Offene Gemeinde gesucht! Ed Shaw wagt sich weit vor

Wie ich auf das Buch „Vertrautheit wagen“ von Ed Shaw kam? Auf Umwegen, mit einiger Skepsis, denn es ist in unserer Gemeinschaft durchaus umstritten. Angefangen zu lesen habe ich es erst, als mir ein junger homosexuell empfindender Mann erzählte, dass er Ed Shaw wirklich hilfreich fand. Da wollte ich wissen, was dran ist. Vorab möchte ich erklären, was dieses Buch nicht ist und m. E. auch nicht sein will: Es ist keine Anleitung für homoerotisch empfindende Menschen, wie sie mit ihren Gefühlen umgehen sollen. Es ist weder eine Broschüre für Eltern, deren Kind in seiner sexuellen Identität unsicher ist, noch ein wissenschaftliches Werk, das die Entstehung von Homosexualität erklären will. Es ist überhaupt in keiner Hinsicht ein abgeschlossenes Statement. Es ist ein sehr persönliches Buch aus der Feder eines homosexuell orientierten Christen und Pastors, der aus Überzeugung keine schwule Identität annehmen will, und der sich auf einen Weg (der Enthaltsamkeit) begeben hat, dessen Ausgang noch offen ist (auch ausdrücklich offen für Veränderung), und es richtet sich auch sehr persönlich an seine Leser, z. B. an solche, die in ihrem Freundeskreis oder in ihrer Gemeinde Menschen kennen, die mit ihrer sexuellen Orientierung ringen. Ed Shaws Anliegen ist es, für homosexuell orientierte Christen (und nicht nur für sie!) einen enthaltsamen Lebensstil (wieder) plausibel zu machen, in Anbetracht eines Zeitgeistes, der dafür keinerlei Verständnis hat. Damit berührt er eine Frage, die sich in vielen christlichen Gemeinden gar nicht mehr stellt: Gibt es außer der inzwischen weit verbreiteten ­kirchlichen Akzeptanz einer „Ehe für alle“, die sich damit geschickt aus der Affäre zieht, und der impliziten Forderung, möglichst schnell heterosexuell zu werden (auch eine Strategie, unbequeme Auseinandersetzungen zu vermeiden), noch einen dritten Weg des Umgangs mit Homosexualität, der obendrein noch mit der biblischen Offenbarung vereinbar ist? Ausgehend von dieser Frage arbeitet sich Ed Shaw mutig vor zu einer biblisch fundierten Sicht auf Sexualität, Identität und Intimität, die mir im evangelischen Kontext so anschaulich, radikal und authentisch noch nicht begegnet ist. Daraus ergeben sich spannende und heikle Fragen.

Von der christlichen Familie

Wie kann man überhaupt in einer christlichen Gemeinde leben, die Ehe und Familie als christliche Lebensform schlechthin propagiert, wenn man aus welchen Gründen auch immer nicht in dieses Raster passt? Der Autor ruft ins Gedächtnis, welche grund­legende Neuerung das Leben und die Lehre Jesu für das Familienverständnis seiner Nachfolger gebracht hat und bietet konkrete Vorschläge für deren Umsetzung im Gemeindeleben – sehr herausfordernd und horizonterweiternd für alle, die mit Ehe und Kindern gesegnet sind! Dabei spielen aufrichtige und tragfähige Freundschaften eine wichtige Rolle, und eine ebenso gesunde wie keusche Intimität: der Mut, sich in ­einem geschützten Rahmen ungeschützt zu zeigen.* Ich denke, dass sehr viele verheiratete und ledige Männer und Frauen in ihrem Leben genau diese Art von Intimität vermissen. Kann es sein, dass wir die Ehe hoffnungslos überladen haben mit Erwartungen an Glück, Freundschaft, Leidenschaft und Nähe – und dabei vergessen, was Geschwister in Christus für einen kostbaren Wert entfalten können, wenn wir uns nur trauen, uns einander zuzumuten?

Vom Lebensglück 

Wie steht es überhaupt um unsere Vorstellung von einem erfüllten Leben als Christ? Unser Umfeld lehrt uns, dass wir tun sollen, was uns Glück verspricht und meiden sollen, was Leiden bedeuten könnte. Wieviel zeitgeistliche Strömung haben wir schon verinnerlicht, dass wir Jesu Anspruch an unsere Hingabe auf das beschränken, was sich gut anfühlt, und die Bibel nur dahingehend gefiltert an uns heranlassen? Wenn wir homosexuell empfindenden Menschen zumuten wollen, ihre Sexualität nicht auszuleben, dann müssen wir uns der Frage stellen, ob Christsein uns heute denn überhaupt noch Kosten oder Mühen abverlangen darf. An welchen Stellen unterscheidet sich unser ­Lebensstil noch von unserem Umfeld?

Von der Suche nach meiner Identität

Die letzte und entscheidende Frage ist die der Identität: Wer bin ich? Im Sinne der biblischen Offenbarung definiert weder Homo- noch Heterosexualität unsere Identität, sondern allein unser Sein als von Gott geliebter und von Christus erlöster Mensch, als Sohn oder Tochter Gottes. Auf dieser Basis machen wir uns als christliche Gemeinde auf den Weg, Christus ähnlicher zu werden. Auf diesem Weg ringen wir alle mit unseren Mängeln, unserer Bedürftigkeit, Verletztheit und Versuchlichkeit. Aber keine dieser menschlichen Begrenzungen kann mir sagen, wer ich bin, nur Gott allein. Kann ich also die Suche nach meiner Identität jemals als abgeschlossen betrachten?

 

Zu all diesen unbequemen Fragen hat sich Ed Shaw aus seiner vielleicht irritierenden Perspektive ein beachtliches Stück vorgearbeitet! Und das alles ohne den Anspruch, hier schon das Maß an Vollkommenheit ­erreichen zu müssen, das uns bei der Auferstehung erwartet. Seine Thesen fordern heraus, docken aber an die Sehnsucht nach aufrichtigen Beziehungen und leidenschaftlicher Jesus-Nachfolge an. Ich bin ihm von Herzen dankbar dafür und wünsche seinem Buch deshalb eine große Verbreitung.

* Diesen Raum bietet in der OJC-Kultur der Austausch – siehe: „Die Perle im Gemurmel“ im Jubiläumsmagazin, SK 2-2018

Von Daniela Mascher

 

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