Mit geschärftem Blick. Hommage an die Väter | OJC

Mit geschärftem Blick – Hommage an die Väter

Gesellschaft

Barbara Fuchs – Selbst nun an der Schwelle zum Alter erlebe ich in den letzten Jahren, wie einer nach dem anderen der „Alten“, der „Väter“ und der Lehrer stirbt. Oft macht mich das nachdenklich, ab und zu mischt sich ein Quäntchen Wehmut hinein, ein leises Gefühl, zunehmend mit „der Welt“ alleine gelassen zu werden, und manchmal wäre da der Wunsch, mit dem einen oder anderen vielleicht doch noch mal zu sprechen. Manches würde ich heute fragen wollen, was mir in jüngeren Jahren so gar nicht in den Sinn gekommen oder bedeutsam erschienen wäre.

Im Bedenken der eigenen Biografie wird mir deutlich, wer von all denen aus der „Vätergeneration“ die Struktur meines Denkens, meiner Sicht auf die Welt, das Leben, die Menschen und mich selbst mit einem Gedanken, einem Satz, im Nahumfeld oder persönlichen Kontakt wesentlich geprägt hat.

Sie haben mich erzogen, ausgebildet, herausgefordert, ermutigt, ich habe mit ihnen vielfältig ausdauernd diskutiert und gestritten. Ich erinnere mich gut an den gefürchteten strengen Englischlehrer, der sich darauf einließ, mit mir eine geschlagene Schulstunde lang um die Übersetzung eines einzigen Wortes zu diskutieren, das die Bedeutung eines Satzes bestimmte, und der sich schließlich geschlagen gab.

So manchen ironischen Satz oder Witz, das eine oder andere Wortspiel meines eigenen Vaters höre ich bis heute. Sie geben mir immer wieder neu Stoff, um eigenes daraus zu machen. Durch mein Leben begleitet mich sein unbedingtes Interesse für Geschichte, Literatur und wirtschaftliche Zusammenhänge, die Lust an geistiger Auseinandersetzung, seine Vorliebe für gutes Essen und ein gutes Bier.

Oft und intensiv habe ich nachgedacht über die Väter meiner Generation, die in den fünfziger Jahren, von heute betrachtet so wenige Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg geboren ist. Unsere Väter waren in den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts geboren. Und meiner musste wie viele Gleichaltrige von der Schulbank weg als Jugendlicher schon Soldat werden. Wie sehr das diesen begabten, klugen und sensiblen Mann sein Leben lang geprägt hat, habe ich leider erst lange nach seinem Tod im eigenen reiferen Alter begreifen können.

Gute Väter für ihre eigenen Kinder waren sie nicht immer, diese Männer, viele von ihnen mussten selbst mehr oder weniger ohne Vater zurechtkommen, Vaterfunktionen für jüngere Geschwister oder die Partnerrolle für ihre Mütter übernehmen, als sie selbst noch Kinder oder Jugendliche waren. Ihre Kindheit und Jugend fand mehr oder weniger im Krieg statt. Noch nicht volljährig mussten sie an die Front, kamen in Kriegsgefangenschaft und durften wieder zurück nach Hause – nicht aber in einen Film, der erst ab einundzwanzig Jahren freigegeben war.

„Was nicht frei macht, ist auch nicht wahr und was nicht wahr ist, macht auch nicht frei… manchmal wird die Wahrheit unter den Teppich gekehrt und dann wird sie mit Füßen getreten.“ Das hat der große evangelische Theologe Eberhardt Jüngel Ende der siebziger Jahre in einer Stiftskirchenpredigt in Tübingen gesagt. Dieser Satz ist aus Studententagen mit mir bis heute durch mein Leben gegangen. Und der Schweizer Psychiater Hans Heimann vermittelte mir in seiner Grundlagenvorlesung den bis heute entscheidenden Grundsatz der Arbeit mit psychiatrischen Patienten als Regel zur Wahrung ihrer Würde: „Fragen Sie so viel wie nötig und so wenig wie möglich.“

Horst-Klaus Hofmann hat mir den Blick für Zusammenhänge geschärft zwischen Lebensstil, lebendigem christlichen Glauben, Politik und Wissen über Zusammenhänge aus der Geschichte. Viele Gäste aus aller Welt habe ich in seiner Umgebung erlebt. Ich habe gelernt, wie wichtig Gastgeschenke sind. Und sein Blick auf das südliche Afrika hat mich zu eigenen Erfahrungen verlockt. Unzählige seiner Bibelarbeiten zu Römer 12,2 habe ich gehört. Ich habe immer wieder nachgedacht über „Suchet der Stadt Bestes“ und über „Ich will euch Zukunft und Hoffnung geben“. Und er war weit und breit der erste Mensch, den ich kannte, der einen „Solidarność“-Sticker am Revers trug. Gelehrt hat er mich, dass ein Satz nicht falsch ist, bloß, weil er von Lenin gesagt wurde, und dass er auch nicht zwangsläufig richtig ist, wenn er von Billy Graham stammt.

René Padilla, dem Pastor aus Südamerika, bin ich mehrfach in Bensheim begegnet und konnte ihn in seinem Tagungszentrum in Buenos Aires erleben. Er hat meinen Blick geschärft für die Welt außerhalb Europas.

Hans Lachenmann als reflektierter und streitbarer Württemberger Theologe hat mir noch so manchen Lesestoff hinterlassen, die gründlichere Befassung mit biblischen Texten angeregt, und ich denke gerne an die Gespräche mit ihm in der Imshausener Bibliothek zurück.

Benyamin Maoz, Sohn eines Kasseler Rabbiners, Mitentwickler des Konzeptes der Resilienz, hat meine berufliche Entwicklung in der Ausbildung zur Balintgruppenleiterin auf etlichen Tagungen in Würzburg mitbegleitet. Er hat mich auch gelehrt, bei der Anamneseerhebung Patienten zu fragen, ob sie denn Freunde hätten, da dies für die weitere Behandlung von wesentlicher Bedeutung sei.

Hartmut Radebold hat mein Interesse geweckt, mich mit den psychischen Folgen des Zweiten Weltkrieges psychotherapeutisch zu befassen, mich zu interessieren für „die Schatten der Vergangenheit“, für Kriegskinder und meine Generation der „Kriegsenkel“.  Sein psychoanalytischer Blick auf Heimat hat mir neue Blickwinkel eröffnet und seine Vorträge hatten erheblichen Einfluss auf meine psychotherapeutische Sicht.

Die Stimmen von Egon Bahr, Hans-Dietrich Genscher, Helmut Schmidt, Helmut Kohl, Peter Scholl-Latour waren mir aus unzähligen Reden, öfter im Radio als im Fernsehen, über Jahrzehnte vertraut. Und ein Gespräch des greisen Helmut Schmidt: „Ein letzter Besuch, Begegnung mit der Weltmacht China, Gespräch mit Lee Kuanyew“, hat mich sehr angerührt. Die beiden alten Männer sprechen einander zuerst ihr Mitgefühl über den Tod ihrer Ehefrauen aus und versuchen dann Rück- und Ausblick auf die Dynamiken der Weltpolitik.

Etliche wichtige Väter, die mein Leben wesentlich geprägt haben, sind hier namentlich unerwähnt. Was mir bleibt, ist die Frage, wie sich denn nun umgehen lässt mit dem reichen Erbe der Väter. Und ich frage mich, was meine Generation der fünfziger Jahre denen, die uns folgen, an geistiger und geistlicher Substanz hinterlassen wird.

Salzkorn 4 / 2021: OFFENSIV
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