempeln wird wie die rasant voranschreitende Digitalisierung. In einer Sache sind sich alle einig: Die Digitalisierung gehört zu der am meisten prägenden Signatur unserer Zeit. Uneinigkeit bleibt darüber, welche Frucht sie bringt – Segen oder Fluch. Wenn die Digitalisierung zur DNA unserer Zeit gehört, wie verändert sie unser geistig-geistliches Erbgut? Welchen Stempel drückt sie unserem Leben, Denken, Handeln und Glauben auf?

Lebensfresser

Die Digitalisierung durchzieht alle Sphären unseres Lebens. Ob angesagt, arm oder abergläubisch, so gut wie jeder füttert freiwillig und täglich seine Geräte mit Nachrichten, Nutzerdaten oder Nacktfotos. Mitteilungsfreudig teilen User ihre Sehnsüchte, Einstellungen, Probleme und Hoffnungen im Netz. Dabei leben Apps, facebook, Instagram und co. eben davon, dass wir ihnen möglichst viele Intimdetails und Aufmerksamkeit schenken. Dieses Phänomen wird in der Werbe- und Konsumentenpsychologie „Aufmerksamkeitsbindung“ genannt und hat mit der Digitalität neue Dimensionen erreicht. Wir sind längst nicht mehr nur Konsumenten der digitalen Dienste, sondern zu ihren Produkten mutiert. Diese Daten sind die neue Währung, das neue Gold unserer Zeit. Die Schürfrechte auf unsere Daten treten wir großzügig, freiwillig und ohne zu überlegen ab, in der Hoffnung, Annahme und Anteilnahme zu bekommen. Aber Experten warnen: Die Digitalisierung des Alltags konsumiert zunehmend unsere Arbeits-, Beziehungs- und Freizeit. Die Frage ist: Was macht es mit dem Menschen, wenn er nur noch im Netz lebt und nicht mehr sich selbst? Die Abkürzung AI  steht für „Artificial Intelligence“, sie steht aber auch für Alles und Instant. Die sofortige Kommunikation mit allen ist ein unglaubliches Stresspotenzial, denn was heißt es, im Netz authentisch zu sein? Geht es darum, möglichst im Einklang mit sich selbst zu sein, oder gilt es, eine größtmögliche Übereinstimmung mit den Erwartungen der Kommunikationspartner oder gar eines Publikums herzustellen? Einer Studie zufolge leiden 74% der Millennials (Geburtenjahrgang um die Jahrtausendwende) unter körperlichen und emotionalen Erschöpfungssymptomen1 . 24/7 online/vernetzt leben im Informations-Overload macht fertig. Der geistliche Experte aus der Wüste, man nannte ihn früher Prophet , würde uns wahrscheinlich zurufen: „Lasst nicht zu, dass es euren Glauben auffrisst. Was als neue Lebensqualität angepriesen wird, sind in Wirklichkeit Lebens- und Glaubensfresser!“

Daddeln statt Denken

Der Vergleich der digitalen Revolution mit den Auswirkungen des Buchdruckes zur Reformationszeit liegt nahe: Die Gedanken sind frei! Weder Diktatoren noch Denkverbote können sie dank der neuen Technik unterbinden. Daten kennen eben keine ideologischen und geografischen Grenzen. Kulturrevolutionen wie der Arabische Frühling vor neun Jahren oder die aktuelle Protestwelle im Sudan und in Algerien sind zweifelsohne Früchte der technischen Revolution. Gedanken aber folgen aus dem Denken. Denken braucht Zeit, Ruhe, Muße, Entschleunigung und unverzweckten Leerlauf – manchmal sogar eine konspirative Langeweile. Was passiert mit den Gedanken, wenn das Denken ständig unterbrochen wird? Das Digitale lädt zum zerbröselten Denken, zur Zerstreuung und zum Daddeln2  ein und belohnt den abgelenkten Geist mit einer Ausschüttung von Glückshormonen im Gehirn. Weniger problematisch ist die Zerstreuung im Sinne einer Erholung oder Entspannung nach dem Motto, mal abschalten, nichts denken müssen, den Alltag für eine kurze Zeit vergessen. Es sind die vielen digitalen Störfeuer (E-Mail, Kurznachrichten, soziale Medien, News, usw.), die eine tiefschürfende Reflexion verhindern und ein Verhalten der kurzfristigen Reflexe belohnen. Im zerstreuten Zustand richten wir unsere Gedanken nicht mehr auf eine Sache oder ein Thema. Wir denken die nötigen Fragen und Probleme nicht mehr zu Ende, und unsere Gedanken bekommen keine Richtung mehr. Statt in die Tiefe der Materie und des Denkens einzutauchen, lassen wir uns im Surfen an der Oberfläche erziehen. Über die Langzeitfolgen dieser Konditionierung wissen wir nichts Sicheres. Über eine zunehmende Verdummung oder „digitale Demenz“ schon mehr.

Mit Meinungen handeln

„So hoch wie der Stuttgarter Fernsehturm“ erklärte mir vor einigen Jahren ein Informatiker aus der Automobilbranche stolz, „wäre der Papierstapel, wenn man alleine die Programmierung für eine moderne Luxuskarosse auf A4-Blättern ausdrucken und aufstapeln würde“. Komplexität, Gleichzeitigkeit und Globalisierung beschreiben unsere beschleunigte Welt am treffendsten. Alles muss vernetzt, verfügbar und verfolgbar sein. Dankbar greifen wir auf Systeme zurück, die uns helfen, unsere hehren Ziele zu erreichen. Miteinander vernetzte Algorithmen, Unmengen an Daten/BIG-DATA und steigende Rechnerleistung helfen uns, mit den Informations-Tsunamis fertig zu werden und dem Kontrollverlust entgegen zu steuern. Der Journalist und Direktor eines britischen Thinktanks, Jamie Bartlett, fragt zurecht: „Was ist, wenn intelligente Maschinen, ausgerüstet mit Petabytes von Daten, in der Lage wären, durchgehend bessere, weisere und klügere Entscheidungen zu treffen als wir?“3  Was geschieht mit dem Menschen, wenn er zunehmend Entscheidungen outsourct? Gerade im politisch- gesellschaftlichen Bereich spielen Daten und Algorithmen eine immer bedeutendere Rolle. Schon heute lassen sich Menschen auf Websites ausrechnen, welche Partei sie wählen sollten. Warum nicht gleich eine App herunterladen, die unsere Ängste, Präferenzen und Werte kennenlernen darf, diese mit einer riesigen Datenwolke abgleicht und nicht nur eine Wahl vorschlägt, sondern gleich für uns wählt? Für einen Algorithmus reichen durchschnittlich zehn Likes bei facebook, um die politische Einstellung einer Person relativ präzise zu umreißen. Das Mikro-Targeting (d. h. eine auf die Person abgestimmte Nachricht) funktioniert nicht nur einwandfrei im Bereich des Marketings, sondern auch zunehmend im Bereich der Politik, Einflussnahme und Meinungsbildung. Der gläserne Mensch ist berechen-, manipulier- und steuerbar. Wem kann man noch vertrauen und wie ist das mit zuverlässigen Informationen? Was macht das mit dem Menschen, wenn er angesichts der zunehmenden Komplexität immer mehr Entscheidungspotenzial an eine künstliche Intelligenz abgibt? Welchen Stellenwert hat er dann noch in der Schöpfung, wenn es in Psalm 8 heißt: Du hast ihn zum Herrn gemacht über deiner Hände Werk, alles hast du unter seine Füße getan.  Ist die Gefahr nicht, dass er seinem eigenen Urteilsvermögen zunehmend misstraut? Was traut er sich dann überhaupt noch zu und wie kommt er zu guten Entscheidungen – auch in persönlichen Fragen? Vertraut er dem Orakel der KI mehr als etwa dem Rat eines guten Freundes oder gar Gottes?

Glaubenszerstreuung

Der Zukunftsroman „Ready Player One“ schreibt das Jahr 2044. Klimawandel, Kriege, Hungerkrisen machen das Leben schwer, die Realität unerträglich. Der einzige Ort, an dem man es noch aushalten kann, ist die virtuelle Utopie OASIS, in die sich die meisten Erdbewohner mithilfe einer global vernetzten Virtualität flüchten. In dieser Ersatzwelt kann man (fast) alles machen, was in der realen Welt möglich ist: Zur Schule gehen, einkaufen, sich verlieben, heiraten, sich scheiden lassen, usw. Was in dieser fiktionalen Erzählung thematisiert wird, ist die Verlagerung des Ichs in eine fremde Realität. Hierin liegt auch die größte Gefahr für den Glaubenden. Die Flucht vor der Wirklichkeit bedeutet auch immer eine Flucht vor sich selbst. Flucht vor sich selbst heißt auch Flucht vor Gott. Das haben die Wüstenväter existenziell erfahren. Zwischen dem 3. und 6. Jahrhundert suchten Männer und Frauen die Einsamkeit und Stille der Wüste auf, um für eine Zeit ohne Ablenkung die Nachfolge Christi als Lebenshaltung einzuüben. Dabei machten sie die radikale Erfahrung, dass keiner Gott erkennen kann, der sich selbst ausweicht. „Es gibt keine Gotteserkenntnis ohne Selbsterkenntnis“, bringt es der ägyptische Mönch und Einsiedler Abba Antonius  († 356 n. Chr.) auf den Punkt. Was macht das mit uns, wenn das Ich ständig im digitalen Nirwana herumschwirrt, aber nicht mehr bei sich selbst zuhause ist? Eine Antwort auf Dauerzerstreuung heißt, bewusst abschalten, sich Gott hinhalten und sich seiner geistlichen Urgenetik innewerden: Wir sind Ebenbilder Gottes, und am DU des ICH-Gottes bildet sich unser wahres, aufrichtiges und echtes Ich. Die alles entscheidende Frage wird sein: Wie halte ich die digitalen Störfeuer draußen und die Verbindung zu Gott aufrecht? Ein radikaler Gott fordert immer wieder auch radikale Entscheidungen. Radikale Auszeiten im Alltag, in der Woche, im Monat oder im Jahr setzen frei. Sie machen uns frei, auf die vertraute Stimme des Hirten zu hören. Wer auf Gott hört, zeigt auch wem er ge-hört  und auf wen er horcht, also wem er ge-horcht .

Ermahnung und Ermutigung

Die Digitalisierung schreitet unaufhaltsam voran. Ihre Auswirkungen fordern uns heraus. Die von ihr angepriesenen Vorteile und Erleichterungen im Alltag nehmen wir dankbar an. Wir verschließen aber nicht unsere Augen vor den beschriebenen Nachteilen und Gefahren für unsere Identität und Integrität, die allesamt nicht neu in der Menschheitsgeschichte sind, aber zunehmend augenfälliger werden. Das Böse ist nicht erst mit der Digitalisierung eingezogen, bedient aber mit der Technologie genau das, was uns von Beginn an ausmacht: die Bedürftigkeit und Anfälligkeit des Menschen. Jammern und verteufeln ist sinnlos, die Rückkehr zu einem „seligen“ Urzustand gibt es nicht – außer vielleicht für einzelne Aussteiger. Die Frage lautet daher vielmehr: Wie mit dieser prägenden Signatur unserer Zeit umgehen? Wie schärfen wir unsere Sinne dafür, wie diese neue digitale Ära auf unser Leben, Denken, Handeln und Glauben wirkt? Der Apostel Johannes schreibt: Wir wissen aber, dass der Sohn Gottes gekommen ist und uns Einsicht gegeben hat, damit wir den Wahrhaftigen erkennen. Kinder, hütet euch vor den Götzen  (1 Joh 5,20-21). Jesus ist gekommen, damit wir die Wahrheit und den Vater erkennen. Auch als Christen sind wir Teil der digitalen Kulturrevolution. Wir sind mit ihr gegangen, lernen mit ihr und binden sie als Instrument (leider noch zu wenig) im Reich Gottes ein. Doch an welchem Punkt vernebeln die Verlockungen die Nachfolge Christi? Ab wann nimmt das Digitale götzenähnliche Züge für uns an? Wie angesichts jeder gesellschaftlichen Entwicklung sollten wir uns von Paulus ins Stammbuch schreiben lassen, was Nachfolge heißt: Und gleicht euch nicht dieser Welt an, sondern lasst euch verwandeln durch die Erneuerung des Denkens, damit ihr prüfen und erkennen könnt, was der Wille Gottes ist  (Röm 12,2). Die Ermahnung, die Grenzen zu achten, und die Ermutigung, auf die unbegrenzten Möglichkeiten Gottes zu hoffen, gehören bei Paulus grundlegend zusammen. Nicht aus eigener Kraft, wohl aber aus „der Kraft der Barmherzigkeit Gottes“. Unter seinem Segen werden und bleiben wir mündige, aktive Protagonisten der Geschichte, die er mit uns schreibt.

Salzkorn 2 / 2019: Kein Signal?!
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