Wer hat Angst vorm bösen WEF ? Fünf Fragen zum Great Reset

Wer hat Angst vorm bösen WEF? – Fünf Fragen zum Great Reset

Chris Watkin – Wer noch nichts vom Great Reset gehört hat, wird ihm bald begegnen. Er füllt die Kolumnen führender Zeitungen weltweit und fegt durch die sozialen ­Medien. Christen, die sich aus biblischer Sicht damit befassen wollen, können dies anhand folgender fünf zentraler Fragen tun. 

1. Was ist der Great Reset – der Große ­Neustart?

Die erste Frage mag trivial erscheinen, aber es ist von Bedeutung, dass die Frage mit „was“ und nicht mit „wer“ beginnt. Die abwehrenden Reaktionen gegen den Great Reset fokussieren meist ausschließlich darauf, wer das Thema forciert und auf ein-zwei ausgewählten Zitaten, statt darauf, was sie im Einzelnen bedeuten. Das birgt die Gefahr, die Diskussion auf Vorwürfe ad ­hominem zu verflachen und Ideen wegen der Person, die sie vorbringt, zurückzuweisen, ohne zur Kenntnis zu nehmen, was sie sagt. ­Deswegen skizzieren wir erst das Was, bevor wir uns dem Wer ­widmen. Der Great ­Reset ist ein Versuch, das Momentum der ­Covid-19-Krise zu nutzen, um eine bessere ­Gesellschaft zu errichten, wobei mit „besser“ drei ­Dinge gemeint sind: grüner, digitaler und fairer. Er wird vom Empfinden genährt, man hätte die Finanzkrisen der 2000er Jahre als Chance nicht genutzt: Trillionen von Dollar wurden in ­Konjunkturpakete gepumpt, ­ohne dass sich wirklich etwas geändert hätte und ­ohne dass man weitere Krisen hätte verhindern können. Und nun zum Wer. Der Great Reset ist eine Kopfgeburt von Prof. Klaus Schwab, dem Gründer des Weltwirtschafts­forums (WEF), bei dem sich jeweils im Januar die politische und unternehmerische Führungselite der Welt im Ski-Paradies von Davos einfindet. Die Versammlung zieht Kometen am Unternehmenshimmel an wie Bill Gates oder die Chefs von Coca-Cola, Goldman Sachs und IBM, im kuscheligen Schulterschluss mit Präsidenten, Premiers und Berühmtheiten wie Bono oder dem Prinz von Wales. 

Jenseits des Glamour geht es beim WEF auch ganz klar um einen sozialen Wandel. Mit seinem ­Koautor ­Thierry Malleret plädiert Schwab in seinem kürzlich erschienen Buch COVID-19: The Great Reset für ­einen „stakeholder capitalism“ (treuhänderischer Kapitalismus), also die Idee, dass nicht nur ­Aktionäre (share­holder) vom Gewinn profitieren sollen, sondern auch Angestellte, Konsumenten, Gemeinschaften und die Umwelt. Auf der WEF-Website formuliert Schwab:
„… die Welt muss gemeinsam und schnell handeln, um ­alle Aspekte unserer Gesellschaften und Volkswirtschaften umzugestalten – ob Bildung, Gesellschaftsver­träge oder Arbeitsbedingungen. Jedes Land, von den USA bis China, muss sich beteiligen, und jede Industrie, von Öl und Gas bis zu IT, muss transformiert werden. Kurz, es braucht den ‚Great Reset’ des ­Kapitalismus“.1

Der WEF fordert nicht weniger als „einen neuen Gesellschaftsvertrag mit Menschenwürde und sozialer Gerechtigkeit im Zentrum“2.

2. Was waren die Reaktionen?

Der Hauptvorwurf ist der einer sozialistischen, globalistischen Verschwörung zur weltweiten Kontrolle und Herrschaft. Der Great Reset und das Weltwirtschaftsforum als sein Erzeuger haben, gelinde gesagt, durchwachsene Reaktionen hervorgerufen. Boris Johnson, der englische Premierminister, hat Davos 2020 mit der Begründung boykottiert: „Wir konzentrieren uns auf das, was wir dem Volk schuldig sind, nicht auf den Campus der Milliardäre“3, und als einziger Minister nahm in diesem Jahr der australische Finanzminister Mathias Cormann am Forum teil. Es war abzusehen, dass die sozialen Medien in einen Wutrausch der Negativität um das WEF geraten. „Great Reset“ setzte seit der zweiten Jahreshälfte 2020 den Trend auf Twitter, und das nicht auf bestätigende Weise. Die Hauptkritik ist, dass hier die sozialistische globale Verschwörung einer kleinen, transnationalen und nicht durch Wahl legitimierten Elite ihr eigenes Süppchen kocht, um ihren Machtanspruch auf unsere Kosten durchzusetzen. Was immer wir von solchen Theorien halten, sie offenbaren einen beträchtlichen Vertrauensschwund gegenüber Obrigkeiten und Eliten, einen Vertrauensschwund, den auch die Kirche zu spüren bekommt.  Die meisten Christen, die sich zu Wort melden, ­stehen dem Great Reset ablehnend gegenüber, vor allem in den USA, wo Selbstbestimmung als hohes kulturelles Gut gilt und jede Zentralisierung von Macht kritisch beäugt wird. Die einen betrachten das WEF im Spektrum einer Welt-Regierung und der Neuen Weltordnung, die sie mit dem Antichristen identifizieren. Die anderen schaudert es angesichts der damit verbundenen Wokeness-Bestrebungen, die die Erosion christlicher Werte in der Gesellschaft befördern. Wie können Christen einem solchen politischen oder kulturellen Vorstoß wie dem Great Reset denkerisch angemessen begegnen? Hier einige Anregungen, um am Ball zu bleiben. 

3. Wie durchkreuzt die Bibel die Debatte? 

Es gibt immer wieder Epochen, in denen die Bibel die zeitgenössischen sozialen und intellektuellen Debatten aufsprengt und reorganisiert. Was den Great ­Reset angeht, haben wir es mit zwei Lagern zu tun: den Utopisten (den Great Resettern) und den Pessimisten (den Kritikern des Great Reset). Die Utopisten scheinen uns einzureden, dass uns alle eine rosige Zukunft erwartet, wenn wir nur zusammenwirken und die rechten Maßnahmen ergreifen. Die Pessimisten sehen nur eine Kabale der Privilegierten, die sich in einem machiavellistischen Komplott die Kontrolle über unser Leben sichern. Inwiefern liegt die Bibel quer zu dieser Dichotomie? Indem sie offenlegt, dass letztlich beide Seiten mit simplen Plattitüden einer christlichen Perspektive auf Zeit, Gesellschaft und Menschheit hausieren. Man kann den Great Resettern nicht vorwerfen, die Gesellschaft verbessern zu wollen, schließlich gehört das zum Schöpfungsauftrag. Mit ihrem Vertrauen auf zentralisierte und konzentrierte Befugnisse ohne angemessene Korrektive blenden sie die Unzulänglichkeit des menschlichen Trachtens infolge des Sündenfalls naiv aus. Auch die Kritiker haben nicht Unrecht, wenn sie jeglicher Kontrolle und Machtfülle misstrauen. Ihr ­Zynismus jedoch betäubt ihren Sinn für die Verantwortung, die wir als Haushalter in Natur und Zivilisation haben – eine Zuständigkeit, der wir nur gerecht werden, wenn wir irgendwie zusammenwirken. Kurz: Sowohl der Optimist als auch der Pessimist haben Anteil an der komplexen Wahrheit und machen sie rund: Die Great Resetter unterschätzen den Sündenfall, und die Kritiker unser Mandat in der Schöpfung; die ­Great Resetter überstrapazieren die säkulare Eschatologie, während die Kritiker sich auf Gier und ­Sünde des Menschen berufend aus der Verantwortung für den Frieden und das Wohl der Städte ziehen, in denen wir uns vorfinden. Demgegenüber sollten Christen, denen an einer umfänglichen biblischen Antwort liegt, nach biblischem Maßstab der Schöpfung, dem Fall, der Erlösung und der Vollendung, dem Potenzial und der Pervertierung des Menschen Rechnung ­tragen. 

4. Worin besteht die biblische Alternative?

Keine der Erwiderungen kann mit der kraftvollen ­Vision für Gesellschaft, die aus der Bibel erwächst, mithalten. Es ist leicht, eine Agenda wie die des ­Great Reset vom Sofa aus zu kritisieren oder anzufeuern. Aber weder das eine noch das andere vermag die ­radikale, kraftvolle Gesellschaftsvision eines tief in der Bibel wurzelnden Engagements auch nur zu ­ermessen. Als Christen dürfen wir uns nicht damit begnügen, im Gleichschritt mit Initiativen wie dem Great Reset zu marschieren oder sie vom Straßenrand aus schlechtzureden. Es gilt, dem Raum zu geben, was die ­Bibel an Ureigenem zu der Debatte beizutragen hat, und zwar anhand jener biblischen Muster, die die Gesell­schaft in den Fragen von Verschuldung, sozialem Zusammen­halt, Ungleichheit und Fürsorge zum Vorteil aller prägen.4 Es wird nicht ausbleiben, dass auch Christen darüber uneinig sind, wie die ­biblische ­Vision von Gesellschaft im Detail aussehen mag. Und das darf auch so sein! Nicht nur wir debattieren hart, auch säkulare Meinungsführer liegen im Clinch da­rüber, wie die Prinzipien von Gerechtigkeit und Gleichheit am besten in gesellschaftlichen Verfahren und Einrichtungen umzusetzen wären. Wenn wir aber nicht lernen zu artikulieren, was wir nach christlichem Verständnis als gedeihlich, gerecht, nachhaltig erkannt haben, und dafür zu werben, werden zwei Dinge nicht zu verhindern sein: 

Erstens werden wir damit überfordert bleiben, Initiativen wie den Great Reset überhaupt zu analysieren, weil uns die biblischen Muster fehlen, anhand derer wir zu einem guten Urteil gelangen könnten, und dann werden wir unweigerlich darauf verfallen, die Rosinen aus den Ansätzen zu picken, wie etwa die Selbstverpflichtung zur identitätssensiblen (woke) sozialen ­Gerechtigkeit oder den Rückhalt der politischen und globalen Eliten, und dann zu meinen, damit wären wir schon am Ball. 

Zweitens werden wir stets den neuesten Trends und Initiativen hinterherhecheln, sie gelegentlich mit etwas Bibelstaub pudern, statt uns an vorderster Stelle ins Zeug zu ­legen, angetan mit einer unwiderstehlichen, frischen biblischen Perspektive, deren Narrativ, wie John Milbank es formuliert, alle säkularen Alternativen überzeugend aussticht („out-narrates“). 

5. Wie sollen Christen dem also begegnen?

Genug der Mahnungen und Verallgemeinerungen. Jetzt gehts zur ­Sache: Wie sollen Christen mit dem Great Reset umgehen? Nun denn: 

Löse die Botschaft vom Überbringer. Das Weltwirtschaftsforum folgt manchen befremd­lichen, naiven und alarmierenden Idealen. Das macht aber nicht gleich jede ihrer konkreten Vorschläge oder Zielvor­gaben wertlos. 

Halte jeden Sachverhalt einzeln unter die biblische Linse. Der Great Reset ruht auf den drei Säulen Gerechtigkeit, Nachhaltigkeit und Digitalisierung. Ich möchte zu jedem nur einen Gedanken unterbreiten.

Was kennzeichnet die biblische Sorge um Gerechtigkeit? Ein wichtiges Element ist das Engagement für die Armen; für die „Witwen und Waisen“ ohne Marktwert und Einfluss, ­ohne ­Status und ­Stimme. Die konzern- und kapi­tal­orientierte Ausrichtung des ­Great Reset mit seinem Hang, bestimmte Minderheiten und deren Recht auf Kosten von anderen zu bevorzugen (so finde ich ­etwa keine Erwähnung von religiösen Minderheiten irgend­einer Konfession), vernachlässigt vergleichsweise ­diese weniger glamourösen Schichten der Bevölkerung, und Christen sollten sich hingebungsvoll zum Anwalt ihrer Inklusion und Förderung machen.

Nachhaltigkeit. Der Wunsch, die Welt so zu ­erhalten, dass wir weiter in ihr leben können, scheint das geringste Anliegen des Aktionärs-Kapitalismus zu sein, auch wenn der Great Reset vorgibt, sich gegen das Paradigma der Gewinnoptimierung zu stemmen. Es verschiebt nur geringfügig die Grenzen. Es braucht ­eine tiefergreifende Transformation: eine, die uns Menschen nicht zum Maß aller Dinge macht, sondern vor einem Tribunal in die Pflicht nimmt, dem nicht wir selbst vorstehen. Eine solche radikale Transformation wäre zu erreichen, indem wir vom Prinzip der „Nachhaltigkeit“ zur christlichen Vorstellung der „Haushalterschaft“ übergehen: als Fürsorge für die Welt, weil sie Gott gehört, und nicht in erster Linie, weil wir noch lange in ihr leben wollen. Haushalterschaft zeitigt ein viel weiteres und radikaleres Verständnis von Verantwortung, eines, das auch Aspekte des natürlichen Umfeldes einschließt, die nicht unmittelbar auf das menschliche Leben einwirken. 

Technologie. Ohne hinter jedem Busch den Antichristen zu ­wittern, wird eine biblische Anthropologie zur Wachsamkeit angesichts der utopistischen Technologie-Träume des ­Great Reset mahnen. Menschliche Wesen sind herrlich im Bilde des liebenden und weisen Schöpfers erschaffen, ich und du aber sind auch gefallene Wesen, fähig zu schlimmem Übel und großer Selbstverblendung. Deswegen ist Gewal­tenteilung alles in allem ein gutes ­Prinzip: Es verhindert die allzu große Konzentration von Macht in einer Person oder einer Einrichtung. Jede weiter­führende Digitalisierung sollte das Prinzip der Machtverteilung in ihre DNA einbauen und der ­Dominanz ­einer kleinen Zahl multinationaler Unternehmen, Regierungen oder Individuen entgegenwirken. Die Marke „Great Reset“ wird in wenigen Jahren als Kuriosität in die Geschichtsbücher eingehen. Die Frage, wie eine für alle gerechte, nachhaltige und ­digital faire Gesellschaft aussehen soll, bleibt. Wir brauchen einen langen Atem, um in diesen Belangen am Ball zu bleiben und in der öffentlichen Debatte für ein biblisches Verständnis dessen zu werben, was auf dem Spiel steht, wenn wir den Gesellschaftsvertrag umschreiben.

Anmerkungen:
1 https://www.weforum.org/agenda/2020/06/now-is-the-time-for-a-great-reset
2 https://www.weforum.org/press/2020/06/the-great-reset-a-unique-twin-summit-to-begin-2021/
3 https://www.ft.com/content/1f688a3a-20f2-11ea-92da-f0c92e957a96
4 Among the many examples of Christian social thinking about life after COVID-19 is the UK Jubilee Centre’s recent ‘Seeds of Change’ conference in which I had the privilege of participating.
Quelle: www. au.thegospelcoalition.org/article/five-questions-christians-should-ask-about-the-great-reset/

Von der Redaktion ins Deutsche übertragen

Der gebürtige Engländer Dr. Chris Watkin lehrt Französisch und Literaturwissenschaft an der Monash University in Melbourne (AU) mit Schwerpunkt Gottes- und Schöpfungsdiskurse und zeitgenössische französische Denker. Er leitet zudem das Forschungsprojekt „Neuschreibung des Gesellschaftsvertrages” und bloggt über kulturphilosophische und theologische Themen auf thinkingthroughthebible.com

 

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