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Rhythm is it – Ein wilder Charismatiker entdeckt die Liturgie

Pete Greig – Es gab eine Zeit in meinem Leben, da konnte ich die Art von charismatischem Freistil-Gottesdienst einfach nicht mehr ertragen, wie ihn meine eigene Gemeinde damals feierte. Meiner Frau Sammy ging es furchtbar schlecht und mein Herz war einfach zu verwundbar für den allwöchentlichen Spießrutenlauf der Spontaneität. Und so kam es, dass ich sonntags früh aufstand und mich davonstahl zu einer kurzen, ­anonymen Eucharistiefeier in unserer anglikanischen ­Kathedrale am Ort, dieser riesigen „Scheune mit Fächer­gewölbe“. Ich hoffte, von niemandem erkannt zu werden, war ich doch der Leiter einer der wildesten, charismatischsten und am wenigsten traditionellen Gemeinden der Stadt! Nach dem Gottesdienst zog ich mir manchmal die Kapuze meines Pullovers über den Kopf, als käme ich aus einem Stripclub und nicht aus einer ­Kathedrale. Ich schämte mich, dass ich mich auf diese Art von Liturgie einließ und sie sogar zu schätzen lernte, die wir oft als „tote Religion“ oder „unnütze Wiederholungen“ verächtlich gemacht hatten. 

Und dennoch ging ich mehrere Monate immer wieder hin, weil ich es so wertvoll fand, wie jedes Wort im Gottesdienst in diesem alten Gebäude wichtig zu sein schien. Nichts war dem Zufall überlassen. Wenn deine Seele völlig erschöpft ist und du keinerlei Vorstellungskraft und Initiative mehr hast, ist es eine Erleichterung, von jemandem, dem du vertraust, zu hören, was du sagen sollst. Auch das Empfinden, Teil von etwas sehr Altem zu sein, war mir wertvoll – von etwas, das größer war als meine chaotische Notlage und stärker als mein zerbrechlicher Zustand. Die Vorhersehbarkeit der Lesungen und der gelassene Rhythmus des liturgischen Ablaufs machten mich ruhig. Ich empfand sie als Entlastung und Erleichterung. 

Das war eine wichtige Zeit, aber mit zunehmender innerer Erholung begann ich die vertraute Freude der freien Anbetung zu vermissen. Auch meine Gemeinde, die auf Beziehungen gründet, und der Dienst in der Kraft des Heiligen Geistes fehlten mir. Aber noch heute schätze ich, neben den spontanen Ansätzen, festgelegte Gebete und Gottesdienste. Mein eigenes Gebetsleben ist eine Mischung aus Sprachengebet und informellem Plaudern mit Gott während des Tages, dem ­ignatianischen Gebet des Examens (dem Gebet der ­liebenden Aufmerksamkeit), regelmäßigen Einkehrtagen im Kloster, dem Book of Common Prayer aus dem ­16. Jahrhundert und sogar der Mitgliedschaft in einem religiösen Orden.1 Ich bin überzeugt, dass ­Liturgie als ein Ausdruck der Anbetung ebenso sehr zu der zweitausend Jahre alten charismatisch-freikirchlichen ­Tradition gehört wie zu allen anderen.

Authentische Anbetung ist in biblischen Realitäten verankert, die größer sind als unser eigenes quecksilbriges Temperament. Wir sehen dies im Leben Jesu, der dreimal am Tag gewissenhaft innehielt, um das Schma („Höre, Israel“) zu rezitieren und vor den Mahlzeiten zu danken.2 Sein eigenes Buch der vorformulierten Anbetung – die Psalmen – war so tief in seiner Seele verwurzelt, dass er es sogar am Kreuz betete.

Durchdachte Gebete, die von anderen geschrieben wurden, und besonders die in der Bibel, können uns in die Lage versetzen, Dinge auszudrücken, die wir schwierig finden, und Dinge anzusprechen, die wir sonst vielleicht übersehen würden. Wenn ich immer nur mit Gott über das plaudere, was mir gerade durch den Sinn geht, werde ich mich nur sehr selten daran erinnern, zum Beispiel Paulus‘ Befehl zu gehorchen, unsere politischen Führer im Gebet zu unterstützen.3 Zu den Vorteilen ­eines festen Gebetsortes gehört es, dass man sich dahin begeben kann, auch wenn einem nicht nach Beten zu­mute ist. Die Liturgie kann das verbale Äquivalent eines solchen Ortes sein! Sie gibt deinen Gebeten eine feste Struktur – einen einheitlichen Rahmen – auch dann, wenn du nicht beten willst oder nicht weißt, wie, oder keine Worte finden kannst, um auszudrücken, was dir auf dem Herzen liegt. Wenn du dich für ein vorformuliertes Gebet entscheidest, sagst du zu Gott: „Ich weiß nicht, wie ich mich jetzt ausdrücken soll, und mir ist nicht wirklich nach Anbetung zumute, aber dennoch: Hier ist meine Opfergabe.“

„Vieles spricht für Wiederholung im Christsein“, sagt der Theologe Stanley Hauerwas. „Bei Evangelikalen wird nicht genügend wiederholt, damit Christen in einer Welt überleben können, die uns beständig zu der Überzeugung verleitet, wir müssten immer etwas ­Neues tun.“4 Wenn wir festgelegte Gebete wiederholen, werden wir von mehreren tausend Jahren des Glaubens geformt und sie beten durch uns, was inmitten der Subjektivität unserer zersplitternden Kultur ­eine Solidarität (in jedem Sinne dieses Wortes) mit dem ganzen Volk Gottes schafft. Wie jeder Tänzer weiß, kann ganz mechanisches Üben wichtig sein.Unsere Freundin Sabina hat die meisten Tage ihrer Kindheit und bis ins Erwachsenenleben hart für ihren Traum trainiert, eine Ballerina zu werden. Nach Jahren schwerer Arbeit erreichte sie schließlich ihr Ziel und schaffte es als Tänzerin für das Königliche Ballett auf die Weltbühne, bevor sie Ende zwanzig ihre Karriere beendete. Aber jetzt, wo Sabina ihre Ballettschuhe gegen die bequemen Sandalen einer jungen Mutter eingetauscht hat, ist es faszinierend zu beobachten, mit welcher Eleganz sie sich stets bewegt. Egal, was sie tut – Geschirr spülen oder Windeln wechseln –, sie bewegt sich wie ein Gedicht. Tanzen ist nicht mehr etwas, was sie tut, aber es ist immer noch etwas, was sie ist.

Ein Freund erzählte uns von seinem Pastor, einem ­außergewöhnlich gottesfürchtigen, eloquenten Mann, der im Alter in die Demenz abgerutscht war. Er wurde immer verwirrter und verlor den Faden im Gespräch. Aber wenn er betete, war es fast so, als sei er geheilt! Die alte Sprachgewandtheit, Weisheit und das Feuer kehrten zurück. Plötzlich war er geistig wieder völlig fit. In gewisser Weise schienen all die Gebete, die er über so viele Jahre hinweg immer wieder gesprochen hatte, nun ihn zu sprechen. 

Wie eine Tänzerin zum Tanz und ein Pastor zum Gebet wird, werden wir alle in das Bild Christi verwandelt … „von Herrlichkeit zu Herrlichkeit“.5 Wie ein Schmetterling aus dem Kokon schlüpft, geschieht unsere Metamorphose durch die Verpflichtung heiliger Gewohnheiten, das Schulen von Nervenbahnen, durch festgelegte Gebete und die geistlichen Übungen, die wir in unserem Leben praktizieren.

Von Pete Greig

Anmerkungen:

1 Mehr Informationen über The Order of the Mustard Seed siehe www.orderofthemustardseed.com.

2 Alle Juden zur Zeit Jesu beteten diese festgelegten Gebete. Hätte Jesus das nicht getan, wäre es in der Heiligen Schrift erwähnt worden. Hinweise der liturgischen Praxis Jesu sehen wir darin, dass er gewöhnt war, die Synagoge zu besuchen, dass er die großen Feste feierte, und z. B. in Matthäus 14,19, wo Jesus vor der Speisung der Fünftausend Gott Dank sagte.  

3 1. Timotheus 2,1-2

4 Aus einem Interview mit Dr. R. Albert Mohler in der Sendung Speaking in Public.

5 2. Korinther 3,18 Luther.

 

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