Empörung als Strategie – Die verborgene Geschichte der Identitätspolitik 

Denkraum

Wenn einer mit scharfem Blick und spitzer Feder die seltsamen Blüten jenes politischen Gewächses aufzuzeigen vermag, das der emanzipatorischen Idee der Selbstbehauptung entwachsen, sich zum Hauptstrang der Antidiskriminierungs-Bewegung auswuchs, um sich schließlich rankenartig um den Hals seiner Mündel zu winden, dann Frank Furedi. Der gebürtige Ungar und britische Bürger war als Kind vor den Kommunisten geflohen, wurde als Student Trotzki-Fan, übte sich als junger Ethnosoziologe in der Kolonialismuskritik. Heute gilt er dennoch als Gewährsmann der Konservativen, wenn es darum geht, post-marxistische Rechthabe­reien gegen den Strich zu bürsten. Und während unsere Kirchen sich in öffentlichen Fragen zunehmend mit humanitärem Moralismus bescheiden, verweist der bekennende Atheist und Huma­nist auf den zivilisatorischen Mehrwert religiöser Selbstvergewisserung und dogmatischer Authentizität. Weil uns sein freier Geist imponiert, und weil wir niemanden fanden, der das Phänomen gescheiter beschreibt, stellen wir seinen Artikel als Referenz an die Seite unserer Texte und empfehlen ihn als zur Debatte reizende Lektüre. (red)

 

Frank Furedi – Identitätspolitik bestimmt heute das öffentliche Leben im Westen. Viele halten die identitären Aktivisten des 21. Jahrhunderts einfach für die aktuelle Version derjenigen, die sich in den 1960er-Jahren für die Befreiung der Frau oder der Schwarzen engagiert haben. Diese Annahme übersieht jedoch, wie sehr sich Antrieb und Belange der Identitätspolitik seit ihrem Aufkommen im späten 18. Jahrhundert verändert haben. Konservative Bewegungen haben sie aufgenommen und sie wurde von Radikalen gefeiert. Sie schloss umfassende Identitäten wie die Nation oder das Volk ein und konzentrierte sich auf bestimmte Individuen. Und obwohl sie heute als linke Kraft angesehen wird, hat sie oft auch den Rechten ein politisches Narrativ zur Verfügung gestellt. Wer verstehen will, was die gegenwärtige Identitätspolitik einzigartig macht, kommt nicht umhin, sich mit ihrer Geschichte ausein­anderzusetzen. 

Phase 1: Aufstand gegen den Universalismus 

Im späten 18. Jahrhundert bezog die Politisierung der Identität ihre Kraft aus der konservativen Reaktion gegen den Universalismus der Aufklärung. Diese Gegenaufklärung verwarf die Idee menschlicher Universalität und behauptete, nur die Identität bestimmter Völker oder Gruppen sei von Bedeutung. 

In Deutschland betonte die ­romantisch-konservative Bewegung die Relevanz kultureller Unterschiede und sprach diesen größere Authentizität zu als den abstrak­ten Bindungen des Universalismus. Dem ­deutschen Philosophen Johann Gottfried Herder (1744-1803) zufolge definiere die Kultur jedes Volk – das Volk –, indem sie es mit seiner individuellen Identität und ­einem eigenen Geist ausstatte. 

Die Ablehnung universaler Werte und menschlicher Solidarität beschränkte sich nicht nur auf Deutschland. In Frankreich kamen ähnliche Empfindungen unter anti-aufklärerischen Identitätsdenkern auf. ­Joseph de Maistre, ein reaktionärer französischer Poli­tikphilosoph, verachtete die Ideale, die mit den Menschenrechten verbunden sind, als abstrakten Unsinn. Er erklärte, es gebe „den Menschen an sich nicht“. „Ich habe Franzosen, Italiener und Russen kennengelernt“, so de Maistre weiter, „aber was den Menschen betrifft, dem bin ich nie begegnet.“ 

Im 19. Jahrhundert betonte die romantische Sicht die Verschiedenheiten von Identität und feierte die Charak­teristika, die mit dem vermeintlich einzigartigen Geist der unterschiedlichen Völker verbunden sind. Ernest Renan, ein französischer Philosoph des 19. Jahrhunderts, drückte das so aus: „Die Nation ist eine Seele, ein spirituelles Prinzip.“ 

Die Auffassung, dass unterschiedliche Kulturen auf sich unterscheidenden Wegen zu Erkenntnis gelangen, ließ nationale Identitäten erstarren. Gleichzeitig fungierte das als kulturelle Vorstufe der Rassentypologien, die das westliche Denken im 19. und frühen 20. Jahrhundert prägten. Die Aufklärung hingegen stellte sich immer gegen die traditionelle Idee, dass durch Biologie und die natürliche Ordnung von Geburt an festgelegt ist, wer man ist. Die Denker der Aufklärung waren der Meinung, dass die Menschen sich selbst zu dem machen, was sie sind, indem sie Geschichte schreiben. Nur deshalb konnte die Aufklärung ein Bewusstsein entwickeln, das das Erleben bestimmter ­Individuen und individueller Gruppen überstieg. Wenn gegenwärtig das Streben nach Universalismus Zynismus hervorruft, wird leicht vergessen, dass grundlegende Prinzipien wie Gleichheit und Individual­rechte auf dieser Auffassung gründen. 

In der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen nahm der Fokus auf nationale Identität im Nationalsozialismus eine extreme Form an. Das führte dazu, dass man nun antiuniversalistische partikularistische Politik mit Rassismus und schlussendlich dem Holocaust assoziierte. So nimmt es nicht Wunder, dass rechte Identitätspolitik in die Defensive geriet und ihre Anhänger versuchten, ein moderateres Image aufzubauen. 

Phase 2: Neue soziale Bewegungen 

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde nationalistische Identitätspolitik marginalisiert. Bis zu deren Wiederbelebung dauerte es zwei weitere Jahrzehnte. Diesmal war es aber die Linke, die gruppenbezogene Identitäts­politik vorantrieb. Trotz des formellen Festhaltens an universalen Rechten tat sich die Linke immer schwer damit, sich ihnen in der Praxis konsequent zu verschreiben und einen umfassenden Begriff von Solidarität mit Bedeutung zu füllen. Insgesamt besehen fiel ihre Rolle bei der Unterstützung der Anti-Kolonialbewegung, beim Einsatz für die Gleichberechtigung der Frau oder beim Kampf gegen Rassismus allenfalls durchwachsen aus. Infolgedessen mussten die Befrei­ungsbewegungen der 1960er-Jahre eigene Strategien entwickeln, um ihre Ziele zu verwirklichen. In den USA kamen Teile der Bürgerrechtsbewegung zu dem Schluss, der richtige Weg läge in der Politisierung ­einer schwarzen Identität. Andere Bewegungen, die z. B. für die Freiheit von Frauen und Homosexuellen eintraten, wählten ähnliche Vorgehensweisen, um die Rechte und Freiheiten zu erlangen, die ihnen bislang verwehrt blieben. 

Allmählich wanderte der Fokus der Linken von der Klasse zur Identität. Für die Neue Linke der 1960er und 70er diente die Unterstützung von Befreiungsbewegungen der Dritten Welt als ausgewiesene Quelle radikaler Identität. Da es in ihren heimischen westlichen Gesellschaften an radikalen Impulsen mangelte, sah sich die Neue Linke gezwungen, nach Anliegen im Ausland Ausschau zu halten. In Frankreich identifizierte sie sich etwa deutlich stärker mit der chinesischen Kulturrevolution als mit gesellschaftlichen Kräften vor Ort. 

Diese Dritte-Welt-Fixierung vermengte sich mit der kulturfeindlichen Ablehnung des in westlichen Gesellschaften vorherrschenden Weltbildes. Daraus erwuchs allerdings nie eine systematische politische Existenz, die eine eigene Ideologie hätte hervorbringen oder dem Status quo eine ernsthafte Alternative entgegenstellen können – gar als eine von manchen befürchtete anti-parlamentarische Bewegung. Stattdessen förderte die Logik der Gegenkultur, wonach alles Persönliche politisch sei, die Identitätspolitik. Man wandte sich vom Kampf für die Massen ab und den Ein-Thema-Kampagnen zu!¹

Im Kern war die Hinwendung zur Identitätspolitik konservativer Natur, die das Besondere zelebrierte und dem Streben nach universellen Werten mit Misstrauen begegnete. Die Politik der Identität konzentrierte sich auf das Bewusstsein des Selbst und seine Wahrnehmung. Identitätspolitik war und ist die Politik des „Alles dreht sich um mich“. Auch wenn Selbstidentität in Gruppenform zum Ausdruck kommt, zielt sie doch auf die Anerkennung durch andere ab.² Wie der Historiker Tony Judt bemerkt, waren die Lehren über die Identitätspolitik eher psychologischer Natur und „traditionellen Projekten der sozialen Revolution“ gegenüber oft gleichgültig. 

Das Aufkommen verschiedener identitätsorientierter Gruppen während der 1970er-Jahre spiegelte sinkende Erwartungen auf Seiten der Linke wider. Ihre „Neue Innerlichkeit“ fand unübersehbaren Ausdruck in dem so genannten „Cultural Turn“, der den Fokus auf die Politik der Kultur, des Images und der Repräsentation lenkte. Das augenfälligste Merkmal des Cultural Turn war die Sakralisierung der Identität. Die Ideale von Differenz und Vielfalt ersetzten das der menschlichen Solidarität. 

Phase 3: Verschmelzen von Identität und Opferstatus 

Eine der folgenreichsten Entwicklungen in der Geschichte der Identitätspolitik war ihr Verschmelzen mit der aufkommenden Opferpolitik. Dies geschah nicht zufällig. Beide Trends drückten die Bewusstseinskrise der Linken aus. Radikale linke Politik ­erschöpfte sich zunehmend und diente immer weniger dem sozialen Wandel. Während dieser Periode wurden viele traditionelle Verbündete der Linken als Opfer des Systems ausgemacht, ähnlich wie schon während der Frauenbewegung. In den späten 1960er- und frühen 70er-Jahren widersetzten Feministen sich noch heftig der Darstellung von Frauen als Opfer. In den späten 1970er-Jahren hatte sich die Perspektive umgekehrt. Kampagnen unterstrichen nun die Rolle der Frau als Opfer – geschlagen, verletzt und vergewaltigt. Auch die Linke betrachtete Leiden als wichtige Ressource zur Mobilisierung von Anhängern. 

Während der 1970er wandelte sich das Verständnis davon, wie man zum Opfer wird (Viktimisierung). Anfänglich wurden Menschen als Opfer betrachtet, wenn sie eine spezifische Erfahrung gemacht hatten – etwa als Opfer von Gewalttaten. In den 1970er-Jahren ­weitete sich das Verständnis der Viktimisierung: Ein Individuum brauchte nicht Schaden genommen zu haben, um als Opfer zu gelten. Stattdessen wurde der Opferstatus als integraler Bestandteil einer ungerechten Gesellschaft angesehen. Im Zuge der Neudefinition und der Ausweitung der Opfererfahrung erklärten verschiedene Gruppen den gesellschaftlichen Opferstatus zum zentralen Bestandteil ihrer Identität. 

Eine neue Generation von Aktivisten trieb die Umdefinition der Opferidentität entschieden voran. Der Vergleich der ersten Ausgabe von William Ryans Klassiker „Blaming the Victim“ (Opferbeschuldigung) von 1971 mit der 1976 erschienenen Ausgabe spricht Bände. Seine Hauptthese ist, dass in den USA Opfern der Ungleichheit – etwa Schwarzen – ungerechterweise die Schuld für gesellschaftliche Probleme in die Schuhe geschoben wird. Ryan verfocht die populistische und antikapitalistische These, dass nicht der Kriminelle, sondern das System Menschen zu Opfern mache. Als Ryan 1976 ­eine neue Einleitung verfasste, hatte sich sein Verständnis von Opfern deutlich ausgedehnt: 

„Seit 1970 habe ich meinen Blick, wer die ‚Opfer‘ der amerikanischen Gesellschaft wirklich sind, erweitert. Ich hatte mich auf die Not der Armen und der Schwarzen fokussiert. In Wahrheit ist jeder, der zum Unterhalt seiner selbst und seiner Familie auf Gehalt oder Lohn angewiesen ist und über keine zusätzliche Einkommensquelle durch nennenswertes Vermögen verfügt, in Amerika ein potentielles Opfer.“³

Die Auffassung, dass nahezu jeder außer der herrschenden Elite ein potentielles Opfer ist, suggeriert, dass Viktimisierung nicht die Ausnahme, sondern die Regel in der Realität der amerikanischen Kultur darstellt. Teile der Linken sowie der Rechten befürworteten die Legitimität des Opferstatus. Die Opferrolle ­wurde so zur wichtigen kulturellen Quelle für Identität. Zeitweise schien es, als wolle jeder das ­Opferlabel für sich beanspruchen. Der Studie eines amerikanischen Soziologen zufolge verbanden sich verschiedene Bewegungen informell, um „eine gemeinsame Opferstimmung zu schaffen, moralische Entrüstung hervorzurufen und selbstgerechte Feindseligkeit gegen den gemeinsamen Feind – den weißen Mann – zu säen“ ⁴. Der Ausschluss des weißen Mannes aus dem Kreis der Opfer währte aber nicht lange. In den 1980er-Jahren entstand eine neue Männerbewegung, die insistierte, dass auch Männer zu den unbeachteten und marginalisierten Opfergruppen gehörten. 

Phase 4: Der therapeutische Ethos 

Die Darstellung des Opfers als schuldlos war die Schlüsselinnovation bei der Konstruktion der Opferrolle in den 1970er-Jahren. Gängiger rhetorischer Griff der Opferfürsprecher war, ­jede Infragestellung der – von Individuen oder Gruppen vorgebrachten – Forderungen als „Opferbeschuldigung“ abzutun. Radikale Kriminologen behaupteten, nicht nur die Opfer von Verbrechen, sondern jeder Benachteiligte stünde zu Unrecht am Pranger. 

Die Vorstellung von „schuldlosen Opfern“ gewährte selbsternannten Opfern moralische Autorität. Einer Studie zufolge, wurde „Opfer“ zunehmend zum moralischen Begriff. „Ein Opfer zu sein impliziert einen gewissen Grad an Unschuld und Schuldlosigkeit, wodurch das Opfer nicht für sein Schicksal verantwortlich gemacht werden kann“, schrieb Frank Weed.⁵ Fürsprecher der Opferkultur behaupteten nicht nur, dass Opfer keine Verantwortung trügen, sondern auch, dass ihnen geglaubt werden müsse. In den letzten Jahrzehnten wurde das Mantra „Glaubt dem Opfer“ derart institutionalisiert, dass derjenige, der beschuldigt wird, in der Öffentlichkeit seine Unschuld zu beweisen hat. Folgerichtig fragen die Kämpfer gegen ­sexuelle Belästigung, Mobbing und Mikroaggressionen nicht nach der Intention des Beschuldigten, sondern ob sich das „Opfer“ betroffen fühlt. Politische Bewegungen, die sich vormals der Befreiung und der sozialen Umgestaltung verschrieben hatten, begannen sich als Opfergruppen wahrzunehmen. Sie nutzten die Mahnung „Glaubt dem Opfer“, um sich Respekt und Anerkennung zu verschaffen. Die Behauptung von der Schuldlosigkeit der Opfer sollte nun verhindern, dass die Sicht einer bestimmten Identitätsgruppe auf die Realität hinterfragt oder diskutiert wird.

Äußerlich scheint die aktuelle Version der Identitätspolitik – die sich durch die Synthese von Opferbewusstsein und Suche nach therapeutischer Bestätigung auszeichnet – kaum noch etwas mit ihrem Vorgänger aus dem 19. Jahrhundert gemein zu haben. Jedoch beharren beide Varianten darauf, dass nur diejenigen, die im identitätsstiftenden Milieu gelebt haben, deren Realität verstehen können und sich zu der Angelegenheit äußern dürfen. 

Auf Kultur und Identität bezogene Grenzen haben sich verfestigt und werden nun intensiv kontrolliert. Wer das Monopol der kulturellen Ingenieure über das Verständnis ihrer Identität in Frage zu stellen droht, stößt oft auf ein „Zutritt verboten“-Schild. Wer es dennoch wagt, in einen abgegrenzten kulturellen Raum einzudringen, wird der ausbeuterischen kulturellen Aneignung (cultural appropiation) bezichtigt. 

Das Dem-Opfer-glauben-Dogma wurde zum Argument recycelt, um Diskussionen zu jeglichen Themen zu unterbinden, die Identitätsbewegte als anstößig empfinden. Von deren Standpunkt aus ist jede Kritik an identitätspolitischen Anliegen ein Kulturverbrechen. Die Verpflichtung, Personen, die Opferidentität beanspruchen, zu glauben und nicht kritisch zu hinter­fragen, wird therapeutisch gerechtfertigt. Kritik mache psychologisch gesehen nochmals zum Opfer und verursache deshalb psychische Verwundungen und seelische Schäden. Diese therapeutisch geprägte ­Argumentation gegen kritische Werturteile und Meinungsfreiheit sieht Kritik nicht nur als Angriff auf Ansichten und Meinungen an, sondern auch als Angriff auf die Person, die diese vertritt. Das Ergebnis ist Zensur und Illiberalität. Deshalb wird es in der Öffentlichkeit, vornehmlich an Universitäten, zunehmend schwerer, ­bestimmte Themen zu debattieren.

 

Das Ende der Solidarität 

Seit ihrer therapeutischen Wende ist Identitätspolitik weniger als ihre Vorläufer in den 1960er- und 70er-Jahren auf politische und soziale Themen fokussiert. Die zeitgenössischen Formen der Identitätspolitik verwenden viel Energie darauf, Anerkennung und Respekt einzufordern. Die Identitätspolitik der alten Tage verstand kritisierte Zustände als politische, ökonomische oder soziale Hindernisse und richtete ihre Energie darauf, diese Diskriminierung zu überwinden. Obwohl sie sich der Förderung von Gruppenidentitäten verschrieben hatte, war ihr vornehmliches Ziel die Gleichstellung. Ohne Zweifel besaß sie starke separatistische Tendenzen und eine selbstbezogene Weltanschauung. Aber anders als heutige Identitätspolitik übersetzte sie ihre Ziele nicht in die psychologische und narzisstische Sprache des „Alles dreht sich um mich“. Der ­Feminismus der 1970er-Jahre kämpfte für die Überwindung der Hindernisse, die Frauen die Gleichstellung mit  Männern verwehrten. Dem steht ein Feminismus gegenüber, der die Geschlechterunterschiede betont und herausarbeitet, „Safe Spaces“ und Schutz vor Mikroaggressionen wie unglücklich formulierten Komplimenten fordert. 

Die Tendenz zur Fragmentierung und Individualisierung ist ein unterschätztes, aber kennzeichnendes  Moment der aktuellen Identitätspolitik. Der Trend geht deutlich dahin, dass Identitätsgruppen ausufern und sich separieren. Kulturpolitisch bisher ­marginale Gruppen übernehmen Sprache und Praktiken der Identitätspolitik. Chinesische Auslandsstudenten ­etwa haben versucht, Debatten über die Tibet-Politik  ihrer Regierung zu verhindern, indem sie sich darauf beriefen, diese als kulturell unsensibel und beleidigend zu empfinden. Durch lauter werdende Rufe nach dem Schutz der „weißen Identität“ ist Identitätspolitik mittlerweile zur Karikatur ihrer selbst geworden. 

Einige Verfechter der Identitätspolitik betrachten einander als Verbündete. Allerdings erschwert die Politisierung der Kultur generell das Schmieden belastbarer Allianzen zwischen verschiedenen Gruppen. Das zeigt sich aktuell am scharfen Konflikt zwischen Feministen und Trans-Aktivisten. Zwischenmenschliche Solidarität fällt der Identitätspolitik zum Opfer. Wenn sich diverse Gruppen in ihren „Safe Spaces“ verschanzen, bleibt wenig gemeinsame Grundlage für eine Politik der Solidarität und für das Ideal universeller Rechte.

Von Frank Furedi

 

Anmerkungen:

1.
Tony Judt: „Postwar. A History of Europe Since 1945“, Random House 2007, S. 486.

2.
„On the Politics of Recognition“, s. Frank Furedi: „Therapy Culture“, Routledge 2004. 

3.
William Ryan: „Blaming the Victim“, Vintage Books 1976, 5. xiii. 

4.
Martin E. Spencer: „Multiculturalism, ‘Political Correctness’, and the Politics of Identity“ in: Sociological Forum 4/1994, 5. 559.

5.
Frank Weed: „Certainty of Justice. Reform in the Crime Victim“, ­Routledge 1995.

Aus: Die sortierte Gesellschaft, Novo-Argumente Verlag, Frankfurt 2018

 

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