Gotha: Junge malt versunken an der Malwand nach Arno Stern.

Wir tasten uns vor – Zwei Szenen aus Gotha-West

OJC-Live

Ute Paul – Seit Juli leben Frank und ich in einem der Wohnblocks in Gotha-West und machen mit bei Michael und Christiane Weinmann in der Stadtteilmission. Jeder Tag bringt Neues. Wir tasten uns vor beim Spazieren durchs Viertel, bei Begegnungen und Besuchen. Hören sorgfältig hin, was die Menschen hier zu sagen haben. Finden uns zusammen im Viererteam, gehen gemeinsam weiter. In zwei Szenen möchte ich beschreiben, was wir dabei erleben.

Herbst

Es ist wie ein Schaufenster. Man geht vorbei und schaut. In der Glasfront des ehemaligen Friseursalons, der heute der Laden vom „Senfkorn“ am Coburger Platz ist, hängen großformatige Bilder voller Farben, gemalt von den Kindern von Gotha-West. Sie lieben die wöchentliche MALzeit, diesen Raum des Ausdrucks, der Schönheit, der Stille, der Zuwendung, zu der sie jede Woche eingeladen werden von Christiane Weinmann.

Manche dieser Kinder kommen auch zur „Pause am Sonntag“, wie wir unfromm den kleinen Gottesdienst am Nachmittag nennen. Mal eine Pause machen bei Gott, in der man sich wohlfühlt, zusammen singt und lacht, sich selbst und seine Sorgen mitbringt – und erleichtert wieder geht.

So sagt es jedenfalls Simone, die auch kommt. Simone ist kein Kind mehr, sondern schon in Rente. Gemeinsam mit anderen Erwachsenen und Kindern sitzt sie im Kreis im Laden. In der Mitte ein Holzkreuz und Herbstblätter. Dieser Gottesdienst ist anders. Keiner steht vorne und predigt, während die anderen zuhören. In der „Pause am Sonntag“ kommen möglichst viele zu Wort.

Die biblische Geschichte wird eher erzählt als vorgelesen. Wer sie erzählt, sucht den Augenkontakt mit den Anwesenden, um zu spüren, ob die verwendeten Worte verstanden werden. Fragen haben Vorrang, Kommentare sind sehr erwünscht. Und an diesem Sonntag ist es ein Kind, das alle aufhorchen lässt.

Erst hatten alle aufmerksam gelauscht, wie die vier Freunde den Gelähmten durch das Dach zu Jesus herabließen. Dann fragten sie sich, warum Jesus ihn anschaute und sagte: Deine Sünden sind dir vergeben. Was meinte Jesus da? Hatte der Gelähmte nicht andere Sorgen? Sünde, was ist das?

Pfarrer Michael Weinmann geht dem Gedanken nach: „Sünde, das ist das, was zwischen uns Menschen steht und was auch zwischen uns und Gott steht. Wir können es spüren, wie es wehtut, wenn wir einander Böses tun oder sagen. Was können wir denn tun, damit es zwischen uns wieder gut wird?“

Nachdenkliches Schweigen breitet sich im Kreis aus. Aus einer Ecke kommt leise Rahels* Stimme. Sie ist acht Jahre alt. Wir verstehen sie erst nicht. Jemand in der Nähe fragt nach. Noch einmal flüstert sie fast ihre Antwort. Jetzt beugt sich jemand zu ihr rüber.

Alle warten gespannt. „Man muss sich mit Liebe anfüllen lassen“, sagt jetzt Rahel ein wenig sicherer. Viele im Kreis nicken und sprechen Rahels Antwort nach. Wir spüren, dass es wahr und tief ist, was sie sagt.

Wir müssen mit Gottes Liebe angefüllt werden, damit es zwischen uns anders werden kann. Dann wählt Rahel noch das Abschlusslied des heutigen Gottesdienstes aus: Gottes Liebe ist so wunderbar. Und damit gehen wir alle wieder in unser Leben in Gotha-West. Wir haben etwas geschaut in Gottes Schaufenster.

Advent

Nach acht Tagen gibt es Leute, die damit rechnen, dass wir immer wieder kommen werden, wenn es fast dunkel ist auf dem Coburger Platz. Einige Kinder stehen schon vor der Ladentür und warten. „Gibt es heute wieder Tee?“ werde ich gefragt, oder „Was darf ich heute raustragen?“

Ich lache und verteile Arbeit, damit auch heute die „10 Minuten im Advent“ wieder stattfinden können. Bänke, Tische, Bauleuchte, Gitarre, Kissen. Der Transport des großen Aufstellers darf nicht vergeben werden, denn den fährt Jürgen mit seinem Rollstuhl raus.

Seit wir jeden Tag im Advent singen und erzählen, hat er seinen Beobachtungsposten vor dem angrenzenden Wohnblock aufgegeben und sich zwischen die Bänke platziert. Dann hat er begonnen, früher zu kommen, sich nützlich zu machen. Heute rückt er seinen Hut zurecht und steckt uns mit seiner guten Laune an.

Dann überwacht er noch das ordnungsgemäße Abwickeln der Kabeltrommel bis vor die Wand vom Supermarkt, an die der Projektor das Bild von heute werfen wird. Teresa rennt nochmal los, um ihre Mama zu holen, also warten wir noch mit dem Beginn.

Da fällt Nico auf, dass „das Wort von heute fehlt“! Ich schaue mich um: Auf dem Tisch sollte eigentlich ein Stück Babywäsche liegen mit der Aufschrift des Merkwortes von heute. Zwei Wäscheklammern dabei, damit es am Ende zu den anderen auf die Leine gehängt werden kann, jeden Tag eins mehr.

Liegt aber nicht da. Nico hat es gemerkt. Genau das Kind, das sich viele Stunden täglich auf dem Platz herumtreibt, vor dem sich manche anderen Kinder fürchten und das mir erzählt hat, er bekäme nichts zu Weihnachten, weil er nicht lieb gewesen sei.

„Komm“, sage ich zu ihm, als wir noch mal zum Laden zurückgehen und ich es ihm aushändige. „Aber noch nicht lesen, sonst ist es gleich nicht mehr spannend für dich, was unter dem Sand auftaucht“, füge ich hinzu. „Ich kann sowieso nicht lesen“, antwortet Nico. „Aber du hast gemerkt, was gefehlt hat. Vielen Dank!“ kann ich gerade noch sagen, da ist er schon losgerannt zu den Bänken.

Jetzt kann es losgehen. Mit großen Augen verfolgt Nico, wie Christiane Linien in den Sand auf dem Projektor malt. Von Maria erzähle ich, wie sie jubelt beim Besuch bei Elisabeth. Ich freue mich über Gott, meinen Retter. Er hat mir Beachtung geschenkt, obwohl ich gering und unbedeutend bin. Er hat es unseren Vorfahren versprochen – und mich nicht vergessen! (Lukas 1, 47-48, HfA)

Auf dem Projektor erscheint eine Pergamentrolle. Dann beginnt Christiane langsam den Sand zur Seite zu schieben für das Merkwort. „Du hast es uns wieder zu leicht gemacht“, ruft Jürgen, „war ja klar, dass es ‚nicht vergessen‘ ist“. Alle lachen. Klaus steht auf und hängt das Babykleid auf die Leine.

Beim letzten Lied für heute kommen mir die Tränen vor Freude. Ich sehe die Leute auf unseren Bänken, die noch nie ein Kirchengebäude von innen gesehen haben. Ich sehe sie singen und weiß: Gott hat sie nicht vergessen.

Ute Paul (OJC) zog mit ihrem Mann Frank aus dem Turmhäuschen in Reichelsheim in die Platte in Gotha-West, um mit eigenen Augen zu sehen, was Gott so alles aus einem Senfkorn Glauben machen kann.

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