Dein Schicksal ist nach vorne offen. Herkunft, Heilung, Zukunft | OJC

Dein Schicksal ist nach vorne offen – Herkunft, Heilung, Zukunft

Melinda Cathey hat zusammen mit Alex Krutov The Harbor – Der Hafen in St. Petersburg (RU) für ­junge Erwachsene gegründet, die als Waisen aufgewachsen sind. Als Psychotherapeutin hat sie ihre Nöte und den Mangel gesehen, und sie ermutigt, das Leben dennoch anzupacken. 

Melinda, in der Auseinandersetzung mit deiner eigenen Lebensgeschichte ist dir aufgefallen, das etwas über Generationen hinweg immer wieder auftaucht: Schwermut.

In meiner Familie scheint es eine Veranlagung zu Depressionen zu geben. Angefangen hat es vermutlich mit meiner Ururgroßmutter, die eine sehr traumatische Erfahrung gemacht hatte. Seit vier Generationen gibt es diese Veranlagung.

In deiner Ausbildung zur TBRI*-Therapeutin hast du dich mit dem ziemlich neuen Zweig der Neurowissenschaften, der Epigenetik befasst. Was ist dir dabei klargeworden? 

Plötzlich habe ich verstanden: Das Trauma meiner Ururgroßmutter hat vermutlich ihre DNA verändert und das Depressionsgen aktiviert! Ich kann dir das mit dem Bild eines Computers erklären. Bisher ­hatte man angenommen, dass die DNA unveränder­lich sei und so weitergegeben wird. Aber es gibt, ähn­lich wie Hardware und Software beim ­Computer, zwei Ebenen. In der „Hardware“ sind Dinge wie Größe, Haar- und Augen­farbe festgelegt, ohne diese Ebene läuft nichts. Die „Software“ kann man mit ­verschiedenen Programmen vergleichen. Manche werden gestartet und genutzt, andere nicht. Ähnlich in der DNA: Hier sind unzählige Möglichkeiten angelegt, aber ob etwas gestartet wird oder nicht, hängt auch von den Erfahrungen ab, die wir machen. Sie prägen die Struktur unseres Hirns, seine Entwicklung, Wirkweise und seine ­Chemie. Bei manchen Diagnosen wie z. B. Schizo­phrenie gibt es eine genetische Komponente. Wenn man sich die Geschichte eines Patienten anschaut, gab es vielleicht schon vor zwei oder drei Generationen traumatische Erfahrungen, die die DNA verändert haben. D. h. er hat die genetische Disposition, und wenn er traumatische Erfahrungen macht, besteht ein größeres Risiko, dass er krank wird. Das Trauma aktiviert die Neigung, die genetisch schon da ist. Das erklärt Strukturen über Generationen hinweg. Aber das ist kein Schicksal! Es ist wichtig zu verstehen, dass ich eine Veranlagung habe, die mich anfälliger für ­Depressionen macht. Aber wenn das nicht aktiviert wird, dann wird das Programm auch nicht gestartet.

Ist das nicht ein bisschen zu einfach? 

Ja, und auch noch nicht hinreichend erforscht. Aber es passt zu dem, was ich aus der Heiligen Schrift weiß. Der Schlüssel sind die Erfahrungen. Darum sagt Jesus, dass wir unsere Feinde lieben sollen. Nur Liebe kann uns heilen. 

Jetzt mal von Anfang an. Das heißt, die frühen Erfahrungen prägen die Entwicklung eines Kindes sehr stark! Welche Erfahrungen muss ein Kind denn machen, damit es sich psychisch gesund entwickelt? 

Neben den physischen Bedürfnissen wie Nahrung, Schlaf, Wärme und frische Windeln hat es auch emotionale Bedürfnisse nach Nähe, Zuwendung, Berührung. Sie müssen zügig, angemessen, herzlich und zuverlässig gestillt werden. Wenn das geschieht, nimmt das Baby wahr: Ich bin geliebt; das, was ich brauche, ist wichtig, darf sein. Diese Botschaften werden dann im Gehirn als mentale Modelle verdrahtet, die darüber entscheiden, wie ich die Welt sehe, wie ich mich fühle und zu anderen Menschen in Beziehung trete. Wenn ich sicher bin, kann ich entspannen und gehe davon aus, dass die Welt verlässlich ist und Menschen mir liebevoll begegnen. Ich kann lächeln und mich freuen, so dass mein Gegenüber eine gute Erfahrung mit mir macht und mich gut behandelt. Das verstärkt meine Wahrnehmung, dass die Welt gut ist, dass Menschen freundlich sind. So ist der Kreislauf, und der wird in Kopf und Körper „verdrahtet“. 

Klingt schön und eigentlich ganz simpel. Was passiert, wenn es nicht so abläuft? 

Wir haben vor 20 Jahren The Harbor für Waisen in St. Petersburg gegründet, weil wir gesehen haben, wie es in russischen Waisenhäusern zuging. Dort kümmerte man sich um die wichtigsten körperlichen Bedürfnisse. Trotzdem starben Kinder, weil sie nicht berührt oder angesprochen wurden. Mangelerfahrungen passieren aber nicht nur dort: Wenn ich in einer dysfunktionalen Familie aufwachse, meine Mutter ein psychisches Problem hat oder mein Vater gewalttätig ist – ein Elternteil also emotional nicht ausreichend präsent ist –, dann fühle ich mich nicht sicher, angesehen, geborgen und getröstet. Solche Erlebnisse haben großen Einfluss auf uns, weil sie unsere mentalen Modelle prägen. Meine Mutter hatte diese Veranlagung zur Depression, und traumatische Erfahrungen haben das vermutlich aktiviert. Für uns Kinder war sie ­deshalb einfach oft nicht da. Auf der physischen ­Ebene hat sie uns gut versorgt, aber emotional war sie abwesend. Das hat bei mir dazu geführt, dass ich mich alleingelassen gefühlt habe, unsichtbar. 

Es hätte also passieren können, dass du diese Rückkopplung an deine Kinder weitergibst? 

Ja. Aber das ist die gute Nachricht: die DNA kann sich verändern, zum Besseren und nicht nur zum Schlechteren. Negative Erfahrungen können manche Gene aktivieren oder auch deaktivieren, aber posi­tive Erfahrungen können das wieder korrigieren. Im Umgang mit meinen Kindern war es mir sehr wichtig, emotional präsent zu sein. In ihren Köpfen werden nun andere, gesündere Strukturen wirksam. Es ist wunderbar, wie Gott unser Gehirn angelegt hat. So sind Veränderung und Heilung möglich. Das belegen viele ­wissenschaftliche Studien. Unsere Lebensgeschichte muss kein Schicksal sein. Die Wissenschaft belegt, dass das, was die Bibel lehrt, stimmt. Wenn wir in der Heiligen Schrift lesen, finden wir überall Hinweise, die der Herr eingestreut hat: Wer so lebt und liebt, wie er es uns vorgemacht hat, wird die heilsamen Veränderungen, von denen die Neurowissenschaften sprechen, erleben. 

Was kann jemand, der keine neurowissenschaft­lichen Kenntnisse hat, praktisch tun? 

Wir können uns mit unserer Geschichte auseinandersetzen, um zu verstehen, wie wir uns selbst und unsere Identität sehen. Wenn es in der Schrift heißt: Siehe, du liebst Wahrheit, die im Verborgenen liegt, und im ­Geheimen tust du mir Weisheit kund (Ps 51,8), dann meint das Selbsterkenntnis. Wir alle haben falsche Vorstellungen von uns selbst, von der Welt und von Gott. Wir müssen also unsere Sicht mit der Sicht ­Gottes über uns in Übereinstimmung bringen. Was sagt er über unsere Identität und über die Welt?

Was heißt das?

Beim Lesen in der Bibel und beim ­Nachdenken über diese Zusammenhänge ist mir aufgefallen, welche Aussagen Gott über seine Beziehung zu uns macht: Ich sehe dich, ich höre dich, ich kenne dich, ich bin bei dir, ich verlasse dich nicht, ich werde dich beschützen, ich werde für dich sorgen, dich trösten und deine Not stillen. So bin ich. Ich bin, der ich bin. Ich sehe die Vögel, ich kümmere mich um die Blumen auf dem Feld, vertraue mir. Wenn wir in diesen Zusagen ruhen, sind wir wie ein Baby auf dem Arm der Mutter, oder wie Jesus, der mitten im Sturm schlafen konnte, weil er im Arm seines Vaters ruhte. Er will, dass wir auf seinen Arm klettern und uns in ihm und seinen Zu­sagen bergen. Das sind gleichermaßen die Botschaften einer nährenden und vertrauensvollen Beziehung, die jedes Baby, jedes Kind von seiner Mutter und seinem Vater hören sollte. Wer das hört, kann eine gute, vertrauensvolle Bindung aufbauen. Der Bindungszyklus ist eine Metapher für Gottes Charakter. Als Babys sind wir vollkommen hilflos. Und wenn wir erwachsen sind, führt diese Verletzlichkeit zu Ängsten und Depressionen verschiedenster Art. Wir brauchen jemand, der für uns sorgt, und Gott sagt uns das in seinem Wort immer wieder zu.  

Worauf müssen wir also im Miteinander achten? 

Wir müssen so aufmerksam aufeinander achten wie Eltern auf das Neugeborene. Die Mutter eines Neugeborenen ist einfach nur anwesend und aufmerksam. Das ist auch unsere Aufgabe im Umgang miteinander: aufmerksam sein. Das ist so ziemlich das Wirkmächtigste, was wir tun können. Einander lieben, heilen und verändern, indem wir gegenwärtig sind. Ich weiß, was bei dir los ist. Ich sehe dich, und du spürst das. Ich höre deinen Schmerz und deine Freude. Und wir können einander trösten, miteinander weinen, einander halten, zusammen beten, vielleicht auch füreinander kochen oder was immer sonst gebraucht wird. Wir sind dazu da, einander die Bedürfnisse zu stillen. Das ist etwas, das in Familien passiert, aber auch in Gemeinden, Gruppen, Gemeinschaften. Es ist etwas, was wir aktiv tun können.

Und warum klappt das so selten? 

Um schlechte Erfahrungen mit guten zu überschreiben, muss man dazu bereit sein, man muss sie empfangen wollen. Diese Einsicht muss zuerst da sein. Wenn es um Bedürftigkeit und Schwäche geht, ist viel Scham im Spiel. Die Gemeinden sind da oft nicht sehr hilfreich. Wir müssen uns schuldig bekennen, ein falsches Narrativ geschaffen zu haben, indem wir behaupten, dass alles in Ordnung sei, sobald man nur Christ geworden ist. Aber wir sind Menschen auf einer Reise. Die Reise zur Heiligung dauert unser ganzes ­Leben. Wir werden sie erst vollenden, wenn wir in der Ewigkeit sind. 

Lassen sich falsche Narrative korrigieren? 

Es ist sehr wichtig, dass wir unsere eigene, oft „unerhörte“ Geschichte erzählen. Das trägt entscheidend zur Heilung bei. Unerhörte Geschichten haben toxischen Einfluss – auf Körper und Geist. Ich denke an eine junge Frau, die den Abschuss in The Harbor gemacht hat. Ihre leibliche Mutter gab sie weg, weil man eine körperliche und geistige Behinderung vermutet hatte. Sie kam in ein Waisenhaus für behinderte Kinder. Die Betreuer haben für diese Kinder nur das absolute Minimum getan. Die junge Frau kam also aus einer Umgebung, in der man sich nicht um sie gekümmert hat zu The Harbor, wo sie riesige Fortschritte machte. Wir haben sie körperlich und geistig untersuchen lassen und festgestellt, dass sie völlig gesund ist. Ich war davon überzeugt, dass es ihr helfen würde, einige der vielen, zutiefst peinigenden, schmerzhaften und beschämenden Geschichten zu erzählen. Deshalb fragte ich sie, ob sie bereit sei, mich mit zu dem Waisen­haus zu nehmen und mir zu zeigen, wo sie aufgewachsen ist. Wir sind um das Gebäude gegangen und sie erzählte mir, was hinter diesem und jenem Fenster geschehen war. Wir konnten lachen über Sachen, die sie auf dem Spielplatz erlebt hatte, und weinen und schluchzen, als wir ihren Schulweg nachgingen. Jeder Schritt war voller schmerzhafter ­Erinnerungen, aber auch einiger froher. Sie musste sich an beides erinnern und beides erzählen. Und es war wichtig, dass jemand bei ihr war. Ich war zutiefst bewegt, konnte sie in den Arm nehmen und mit ihr weinen. Das war sehr heilsam, für uns beide. Wir ­können füreinander „Heilungsbeauftragte“ sein. Wir können einander zur Heilung helfen, und die negativen Erfahrungen mit Menschen korrigieren. Dazu brauchen wir einander in dieser Welt.

Welche Rolle spielt dabei der Glaube? 

Wir versuchten, der Frau zu helfen, Körper, Geist und Identität an dem auszurichten, was Gott über sie sagt: dass sie geliebt ist, dass es Menschen gibt, denen sie am Herzen liegt und die sich um sie kümmern. Ihre Geschichte lehrt uns, dass wir nicht nur davon reden können, dass jetzt alles gut ist, sondern dass es ein Prozess ist von Lieben und Geliebt werden.

*Trust Based Relational Interventions, Attachment and Trauma Network

Das Gespräch führte Birte Undeutsch

 

Salzkorn 1 / 2021: Vom Nehmen und Geben der Generationen
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