Glückssucher – Bohren wir etwas tiefer

Deutschland war als Kind für mich das Paradies schlechthin: Schokolade, Spielzeug und Sicherheit. Alle drei Jahre kamen wir als Missionarsfamilie für drei Monate zum Heimaturlaub aus dem apartheidsgeprägten Südafrika in das Land meiner Eltern. Als ich mit 19 Jahren endgültig nach Deutschland kam, irritierte mich die Unzufriedenheit, das Nörgeln und die Kritik, der ich hier immer wieder begegnete. In meiner Naivität dachte ich: „Mensch, hier ist doch alles vorhanden. Eigentlich müsstet ihr doch einfach glücklich sein.“ Selbst in der gegenwärtigen Zeit stelle ich fest: So bedrohlich die Situation sein mag, für mich kommt es noch lange nicht an die Unsicherheitserfahrung meiner Kindheit heran. Und ich frage mich: Kann man in diesen komplizierten Zeiten überhaupt „einfach“ glücklich werden? Anscheinend eine Urfrage des Menschen. Schon der Philosoph Lucius Seneca stellte fest, dass zwar alle glücklich leben wollen, aber je mehr der Mensch daransetzt, das Glück zu erlangen, „umso weiter von ihm entfernt“ es sich.1

Tiktok und Unlust

„Du bist schließlich im letzten Jahrtausend geboren“ quittierten mir meine beiden Ältesten (18 und 20 Jahre), als ich ihnen erzählte, dass ich jetzt bei Instagram sei. Ich erfuhr, dass diese Plattform schon längst out ist. Tiktok ist das neue Medium.

Nun gut, was macht ein Vater, der Anteil haben möchte an der Lebenswelt seiner Kinder? Es folgte ein Selbstversuch: Tiktok runterladen, anschauen und hängen bleiben. Mein Resümee: Ich bin begeistert von dem Medium! Die vielen kurzen Filme mit einer Mischung aus kreativ-chaotischen Selbstdarstellungen, Nachrichtenschnipseln, poppig aufbereiteten Forschungsergebnissen, Politshows und praktischen Tipps: ungeheuer anziehend für den Alltag. Und manchmal verlor ich mich bis zu zwei Stunden an dem Gerät. Nach erfolgreicher „Studienzeit“ löschte ich die App wieder und stellte an mir fest, was der Forschung schon lange bekannt ist.

Mit jedem Filmchen schüttet mein Hirn den Botenstoff Dopamin aus. Die körpereigene Droge ist dafür bekannt, ein Glücksgefühl zu erzeugen. Da der Rausch so gering ist, bleibt die Wirkung nur von kurzer Dauer und lädt zum nächsten Dopaminkick ein. Ein zärtliches Streichen nach oben ruft das nächste Filmchen auf und sofort wirkt die Substanz. Das ständig ausgeschüttete Glückshormon förderte bei mir allerdings vor allem eines – die Unlust. Die Ablenkung war viel attraktiver, als sich mit schwierigen Fragen auseinanderzusetzen oder diesen Artikel zu schreiben. Was hier passiert, beschreibt der Gründer der Logotherapie und Existenzanalyse, Viktor E. Frankl, in seinem Grundlagenwerk: „Der Mensch, der sich von einem Unglück abzulenken oder sich zu betäuben versucht, löst kein Problem, schafft ein Unglück nicht aus der Welt; was er aus der Welt schafft ist vielmehr eine bloße Folge des Unglücks: der bloße Gefühlszustand der Unlust.“

Chat GPT

Im November 2022 brach ein regelrechter Hype aus um eine neue und frei zugängliche künstliche Intelligenz, die man zu allem befragen kann. Zum Beispiel „Über was hätten Lucius Seneca und Nelson Mandela sich unterhalten, wenn sie die Möglichkeit gehabt hätten, sich zu begegnen?“ In Realzeit spuckt der Generator, der in den kommenden Jahren sämtliche Branchen durcheinander wirbeln wird, tatsächlich etwas Sinnvolles aus, was als Hausarbeit in der elften Klasse wahrscheinlich durchgehen könnte. Auf die Frage an die KI, wie ich glücklich werden kann, erscheint wie von Zauberhand folgender Text:

Es ist wichtig zu beachten, dass das Glück nicht das Gleiche wie die Abwesenheit von Problemen oder Schwierigkeiten ist. Schwierigkeiten und Herausforderungen gehören zum Leben dazu und können sogar dazu beitragen, dass wir uns als Personen entwickeln und wachsen. Es geht vielmehr darum, wie wir mit diesen Herausforderungen umgehen und unser Leben in einer Weise gestalten, die uns Zufriedenheit und Erfüllung bringt.2

Vielleicht nicht besonders tiefsinnig und doch überrascht das Ergebnis des Textgenerators positiv. Die KI räumt immerhin mit einem gängigen Missverständnis unserer Zeit auf. Glück ist „nicht das Gleiche wie die Abwesenheit von Problemen oder Schwierigkeiten“, und Herausforderungen können sogar die Quelle von Zufriedenheit und Erfüllung sein. Erstaunlich, dass die KI zwischen Glück und Erfüllung unterscheidet. Bohren wir eine Schicht tiefer.

Verantwortung ergibt Sinn

„Leben wir, um glücklich zu sein?“ wurde Frankl seinerzeit gefragt. Seine energische Antwort: „Ich bestreite auf das entschiedenste, dass der Mensch ursprünglich und eigentlich Glück sucht. Was der Mensch will, ist einen Grund dazu zu haben, dass er glücklich wird. Hat er einmal den Grund, dann stellt sich das Glück von selber ein. Strebt er aber statt nach einem Grund zum Glücklichsein nach dem Glück selbst, dann versagt es sich ihm, dann entzieht es sich ihm.“3 Glück ist also die Folge von etwas. Glück ist etwas, das sich einstellt, wenn etwas anderes gegeben ist, wie der Grund oder der Sinn des eigenen Lebens.

Jordan Peterson, ein provokanter und dabei einer der inspirierendsten Denker und Debattierer unserer Zeit, schlägt in dieselbe Kerbe: „Was ist eine verlässliche Quelle für positive Gefühle?“ Seine Antwort: Menschen erleben positive Gefühle in Verbindung mit dem Verfolgen eines wertvollen Zieles. „Stellen Sie sich vor, Sie haben ein Ziel. Sie streben etwas an. Sie entwickeln eine Strategie, um das Ziel zu erreichen und dann setzen Sie sie in die Tat um. Während Sie das tun, merken Sie, dass es funktioniert. Das sorgt am verlässlichsten für positive Gefühle.“4 Ein wertvolles Ziel ist es, so Peterson, die Welt zu einem besseren Ort zu machen und Verantwortung zu übernehmen: „Kein Glück ohne Verantwortung.“ oder „Ihr Leben bekommt in dem Maße Sinn, wie Sie bereit sind, Verantwortung zu übernehmen.“5

Berufung auf dem Silbertablett?

Eine Frage, mit der sich viele junge Menschen rumschlagen, lautet: „Was ist MEINE Berufung?“ Sie sehnen sich nach einem besonderen Auftrag, nach einem Ruf Gottes, der auf ihre Situation zugeschnitten ist. Die Sehnsucht ist berechtigt und verständlich. Denn wie oft hören wir, wie erfüllt und glücklich Menschen sind, wenn sie ihrer Berufung und ihren Gaben gemäß leben. Nachfolge ist schließlich ein wesentlicher Grund und Sinn unseres Christseins. Wenn sie dann Gott befragen, stellen sie oft frustriert fest: Sie hören nichts. Gott scheint zu schweigen.

Wenn das Thema im Gespräch mit ihnen auftaucht und wir gemeinsam diese Erfahrung von mehreren Seiten betrachtet haben, stoßen wir auf die Frage: „Hast du vielleicht die richtige Frage mit der falschen Betonung gestellt?“ Gott formuliert nicht erst ein Sonderproblem für uns persönlich und präsentiert es auf einem Silbertablett. Die Probleme liegen auf der Hand und sind sichtbarer denn je. Die Not der Zeit schreit uns auf allen Kanälen entgegen und fragt: Welche Hoffnung hast du für mich? Was ist deine verbindliche und helfende Antwort auf meine Fragen? Oder um Frankl zu zitieren:

Das Leben selbst ist es, das dem Menschen die Frage stellt. Er hat nicht zu fragen, er ist vielmehr der Befragte, der dem Leben zu antworten, das Leben zu verantworten hat.6

Dabei müssen es nicht immer die großen Fragen sein. Es fängt bei einem selber an, in der Ehe, in der Familie, in der Gemeinde und am Arbeitsplatz. Das gilt für die großen Themen mit Außenwirkung, aber ebenso für die kleinen, unscheinbaren, alltäglich-mühseligen Handgriffe, die eine in Treue gelebte Verantwortung mit sich bringt.

Paradox sinnerfüllt

Wir stehen momentan vor der größten pädagogischen Herausforderung unserer Zeit. Wohlstand, Konsum und Sicherheit haben uns anfällig, schwach und bedürftiger gemacht. Das übersättigte Leben im Überfluss macht nicht glücklich und füttert ständig unsere Egologie, die Selbstumkreisung und Selbstverwirklichung zur Perfektion treibt. Glücklich wird der Mensch, wenn er aus seiner Selbstumkreisung ausbricht und lernt, für andere zu leben. Wie sehr ist es nötig, junge Menschen dazu zu ermutigen, Verantwortung für sich und andere zu übernehmen. Wie sehr brauchen wir selber Begleitung, um nicht im abgesteckten und sicheren Terrain zu bleiben und nur zu tun, was überschaubar ist. Wir brauchen in der Nachfolge Wegbegleiter, die uns helfen, die Last und die Mühen nicht zu scheuen und das Kreuz auf uns zu nehmen (Lukas 9,23).

Mein eigenes pädagogisches Erlebnis und die wohl prägendste Gotteserfahrung erlebte ich in der Not in den ersten Jahren meiner Amtszeit als Prior. An einem Tag war es besonders schlimm und ich fuhr raus in den Wald, um an einem einsamen Ort meinen Frust rauszulassen. Ich warf Jesus die Frage an den Kopf: „Warum tue ich mir dieses Amt an?“ Mit einer wirklichen Antwort rechnete ich nicht, ich hatte mich schon auf ein Selbstgespräch vorbereitet, gewürzt mit frommen, rationalen und gutmeinenden Argumenten. Es kam anders. Ein Satz fuhr mir ins Herz: „Ich mute dir dieses Amt zu, weil ich dich liebe.“

An seiner Wirkung in den Tagen darauf merkte ich, wie wichtig er war. An den Umständen veränderte sich nichts, doch mein Blick auf die Umstände veränderte alles. Weil ich anders wurde, konnten sich auch die Umstände ändern. Erst durch diese existenzielle Erfahrung bekam ich eine Ahnung davon, was Frankl meint, wenn er immer wieder betont, „dass die höchste Sinnerfüllungsmöglichkeit paradoxerweise im Leiden besteht, fakultativ, der Möglichkeit nach, also nicht nur trotz des Leidens, sondern im Leiden, durch das Leiden“7 . In solchen Erfahrungen steckt der Stoff und das Potenzial, dass „der göttliche Funken hell“ auflodert (Pinchas Lapide)8 . Freiwillig hätte ich mir so eine Erfahrung sicher nicht ausgesucht. Im Rückblick bin ich dankbar und glücklich für diese tiefe Erfahrung, die in jeder Krise und in Zeiten des Selbstzweifels wie eine Leuchtreklame an der dunklen Wand aufleuchtet. Einfach war es nicht, aber es macht einfach glücklich.

Anmerkungen:
1 „Glücklich leben … wollen alle; aber wenn es darum geht, zu durchschauen, was es ist, das ein glückliches Leben bewirkt, dann ist ihr Blick getrübt; und so schwer ist es, ein glückliches Leben zu erreichen, dass jeder sich umso weiter von ihm entfernt, je hastiger er zu ihm hineilt – wenn er sich im Weg geirrt hat: Wo dieser in die entgegengesetzte Richtung führt, wird die Eile selbst zur Ursache noch größerer Entfernung.“ Aus Lucius Senecas Vom glücklichen Leben
2 https://chat.openai.com
3 Viktor E. Frankl/Franz Kreuzer: Im Anfang war der Sinn. Piper Verlag GmbH, München. 4. Auflage März 1997, S. 52.
4 Jordan B. Peterson, Beyond Order, Finanzbuch Verlag, München 2021, S. 149
5 Jordan B. Peterson, a.a.O., S. 153
6 Viktor E. Frankl: Ärztliche Seelsorge. Grundlagen der Logotherapie und Existenzanalyse, Wien 1982
7 Viktor E. Frankl und Pinchas Lapide: Gottsuche und Sinnfrage. Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh, 3. Auflage, 2007, S. 100
8 ebd. S. 103.
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