Fürchte deinen Nächsten! Versuch über den Homo hygienicus 

Fürchte deinen Nächsten! Versuch über den Homo hygienicus 

Matthias Burchardt – Der Lockdown 2020 und die ­Kontaktsperre greifen nicht nur in die kulturellen ­Gepflogenheiten und zutiefst menschlichen Bedürfnisse nach Beziehungen ein, sondern heben auch die Differenz von öffent­lichem und privatem Leben auf. Privatheit wurde durch Home­office und Homeschooling aufgehoben und öffentliches Leben zugleich radikal aus­gesetzt, geschlossen oder abgesagt: ­Gottesdienste, Beisetzungs­feiern, Hochzeiten, parlamentarische Debatten, Ausschussanhörungen für Gesetzgebungsverfahren, Gerichts­pro­zesse, Theateraufführungen, ­Sportereignisse, Kon­zerte, Großdemonstrationen, Kund­gebungen, Jahr­märkte, Volksfeste, Restaurants, Schwimmbäder, Museen, Messen, Events, Einkaufszentren. Diese sozialen Ereignisse sind Erfüllungsorte der Menschlichkeit, Kraftquellen der gemeinschaft­lichen Existenz, überzeitliche und kulturübergreifende Schauplätze einer anthropologischen Selbstvergewisserung. Eine Bestattung etwa ist eben nicht nur ein Akt der hy­gienischen Kadaverentsorgung. Sie ist ein Ritual, das überindividuelle Erfahrungsräume für tradierte Sinngestalten schafft, die das Rätsel des ­In-der-Welt-Seins auslegen und zur gemeinsamen ­Re-Formulierung in Hinblick auf Zukunft einladen. Die Menschen erleben die Zugehörigkeit zu tragender Sinndeutung, sei es als Geschöpfe eines Gottes oder als säkulare Menschen. Dies gilt für alle beschriebenen Orte: Immer schwingt im Sozialraum – unmerklich und doch orientierend – ein Lebensentwurf mit. Das Museum zeigt uns die Geschichtlichkeit unserer Existenz, die Hochzeit reflektiert unsere Geschlechtlichkeit und die Stiftung von Verhältnissen zwischen den Generationen, die aus ­Eltern- und Kindschaft erwächst. Dass wir in der Regel abgestumpft und taub gegenüber dieser Sinndimension sind, unterstreicht, dass die Sinnkraft der Rituale gerade aus ihrer vermeintlichen Selbstverständlichkeit rührt. Spürbar und erkennbar wird all das erst, wenn es uns ent­zogen wird. Der Lockdown beraubt uns vieler Möglichkeiten und Wirklichkeiten, unser Menschsein im Sozialen zu realisieren. Wesentliche Daseinsmomente sind uns zugunsten des Homo hygienicus und seines nackten Überlebens entzogen, Menschlichkeit und Lebenssinn werden uns amputiert. Als Prothese wird die Digitalisierung angepriesen. Sie verspricht, ein taugliches Mittel zur Kompensation zu sein. Die Digitalisierung öffnet nicht nur das Private für Surrogate des Öffent­lichen, sondern sie ermöglicht oder erzwingt auch die Übertragung ursprünglich öffentlicher Funktionen des Soziallebens in die ehemals geschützte Wohnung und hebt damit die Privatheit vollständig auf. 

Die Geburt des Homo hygienicus 

Der Homo hygienicus, von dem hier die Rede sein soll, kommt zu Beginn des Jahres 2020 zur Welt. Er bezieht sein Selbstbild aus dem Verhältnis zu einem Ding, das er gar nicht kennt, denn das Virus, zu dem er sich verhält, ist kein Gegenstand einer möglichen Erfahrung. Es ist unsichtbar und zugleich omnipräsent in Medienberichten und Alltagsgesprächen, die über einen langen Zeitraum monothematisch1 den Hygienediskurs bedienen. Die Qualitätsmedien senden im ausgehenden Winter zunehmend Schockbilder, Darstellungen von bunten Stachelkugeln, die sich als scheinbare Fotografien des Virus darstellen, Bilder von Ärzten in Schutzkleidung, mit der Anmutung von Astronauten oder Soldaten bei der Bekämpfung von Bioterrorismus, Bilder von beatmeten Intensivpatienten auf Isolierstationen, aufgenommen durch trübe Glas­scheiben, Bilder von aufgereihten Särgen und langen Militärkonvois. Damit einhergehend verbreiten die Medien Zahlen und Diagramme, zeigen dramatische exponentielle Wachstumskurven, die ins Unendliche weisen, aber auch Parabeln und Säulengraphiken. Infizierte, Genesene, Gestorbene werden auf Zeitachsen abgetragen. Die implizite Botschaft ist: „Verändere dich und dein Verhalten, sonst geschieht eine Katastrophe in der Zukunft! Wenn du das Falsche tust, treibst du die Kurve nach oben. Wenn du nicht achtgibst, ­findest du dich bald selbst als Zahl in den Opfertabellen ­wieder!“ Man errichtet ein Regime der Zahlen und Kurven: ­Individuelles Handeln und Regierungsmaß­nahmen werden quantitativ fassbar, operationalisiert und auf Ziele hin orientiert und kontrolliert. „Flatten the ­curve“, das Abflachen der Kurve wird als Maxime ausgegeben, also eine zeitliche Verlangsamung der unabwendbaren „Durchseuchung“ der Population, damit die medizinischen Kapazitäten zur Behandlung der Opfer ausreichen. Erst mit zeitlicher Verzögerung erscheint der Hygienediskurs (nicht das Virus) in der unmittelbaren Sichtbarkeit der Menschen und formt sie durch den Geburtskanal des sozialen Drucks weiter zum Homo hygienicus um. Auch der öffentliche Raum wird zur Disziplinierung der Menschen umgestaltet: Vor den Geschäften finden sich Gitter und Absperrungen, die den unmittelbaren Eintritt zugunsten eines Hygieneparcours in Schlangenlinien verwehren. Dabei dienen die Markierungen zur Trennung und Distanzierung, indem sie die Menschen einer Sichtbarkeit ausliefern, die Vereinzelung erzwingt. Texttafeln und Ikonogramme rufen die Verhaltensregeln in Erinnerung. Im Inneren des Supermarktes erklingt nicht nur die übliche Werbung aus den Beschallungslautsprechern, sondern in einem atmosphärischen Kontrast zur Easy-Listening-Musik die Stimme einer freund­lichen Hygienegouvernante, die die Kunden ermahnt, zügig einzukaufen, nicht unnötig Produkte zu berühren und den Abstand zu Mitarbeitern und anderen Kunden einzuhalten. 

Die Maskenpflicht wurde im Rahmen der sog. Lockerungen erlassen, sie ersetzt nicht das Distanzgebot, sondern ergänzt es. In der heißen Phase des Lockdowns reichte im Supermarkt der räumliche Abstand als Schutz aus, im Sinne der Öffnung des öffentlichen Lebens aber kam die obligatorische Mund-­Nasen-Bedeckung dazu. Damit wurde eine rollen- und ortsexklusive Bekleidung entgrenzend auf weite Teile des öffentlichen Raumes ausgedehnt, alle Menschen stellte man symbolisch den Ärzten im OP gleich, die Welt geriet zu einem Hospital. Im Sinne der „Neuen Normalität“, die nichts anderes als die Permanenz des Ausnahmezustands bedeutet, wurde der Begriff „Alltagsmaske“ geprägt. Die Analogie zum „Maulkorb“ ist nicht von der Hand zu weisen. Zwar ist dem Maskenträger das Sprechen noch möglich, allerdings hat, bevor er etwas sagen kann, die Maske immer schon gesprochen. Jeglicher Versuch, durch Sprache Nähe herzustellen, wird durch den akustischen Widerstand der Maske und ihre permanente Distanzbotschaft konterkariert. Der Hygienediskurs läuft als Grundton unterhalb jeglicher Kommunikation mit. Der freie Atem vermittelt ein Gefühl von Weite, die Maske dagegen wirft uns durch Enge und Abgeschlossenheit auf uns selbst zurück.  

Eigenheiten des Homo hygienicus 

Als medizinische Disziplin hat es die Hygiene nicht mit der Versorgung oder Heilung der Kranken zu tun, sondern mit dem Schutz der Gesunden. Hygiene entzieht das Recht auf soziale Partizipation, Ärzte fungieren als Torhüter zwischen dem Kosmos der Gesundheit und der Krankheit. Wiederholte Massentests, Zwangsimpfungen und die öffentliche Markierung von zertifiziert Gesunden durch einen Hygiene-Pass oder einen grünen Punkt, wie an einem Gymnasium in Neustrelitz2, erscheinen deshalb in der Rationalität des Hygieneregimes als sinnvolle Maßnahmen. Gesund-Sein ist nur ein scheinbarer Befund, weil in jeder gesunden Realität die Potenzialität des todbringenden Virus schlummert. Und je weniger man das Virus sieht, umso mehr sieht man alles und jeden im Lichte des Virus. Die ­Medizinhistorikerin Barbara Duden3 hat dieses Drama im Begriffspaar von Gefahr und Risiko gefasst. Gefahr zeichnet sich in der eigenen Wahrnehmung ab, bekundet sich als ein Phänomen. ­Risiko ist eine statistische Wahrscheinlichkeit. Wenn die Turbine des Linienflugzeugs für alle sichtbar brennt, besteht ­offenkundig Gefahr für die Insassen. Das ­Risiko eines Flugzeugabsturzes dagegen ist eine statistisch ermittelte Größe, die rein gar nichts über den Zustand derjenigen Maschine sagt, in der ich ­gerade sitze. Wenn ich aber um den Prozentsatz weiß und unter Flugangst leide, projiziere ich in jedes Geräusch einen möglichen Absturzgrund. Da aber das Virus niemals ein wahrnehmbares Phänomen sein kann – es gibt schließlich auch hustende Menschen ohne Viren­befall und scheinbar Kerngesunde mit positivem Test –, bleibt dem Homo hygienicus nichts anderes übrig, als das Risiko als Gefahr wahrzunehmen. In Umkehr des hygienisch riskanten christlichen Grund-Satzes „Liebe deinen Nächsten!“ generalisiert der Homo hygieni­cus die Krankheitsvermutung und gibt sich den Leitspruch „Fürchte deinen Nächsten!“ Jeder andere Mensch, der ihm gegenübersteht, erscheint als eine Verkörperung der Infektionskurve, als eine todbringende Virenschleuder, welche die winzigen Stachel­kugeln aus der Tagesschaugraphik in seiner Umwelt verteilt. Der Homo hygienicus hat das Zutrauen in ­seine eigene Wahrnehmung verloren, er handelt vor dem Hintergrund innerer Bilder, die sich über seine Erfahrungswelt gelegt haben. Das einzig angemessene Verhalten kann für den Homo hygienicus nur in der Unterwerfung unter den „virologischen Imperativ“4 (Markus Gabriel) bestehen, und zwar im privaten wie im politischen Raum: Hygienismus entwickelt sich zur Ultima ratio. In der Lebensführung folgt daraus eine Haltung des Meidens und Vermeidens, die durchaus Parallelen mit dem Geisteszustand und dem Verhalten von Menschen mit Angststörungen aufweist. Kontaktlosigkeit, Distanz, Abschottung, Misstrauen oder übervorsichtige Rücksichtnahme prägen sein Sozialverhalten. Das Reinheitsideal wird durch rituelle Praxen des Waschens und Desinfizierens angestrebt und zugleich zur sozialen Klassifikation der „Unreinen“ genutzt. Sinnvolle Reinlichkeit wird damit zur symbolischen Reinheit und sozialen Überlegenheit – auch in moralischer Hinsicht – überhöht. Die entlastende Vorstellung der Antike, dass die Natur in uns (physis) aus sich selbst heraus Kraft- und Heilquelle (Abwehrkräfte) sein kann, ist dem neuen Menschen nicht mehr zu eigen. Das Risikokalkül fordert hygienisches Machertum und verstellt den Blick auf das Rettende. 

Ausblick 

Eine vertiefte Analyse, die in diesem Rahmen nicht geleistet werden kann, müsste danach fragen, inwieweit auch der Homo hygienicus 2020 eine systematisch produzierte, steuerbare Figur ist, die zum Preis der ­nihilistischen Gesundheit bereit ist, Demokratie, Kultur und persönliche Entfaltung einer Steuerungselite zu übertragen. Kontrolle und Steuerung aber ­widersprechen ganz entschieden dem Geist der humanistisch-aufklärerischen Demokratien. Die Körper­losigkeit und Enträumlichung des sozialen Lebens missachten die leibliche Existenz des Menschen und seine Angewiesenheit auf Nähe und Berührung. Der Traum von der hygienischen Unsterblichkeit mündet in der Isolationshaft, deren Tristesse durch digitale Prothesen und Sozialsurrogate nicht dauerhaft überspielt werden kann. Ein Zuviel an Hygiene macht krank: Desinfektion und Medikalisierung unterstützten die Entstehung multiresistenter Keime. Wer zu viel desinfiziert, lässt sein Immunsystem verkümmern. Übertriebene Handdesinfektion schädigt die natür­liche Schutzfunktion der Haut, so dass Keime leichter eindringen können. Und wer sich impfen lässt, muss Impfschäden befürchten. Der Homo hygienicus verwandelt sich ohne Not in einen zweiten David Vetter5, der als boy in the bubble tragische Berühmtheit erlangte. Aufgrund eines schweren Immundefektes verbrachte er sein ganzes Leben in einem Kunststoff­isolator. Er verstarb mit 12 Jahren am 22. Februar 1984, ­ohne jemals Wind an seinen Wangen gespürt zu ­haben. Seine Mutter Carol Ann küsste ihn an ­diesem Tag zum allerersten Mal.

Anmerkungen:

1 Der Hygienediskurs gleicht einem großen Radiergummi, der andere heiße Themen zum Verschwinden gebracht hat: der Klimadiskurs und Greta Thunberg verschwanden von der Bildfläche, ebenso wie Harvey Weinstein, Jeffrey Epstein, die Flucht- und Migrationsfrage, das missliebige Abstimmungsverhalten von Abgeordneten in Thüringen oder die offenen Fragen der Landwirtschaftspolitik.

2 „Gesponsert werden die Tests vom Rostocker Biotech-Unternehmen Centogene. Mithilfe von QR-Codes und Aufklebern wird gewährleistet, dass die Proben nicht verwechselt werden. Spätestens am nächsten Tag erhalten die Schüler ihren Befund. Wer nachweislich nicht infiziert ist, erhält ein Namensschild mit einem kleinen grünen Punkt und damit die Erlaubnis, sich frei im Gymnasium zu bewegen. ,Ein Persilschein ist das aber nicht‘, warnte Schulleiter Tesch gegenüber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Die Abstandsregelungen setze der grüne Punkt nicht außer Kraft. Wie der ­ehemalige Kultusminister von Mecklenburg-Vorpommern erklärte, fiele den Schülern das Abstandhalten am schwersten.“ https://www.focus.de/familie/eitern/gymnasium-in-mecklenburg-vorpommern-ein-gruener-punkt-bedeutet-nicht-infiziert-schule-testet-jeden-auf-corona_id_ll983642.html 

3 Barbara Duden/Imke Schmincke: „Die Geschichtlichkeit der Körper­wahrnehmung in der Tiefe ausbuchstabieren.“ Ein Interview mit Barbara Duden. In: Body Politics 7 (2019), Heft 11, S. 49.

4 https://www.nzz.ch/feuilleton/coronavirus-warum-der-virologische-imperativ-auch-gefaehrlich-ist – ld.1548594 

5 https://de.wikipedia.org/wiki/David_Vetter

Aus: Lockdown 2020. Wie ein Virus dazu benutzt wird, die Gesellschaft zu verändern, Promedia, Wien 2020, S. 117-127

 

Dr. Matthias Burchardt, Jg. 1966, Bildungsphilosoph und Publizist, forscht zu Fragen der Anthropologie und reflektiert zeitkritisch gesellschaftliche Transformationsprozesse.

Salzkorn 2 / 2021: Die Weite suchen im Lockdown
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