Scheitern erlaubt. Karl Barth und die Kunst, es gut sein zu lassen | OJC

Scheitern erlaubt – Karl Barth und die Kunst, es gut sein zu lassen

Gesellschaft

Ralf Frisch – „Das Werk Gottes des Schöpfers besteht im Besonderen in der Wohltat, dass, was er geschaffen hat, in den Grenzen seiner Geschöpflichkeit als durch ihn verwirklicht sein und als von ihm gerechtfertigt gut sein darf.“1 In diesen Satz komprimiert Karl Barth den Inhalt des Paragrafen 42 der ­Schöpfungslehre seiner „Kirch­lichen Dogmatik“. – Weil Schöpfung ­Gnade, Erwählung und Rechtfertigung aus Liebe ist, heißt ­Glaube an den Schöpfer eigentlich nur, es gut sein zu lassen, statt sich selbst und die Welt unentwegt noch besser machen zu wollen. Würde man es als Mensch wirklich ernst nehmen, dass Gott die Welt für den Menschen als Raum geschaffen hat, in dem dieser Mensch getrost sein und andere getrost sein lassen darf, dann käme vermutlich neu und anders als in der ­Moderne gewohnt die Güte der Schöpfung in den Blick. Die Welt erschiene dann nämlich deshalb als die beste aller möglichen Welten, weil sie als der Ort erschiene, an dem der Mensch sein darf. […] 

Wer die Welt im Sinne der Schöpfungstheologie Karl Barths gut sein lässt, wird zu einem Perspektivwechsel genötigt, der vielen Menschen der Gegenwart aber nicht zuletzt deshalb ein Dorn im Auge ist, weil er ihrem Selbstverständnis fundamental widerspricht. Dieser Perspektivwechsel würde ihnen zumuten, sich als Gottes Kinder und nicht nur als Resultate gelungener oder gescheiterter Selbsterschaffung und Selbstgestaltung zu verstehen. […] In schöpfungstheologischer Hinsicht geht es aber gerade nicht darum, die Welt zu verändern2, zu revolutionieren und den Menschen als höchstes Wesen einzusetzen. Es geht vielmehr darum, die Welt anders zu interpretieren: als Geschenk des Himmels. Und als ein sehr gutes Geschenk des Himmels müsste diese Interpretation eigentlich in eine Ethik des Lassens münden, wenn der Mensch seiner göttlichen Bestimmung wirklich genügen wollte. 

Der Aktionismus des achten Schöpfungstages

[…] Das Lassen ist aber die Sache des modernen, keines­wegs gelassenen, sondern vielmehr umtrie­bigen und auf Gedeih und Verderb welt- und selbstverändernden Menschen nicht. Dieser Mensch will und muss machen und schaffen. Dass er irgendetwas nicht geschaffen haben und dass sich ein schöpferisch gü­tiger und wohlwollender Gott hinter der Natur der Welt verbergen könnte, wird in der Moderne zunehmend undenkbar und weniger hinnehmbar. Und so radikali­siert sich der ­moderne Mensch, wenn er über­haupt noch mit Gott hadert, zum Hiob. Er schleudert dem im Zuge der Aufklärung und im Zuge der Kulturkatastrophen des 20. und 21. Jahrhunderts immer unglaubwürdiger werdenden Gott die Theodizeefrage entgegen, an der die Vorstellung der Güte Gottes, der Güte der Welt und schließlich auch der Güte des Menschen zerbricht. Und am Ende kann der Mensch nicht nur nicht mehr an Gott, sondern auch nicht mehr an den Menschen glauben. […] So erscheint in dieser Neuzeit die Welt nicht mehr als Schöpfung, sondern als Natur, nicht mehr als Raum der Gnade, sondern als Raum der Weltkritik, der Weltverbesserung und der mitunter verzweifelten Welt­konsumierung. […]

Die Idee, die Welt durch Ökologie zu retten, kann als Schwundstufe des Schöpfungsglaubens eines religiös seit den späten sechziger Jahren immer unmusikalischer werdenden Protestantismus begriffen werden. Dieser Schöpfungsglaube sucht sein Heil nicht in einer vertieften theologischen Wahrnehmung und Erfahrung der Welt als Wohltat, sondern in einer Art achtem Schöpfungstag, an dem auf ökologischem oder ­sozialethischem Weg sehr gut gemacht werden soll, was bisher nicht sehr gut war. Anstelle des Schöpfungsglaubens tritt das Werk der Bewahrung der Schöpfung. Aus dem Evangelium wird ein Gesetz. 

Dieses Phänomen ist vielleicht am ehesten sühnetheologisch zu begreifen. Das Argument, der Mensch müsse, was er durch seine Naturbeherrschung zerstört hat, auch heilen, übersieht allerdings die reformatorische Grundeinsicht, dass sich der Mensch leichter deformieren als reformieren kann. Das ist im Blick auf die Zerstörung der Natur tragisch und letztlich wohl nur durch das Verschwinden des Menschen aus der Schöpfung zu verhindern. Bleibt nur zu hoffen, dass Gott selbst dies dauerhaft anders sieht und uns und die Welt dennoch bewahrt, statt die Schöpfung von uns zu befreien. Schließlich befindet der Schöpfer seine Schöpfung ja trotz des Hochmuts und des Elends des Menschen erst nach dessen Erschaffung für sehr gut3 und beschließt trotz aller seiner Bosheit, diesen und die Welt künftig vor einer weiteren Sintflut zu verschonen.4 

Undank als Selbstversklavung der Freigelassenen

[…] Karl Barth wollte eine Welt denken, in der weder Gott alles und der Mensch nichts, noch der Mensch ­alles und Gott nichts ist. Er wollte eine Welt denken, die zugleich die Welt Gottes und die Welt des Menschen ist – eine Welt, in der der Mensch genau deshalb frei ist, weil sein göttlicher Schöpfer und Befreier ihn freigelassen hat. 

Gewiss: In nachgöttlicher Zeit bedankt sich kaum ein Mensch mehr dafür, dass Gott ihn frei sein lässt. Es gehört zur Signatur der Moderne, das Leben nicht als gottgegeben, sondern allenfalls als gegeben hinzunehmen oder sich dagegen aufzulehnen, weil es eben nicht hinnehmbar ist, dass der Mensch nicht anders ist, als er ist. Weil die Welt für den neuzeitlichen Menschen einfach da ist, nimmt sich dieser Mensch die Freiheit, niemandem mehr zum Dank für sein Dasein verpflichtet sein zu müssen. 

[…] Barths „Kirchliche Dogmatik“ spiegelt den Geist einer säkularen Welt wider, deren Menschen Gott – salopp gesagt – nicht einmal mehr ignorieren. Dass sich der Mensch nicht mehr um Gott schert, ist Barth zufolge freilich alles andere als begrüßenswert. Zunächst und vor allem ist es nämlich Ausdruck dessen, dass der Mensch dem Nichtigen erlegen, also Sünder ist. Über diesen Menschen im Herrschaftsbereich der Sünde sagt Karl Barth am Anfang seiner Versöhnungslehre: „Er steht ganz anderswo als da, wo er nach dem, was Gott ihm zugedacht hat, stehen müsste. Er verhält sich gerade nicht als der Partner, den Gott sich als Empfänger seiner Heilsgnade gegeben hat. Er hat sich seiner Bestimmung zum Heil widersetzt. […]. Es ist ­dieser Mensch, mit dem Gott es in jener besonderen […] Heilsgeschichte zu tun hat: der Mensch, der sich gerade der Heilsgnade Gottes gegenüber selbst unmöglich gemacht hat. Und nun eben: der Mensch, der damit auch in seinem geschaffenen Sein als Mensch unmöglich geworden ist. […] Sünde als „Auflehnung gegen die Güte Gottes“5 führt uns ins Elend der Heimat­losigkeit, weil sie den Menschen aus der natürlichen Ordnung der gottgeschaffenen Dinge ­herausbricht.6

Es wird bei der Lektüre der „Kirchlichen Dogmatik“ immer wieder deutlich, dass Barth die Wurzel allen Übels im unbegreiflichen Herausfallen des Menschen aus der intimen Innigkeit mit Gott sieht. Geht es nach Barth, dann ist dieser Mensch eigentlich nur als Embryo im Uterus Gottes gut aufgehoben. Dort, in den Schoß des Vaters, gehört der Mensch, wie Gott ihn schuf. Doch leider leitet der Dämon des Bösen im Verein mit der missbrauchten Freiheit des Menschen gewissermaßen die Wehen Gottes und die Wehen des aus Gott herausfallenden und in die Gottesfremdheit der Welt stürzenden Menschen ein, über den fortan geurteilt werden muss: „Wehe diesem Menschen!“ 

Das Scheitern aller Selbstreinigungsprozesse

[…] Es bedarf der gewaltigen Versöhnungsanstrengung einer göttlichen „Rescue Mission“, um dem Menschen vor Augen zu führen, dass er – in welches Elend er auch geraten ist und in welcher Gottesferne er auch sein Unwesen treibt – niemals aus der Gemeinschaft mit Gott herausfallen kann, weil der heimgekehrte Menschensohn Jesus Christus den Menschen in die Einheit mit Gott aufgenommen7, in seine göttliche Heimat heimgeholt und ihn als Mensch „in und mit sich selbst an die Seite des Vaters“8 […] versetzt hat. Dass wir durch diese „Rescue Mission“ versöhnt sind, heißt aber nicht, dass wir faktisch andere Menschen geworden wären. Weil wir als die Gottfernen, die wir sind, versöhnt sind, können wir es uns ersparen, uns Selbstreinigungsprozeduren zu unterziehen, die uns zu sündlosen, gottgefälligen und vollkommenen Menschen machen sollen, sie funktionieren ohnehin nicht.  

[…]

Die theologische Tatsache, dass alles gut ist, weil Gott alles gut gemacht hat, gilt auch dann, wenn sie keinem Menschen mehr etwas bedeutet – aus welchen Gründen auch immer. Ernster kann man die Idee der Objektivität, also des Vorausgesetztseins Gottes, nicht nehmen. Und ernster kann man auch die Idee der Rechtfertigung des Sünders nicht nehmen, der Gott nichts schuldet, nicht einmal seinen Glauben.

Dass dieser Glaube ein Geschenk Gottes und keine Leistung des Menschen ist, sicherten die Reformatoren bekanntlich geistestheologisch ab. Aber da der Heilige Geist weht, wo er will, und da er unverfügbar ist, kann es eben im Extremfall auch sein, dass es Epochen gibt, in denen dieses Wirken ausbleibt. […] 

Karl Barths Theologie ist insofern eine Theologie für unsere Epoche, als sie die Gottesvergessenheit dieser Epoche theologisch ernst nimmt und aufbewahrt, ­ohne sie im Geringsten zu beklagen. […] Barth zufolge ist in den Augen Gottes, die gnädig auf den Menschen blicken, auch jener Mensch sehr gut, der in großer Gottesferne selbstsicher sein Wesen verwirklicht oder sein Unwesen treibt – ebenso, wie jener Mensch sehr gut ist, der die ihm geschenkte Zeit vertut. Sehr gut ist in den Augen Gottes der Mensch, der sich zu Höchstleistungen aufschwingt. Und sehr gut ist auch der sogenannte Versager, der fortwährend an seinem Leben zu scheitern meint und darüber frustriert ist. Der Mensch, der sich gesundheitlich zugrunde richtet, ist ebenso sehr gut wie der Mensch, der Sport treibt und sich ausgewogen ernährt. All diese Menschen sind in den Augen Gottes sehr gut. Sie müssten es sich – so Barth – nur gesagt sein lassen, um sich und ihr Leben gut sein lassen zu können. Weil die meisten dies aber nicht tun, führen phänomenologisch gesehen leider faktisch nur die besonders Frommen, die besonders Selbstbewussten und Selbstvergessenen, die besonders Dickfelligen und die besonders Optimistischen ein Leben, dem man anmerkt, dass es von ihrer Rechtfertigung Zeugnis ablegt – und sei es auf gänzlich unbeabsichtigte, zutiefst weltliche Weise. Die anderen, also die Pessimisten, die Unzufriedenen, diejenigen, die bis zum Burnout und bis zur Depression an sich arbeiten oder sich untätig hängen lassen, kommen leider nicht in den subjektiven Genuss des glücklichen Bewusstseins dessen, was sie schon sind: geliebte Kinder Gottes. Ihnen wird das subjektive Erleben der Befreiung von der verfluchten Subjektivität nicht zuteil. […]

Die Unumgänglichkeit des Sabbats 

Karl Barths Theologie ist eine generöse Theologie der Generosität Gottes, der es nicht nötig hat, den Menschen, den er geschaffen und mit sich versöhnt hat, nicht sein zu lassen, wie er ist. Trotz aller Verworfenheit des Menschen verwirft Gott nicht den Menschen, sondern sich selbst. Weil Gott ereilt, was uns ereilen müsste, sind wir frei. Und weil Gott auf eine Weise Gott ist, die sich des Menschen erbarmt, liegt es eigentlich nahe, was dem Menschen seltsamerweise fernliegt: dass der Mensch sich an seinem Menschsein und an seinem Sosein genügen lässt, statt es unentwegt auf ein anderes, vermeintlich höheres Sein hin überschreiten zu wollen. 

Denn auch dann, wenn der Mensch sein Leben verhunzt oder von der rätselhaften Gewalt des Bösartigen um dieses Leben gebracht wird, kann er nicht tiefer fallen als in Gottes Hand. Was auch immer er mit sich anstellt: Der Mensch ist, was er ist, nämlich Mensch Gottes. Und was immer der Mensch aus sich macht, nicht aus sich macht, erfährt oder erleidet, führt ihn Barth zufolge weder näher zu sich selbst noch näher zu Gott. Ebenso führt es ihn nicht weiter von sich selbst oder von Gott weg – selbst dann nicht, wenn der Mensch der nichtigen Macht der Sünde und des Bösen verfällt und daher eigentlich für Gott gestorben sein müsste. […]

Weil der Mensch trotz seiner Sünde und trotz der Macht des Bösen von Gott geliebt ist, kann er also nach Barth getrost sein, was er ist – und zwar nicht zuletzt deshalb, weil Gott am Kreuz die Sünde und das Böse als das Nichtige offenbart und das Einzige, was dem Menschen wirklich den Garaus machen könnte, zur Ohnmacht verurteilt hat. So zynisch es klingt: ­Alles Geschöpfliche, das dem Menschen das ­Leben nehmen will, ist ein Zipperlein angesichts dessen, dass Christus das wirklich lebensabträgliche Nichtige am eigenen Leib so aus der Welt geschafft hat, dass es nur mehr als Phantom sein Unwesen treiben kann. 

Man könnte Karl Barth angesichts dieses Umgangs mit dem Lebensgefährdenden einen großen Verharmloser des Bösen nennen. Man könnte Barths theologische Überzeugung aber auch ganz schlicht als Ausdruck des Glaubens verstehen, dass uns weder Hohes noch Tiefes noch eine andere Kreatur von der Liebe Christi scheiden kann.9

Anmerkungen:
1 KD III,1, 377.
2 Karl Marx, Thesen über Feuerbach, in: Marx-Engels-Werkausgabe ­Bd. 3, Berlin, 9. Aufl. 2001, 535.
3 Siehe Gen 1,31.
4 Jedenfalls Gen 8,21 zufolge. 162 KD IV,1 , 9f.
5 KD III,3, 351.
6 A. a. O., 350.
7 KD IV,2, 44.
8 A. a. O., 47.
9 Röm 8,39

 

Salzkorn 4 / 2020: (W)erschöpft? Ökologie und Hoffnung
⇥  Magazin bestellen oder PDF downloaden
Vorheriger Beitrag
Micha, lass uns reden – Einladung zum Bibelgespräch
Nächster Beitrag
Cloud frisst Erde – Die Illusion einer umweltverträglichen Digitalisierung

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Bitte füllen Sie dieses Feld aus.
Bitte füllen Sie dieses Feld aus.
Bitte gib eine gültige E-Mail-Adresse ein.
Sie müssen den Bedingungen zustimmen, um fortzufahren.

Weitere Artikel zum Thema

Archiv