Visionäre Koexistenz

Zwei Völker in Palästina (1947)

Martin Buber – Ich will Ihnen die Wirkungen eines Übels zeigen, an dem die heutige Menschheit leidet. Ich meine die abnorme Vorherrschaft des politischen Prinzips den Prinzipien des Lebens gegenüber. Man pflegt das wirtschaftliche Prinzip für das eigentlich bestimmende zu halten; aber das politische Prinzip hat die Wirtschaft durchsetzt, so dass die Lebensgrundlage allen echten Wirtschaftens, der Trieb zur Herstellung nützlicher Güter und die Kooperation mit Menschen gleicher Voraussetzung und gleicher Zielsetzung, durch den leeren Machttrieb und den ungezügelten Wettkampf verdrängt worden ist.

„Schaffen, was man braucht“ ist der Impuls aller natürlichen Wirtschaft, „mehr bekommen als man braucht“ ist die Parole der politisierten. Überall will die politisierte Menschengruppe mehr durchsetzen als sie wirklich braucht, und sie vermögen zwischen diesem „wirklich“ und jenem „mehr“ gar nicht mehr zu unterscheiden. So kämpfen alle gegen alle, nicht um das „wirklich“, sondern um das „mehr“, und da sie keine übergeordnete Autorität mehr kennen, gibt es kein Innehalten auf dem Weg zum gemeinsamen Verderben.

In den Tiefen der Urgeschichte

Vor nahezu 70 Jahren haben Juden in Palästina zu siedeln begonnen. Der äußere Antrieb waren Verfolgungen, aber sie lösten nur den in die Tiefe der Urgeschichte zurückreichenden Antrieb, den Kontakt mit der Urheimat wieder zu gewinnen, aus und durch ihn wieder zu einem lebenden Volksleib zusammenzuwachsen. Man muss sich vergegenwärtigen, dass die Juden nicht ein Volk wie alle Völker sind, sondern etwas Unvergleichbares, eine Gemeinschaft, in der ein Volkstum und ein Glaube unlösbar verschmolzen sind. Und dieser Glaube hat wieder sich an dieses Land gebunden als an das, in das kein anderer als der Herr der Welt es geschickt hat, damit es dieses Land zur Vollkommenheit bringe und damit dieses Land es zur Vollkommenheit bringe, beides in einem um des Beginns des Gottesreiches auf Erden willen. Wiewohl diese Aufgabe nicht erfüllt worden ist und das Band zwischen Land und Volk Jahrtausende hindurch zerrissen war, und wiewohl ein nicht geringer Teil des jüdischen Volkes seinem Bewusstsein nach den Glauben verloren hat, ist doch dessen unbewusste Macht so groß geblieben, dass in der historischen Stunde, da sich jüdische Siedler der Urheimat zuwandten, ihr Antrieb von den Wurzeln der Glaubenskraft her gespeist wurde.

In diesen 70 Jahren haben die Generationen der jüdischen Siedler mit einer Begeisterung und einer Energie ohnegleichen an diesem Land gearbeitet. Bei diesem Schaffensdrang ist es wohl zu verstehen, dass sie einer Tatsache nicht die volle Aufmerksamkeit schenkten. Es gab in diesem Land bereits eine Bevölkerung, die es ebenfalls als ihre Heimat empfand: die Araber, die sich hier vor 13 Jahrhunderten niedergelassen haben. Die vitale Frage einer planvollen Kooperation in der Erschließung des Landes wurde von keiner der beiden Seiten mit hinreichender Klarheit erörtert.

Und doch lagen für ein aktives Zusammenwirken starke Voraussetzungen vor: die Sprachen sind nah verwandt, die Tradition vom gemeinsamen Stammvater verknüpft beide Völker mit der semitischen Urzeit, und sogar in den Sitten, zumal wenn man die der in Palästina sesshaften orientalischen Judengemeinschaften ins Auge fasst, gibt es manches Verbindende.

Brücke zwischen Orient und Okzident

Eine zweite grundwichtige Voraussetzung ist die gemeinsame Liebe zum Land, die zwar bei den Arabern wesentlich passiver ist, aber auch bei ihnen hätte ausgebildet werden können. Gewiss, die Juden hatten, im Abendland weilend, in ihrer Art und Lebensweise viel mehr von ihm aufgenommen als die auf der Brücke zwischen Orient und Okzident wohnhaften palästinensischen Araber; gewiss, das Tempo des Lebens und der Tätigkeit war hier und dort ein sehr verschiedenes, und man kann es wohl verstehen, dass manche Teile der Ansässigen das unablässige Pioniertum der Neuankömmlinge als etwas ihnen Aufgezwungenes empfanden. Dennoch hätten zweifellos die, in gemeinsamem Ursprung und gemeinsamer Aufgabe gegründeten Potenzen der Kooperation den Sieg über alle Hemmungen erfochten, wenn nicht das politische Prinzip dazwischengetreten wäre. Noch bis in die letzte Zeit hinein gibt es überall, wo ländliche arabische Bevölkerung unpolitisiert geblieben ist, die schönste friedliche Nachbarschaft, die weitherzigste gegenseitige Hilfe zwischen jüdischen und arabischen Dorfleuten. Jüdische Bewässerungs- und Meliorationsanlagen sind den Fellachen häufig nicht bloß zugutegekommen, sondern diese Lebenserleichterung ist von ihnen auch als ein Positivum auf dem Konto der Juden gebucht worden, und an nicht wenigen Punkten sind die Methoden intensiverer Wirtschaft gern gelehrt und gern gelernt worden. Immerhin darf nicht unerwähnt bleiben, dass manches aus den Lebensgrundlagen des jüdischen Siedlungswerkes erschwerend wirkte, ohne dass es gegen die Araber als solche gerichtet war; so hatte der gesund regenerative Grundsatz, die Juden zur produktiven Tätigkeit überzuführen, zur Folge, dass die arabischen Kräfte auf dem Arbeitsmarkt oft nicht genügende Geltung erlangten.

Den tatsächlichen Bedürfnissen gerecht werden

Und doch wäre sicherlich der Weg zu einer gemeinsamen jüdischen-arabischen Wirtschaft aus innerer Notwendigkeit eingeschlagen worden, wenn nicht das politische Prinzip, das Mehr-Durchsetzen-wollen als man wirklich braucht, auf beiden Seiten hindernd dazwischengetreten wäre. Das im Regenerationsprozess begriffene jüdische Volk in Palästina bedarf einer wohlausgebauten Autonomie, d. h., es muss nicht bloß seine eigene verjüngte hebräische Kultur frei entwickeln und wahren können, sondern es muss auch seine Gesellschaftsformen selbständig bestimmen und entfalten können. Auch das arabische Volk in Palästina bedarf einer wohlausgebauten Autonomie. Keins der beiden Völker darf das freie Wachstum der geistigen und sozialen Werte des anderen unterbinden. Dazu kommt noch auf der Seite der Juden ein Doppeltes: damit das Siedlungswerk nicht stagniere und damit es seine Funktion erfülle, der Weltjudenheit in dem von ihrer Situation erforderten Maß ein heimatliches Lebenszentrum zu schaffen, muss die Einwanderung im jeweiligen rechten Verhältnis zur wirtschaftlichen Aufnahmefähigkeit des Landes freigegeben werden. Das aber muss so verwirklicht werden, dass den tatsächlichen Bedürfnissen der arabischen Bevölkerung kein Abbruch geschieht. Das Ausmaß der echten beiderseitigen Bedürfnisse, die Gerechtigkeit in den beiderseitigen Ansprüchen muss somit immer wieder in der Atmosphäre eines sich aus der Kooperation ergebenden gegenseitigen Vertrauens geprüft und festgesetzt werden.

Was jedes der beiden in Palästina nebeneinander und durcheinander lebenden Völker tatsächlich braucht, ist Selbstbestimmung. Das bedeutet aber keineswegs, dass es einen Staat braucht, in dem es dominiert. Die arabische Bevölkerung braucht zur freien Entfaltung ihrer Kräfte keinen arabischen Staat und die jüdische braucht zur freien Entfaltung der ihren keinen jüdischen; beides kann in einem binationalen Gemeinwesen gewährleistet werden, in dem jedes Volk seine spezifischen Angelegenheiten verwaltet und beide miteinander ihre gemeinsamen. Die Forderung des arabischen Staates und die Forderung des Judenstaates gehören beide jener Kategorie des politischen „Mehr“ an, des Mehrhabenwollens als man wirklich braucht. Ein binationales Gemeinwesen mit möglichst weitgehend abgegrenzten Siedlungsbezirken und zugleich mit möglichst weitgehender wirtschaftlicher Kooperation, mit vollkommener Gleichberechtigung beider Partner ohne Rücksicht auf die jeweilige zahlenmäßige Proportion, und mit einer auf diesen Voraussetzungen aufgebauten gemeinschaftlichen Souveränität würde beiden Völkern das geben, was sie wirklich brauchen. Keins der beiden hätte dann noch zu fürchten, durch das andere majorisiert zu werden.

Die gemeinsame Liebe zu diesem wunderbaren Land

Heute scheint dieser Weg durch die zu einem schlechthin pathologischen Übermaß angewachsene Politisierung verbaut zu sein. Ich hege dennoch den festen Glauben, dass er freigemacht werden kann. Dazu sind zwei Aktionen von außergewöhnlicher Art vonnöten, eine wirtschaftlich-technische und eine geistig-politische, wobei ich den Begriff des Politischen hier nutze in seinem platonischen Sinn, der das öffentliche Wesen baut und gestaltet.

Mit der wirtschaftlich-technischen Aktion meine ich eine umfassende Unternehmung zur Erschließung des Landes. Dazu ist freilich not, dass die arabische Bevölkerung sowohl aktiv wie rezeptiv in vollem Maße in die Aktion einbezogen werde. Es ist in diesem Zusammenhang beachtenswert, dass dies meiner Kenntnis nach in allen von jüdischer Seite entworfenen Plänen vorgesehen ist. Wird es durchgeführt werden, so werden sich mit dem allgemeinen Habitus der Bevölkerungsmehrheit auch die Beziehungen zwischen Juden und Arabern grundlegend verändern, vorausgesetzt, dass in jedem Stadium der Aktion der Geist der Solidarität und der Kooperation bestimmend bleibt. Es gilt, die Gemeinsamkeit der Interessen offenbar zu machen, es gilt sie zu gemeinsamer Produktivität in gemeinsamer Liebe zu diesem wunderbaren Land zu erhöhen.

Die Verantwortung der Völkergemeinschaft

Ich muss ein wenig auf einen bedeutsamen Faktor eingehen, von dem ich nur mit einiger Zurückhaltung sprechen mag. Ich habe Ihnen bisher die beiden Völker so vorgeführt, als ob ihre Beziehungen zueinander nur von ihnen selber abhingen; aber diese Beziehungen sind in wachsendem Maße negativ beeinflusst worden von dem internationalen politischen Getriebe. Wenn es in unserer Zeit eine echte übernationale Autorität gäbe, die richtet und schlichtet, so könnte von dieser Sphäre aus naturgemäß eine wohltätige Wirkung auf solche Konflikte ausgehen. Da es aber eine solche Autorität nicht gibt, werden die Differenzen der kleinen Völker nicht so sehr als Übelstand behandelt, um dessen Behebung man sich gemeinsam bemühen muss, als vielmehr als interessante Komplikationen, die sich im großen Kampf ausnützen lassen. So hat es sich auch in den Beziehungen zwischen Juden und Arabern in Palästina begeben. Dieser Sachlage gegenüber müssen wir, denen es um die Zukunft des Homo sapiens bange zu werden beginnt, von dem herrschenden politischen Ungeist an den in den unsichtbaren Tiefen des Geschehens lebendigen Geist politischen Bauens und Gestaltens, appellieren. Sei dieses vielleicht schwierigste aller politischen Probleme der Gegenwart, die jüdisch-arabische Situation, die Probe aufs Exempel: aus allen Völkern müssen unabhängige Geister, die dem Kampf aller gegen alle um Macht und Besitz nicht verfallen sind, zusammentreten und eine gerechte Bewältigung der Situation vorbereiten. Sie müssen aber auch über die Stunde hinaus Sorge tragen. Einem gemeinsamen höchsten Rat beider Völker sollen aus diesem zu schaffenden Kreis Männer beigegeben werden, die an der Entwicklung des gegenseitigen Vertrauens arbeiten und die immer wieder sich zu erheben drohende Konfliktmaterie niederhalten. Wird es möglich sein, diese geistig-politische Aktion einzuleiten und durchzuführen? Es ist die Probe aufs Exempel. Geheimnisvoll sind in dieser Stunde das Schicksal Palästinas und das Schicksal der Menschheit aneinander gebunden.

Aus: Martin Buber, Schriften zur zionistischen Politik und zur jüdisch-arabischen Frage © 2019, Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH (gekürzt)

Martin Buber (1878 – 1965), bedeutender deutsch-jüdischer Schriftsteller und Philosoph des 20. Jahrhunderts.

Salzkorn 1 / 2024: Brennglas Israel
⇥  Magazin bestellen oder PDF downloaden
Vorheriger Beitrag
Ich habe Hoffnung für dieses Land
Nächster Beitrag
Welches Zukunftsbild werden die Jungen haben?

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Bitte füllen Sie dieses Feld aus.
Bitte füllen Sie dieses Feld aus.
Bitte gib eine gültige E-Mail-Adresse ein.
Sie müssen den Bedingungen zustimmen, um fortzufahren.

Weitere Artikel zum Thema

Archiv