Evangelisch: Evangelisch kommunitär. Experiment als geistlicher Lebensvollzug | OJC

Evangelisch Kommunitär – Experiment als geistlicher Lebensvollzug

Immer wieder berufen sich Kommunitäten und geistliche Gemeinschaften auf Dietrich Bonhoeffers Vision von einer geistlichen Erneuerung des in die Krise geratenen, kirchlich verfassten Christentums, wie er sie in einem Brief an seinen Bruder Karl Friedrich prägnant auf den Punkt brachte: „Die Restauration* der Kirche kommt gewiss aus einer Art neuen Mönchtums, das mit dem alten nur die Kompromisslosigkeit eines Lebens nach der Bergpredigt in der Nachfolge Christi gemeinsam hat. Ich glaube, es ist an der Zeit, hierfür Menschen zu sammeln.“1

Írisz Sipos – Die programmatische Formel neues Mönchtum diente und dient seither über konfessionelle und geografische Grenzen hinweg als wichtiger Referenzpunkt, sowohl bei experimentellen Gründungen als auch bei deren wissenschaftlicher Beschreibung und Zuordnung. Dabei ist dieses „Mönchtum“, das Bonhoeffer in Gemeinsames Leben weiter ausführt, weder Selbstzweck noch die neue Norm. Bonhoeffer betont, dass ein aus der geistlichen Ödnis „der Welt“ herausgenommenes Leben mit Geschwistern keine Idealform christlichen Lebens, sondern einen besonderen Anruf und ein Geschenk in der Zeit, auf Zeit, darstellt. Er verweist auf das eschatologische Signal: Es soll zum einen die Freude auf das kommende Reich wecken, zum anderen eine Gnadenfrist gewähren, in der Christen Gemeinschaft einüben, um sich auch in der Zerstreuung, ja selbst in der „tiefsten Einsamkeit“, noch im Leib Christi verbunden zu wissen. Erst im Wissen um den Grund von Gemeinschaft: Christus, und unter der Prämisse, sich nicht allzu fest einzurichten, sondern immer neu auf ihn auszurichten, kann verbindliche Gemeinschaft die Sehnsucht nach Beständigkeit, Zugehörigkeit und Beheimatung erfüllen – eben weil sie bereit ist, diese aus einer anderen als der selbst hergestellten Realität zu empfangen. Daraus schöpfen Kommunitäten die Freiheit und den Mut zum Experiment. Denn vor allem das begründet und legitimiert ihr Dasein als eine vierte Gestalt von Kirche: Experimentierraum (EKD Texte 88) zu sein für praktisch und innovativ gelebten Glauben nach dem Evangelium.

 

Über-sich-hinaus leben 

Mag der Ruf zur kompromisslosen Christusnachfolge ein wichtiger Aspekt kommunitärer Gründungen sein; als Unterscheidungskriterium taugt er nicht, da die Bergpredigt für jeden Getauften maßgeblich ist. Ansporn ist vielmehr der dringliche Appell, „hierfür Menschen zu sammeln“, dem um der „Restauration der Kirche“ willen Folge zu leisten ist. Es geht also nicht um ein möglichst effizientes oder auf die eigenen Bedürfnisse zugeschnittenes Design von Nachfolge im passenden Ambiente und mit passenden Gefährten – im Gegenteil! Fokus und Ziel geistlicher Gemeinschaft muss letztlich das Absehen von sich selbst sein: das Absehen von dem Einzelnen im Blick auf das Ganze ebenso wie das Absehen von der eigenen Gemeinschaft im Blick auf das Ganze der Kirche. Nur so wird eine in sich selbst verliebte oder verhakte, korrumpierte Kirche „restauriert“, also fähig, von sich selbst ab und ganz auf Christus zu sehen, der selbstlos Menschen und Kirche im Blick hat. Ihre Erneuerung beginnt mit der Reintegration des Einzelnen in das Gefüge des Leibes Christi: „Ein neuer Mensch werden heißt in die Gemeinschaft kommen, Glied am Leibe Christi werden. Wer allein ein neuer Mensch werden will, bleibt beim alten“ (Bonhoeffer, Nachfolge). Im neuen Mönchtum geht es darum, dem allgemeinen Ruf, sich „in dieser Welt sichtbar um Gottes Wort und Sakrament [zu] versammeln“, (Gemeinsames Leben) in verbindlicher Zugehörigkeit zu einer konkreten Gemeinschaft nachzufolgen. Ausschlaggebend für die Entscheidung jenseits von Vorlieben, Sympathien und Vorstellungen ist, ob sich in dieser konkreten Formation die Freude am Gemeinsamen vertieft und ob die Liebe wächst: zu Jesus Christus und zu seiner Kirche, die konkret in den Geschwistern Gestalt gewinnt. Dieser Anspruch, an dem sich geistliche Gemeinschaften in besonderer Verbindlichkeit messen lassen müssen, ist zugleich ihr ureigenster Auftrag: Sie bilden ein durch Rhythmen des Gebets, durch Ausrichtung des Lebens am Evangelium, wachsende Vertrautheit und Solidarität zueinander und durch den gemeinsam verrichteten Dienst gestaltetes Umfeld, in dem der Einzelne als „neue Kreatur“ ganz er oder sie selbst sein und zu seiner oder ihrer ureigenen Bestimmung finden kann. Das jeweils Besondere daran macht die Vielgestaltigkeit von Nachfolge augenfällig und den „schöpferischen Pluralismus“2 von und in der Kirche zum Programm. 

Zeiten und Beziehungen gestalten

Zeit im Wechsel von Arbeit und Gebet, im Rhythmus von Gottesdiensten, Festen des Kirchenjahres, von Fasten und Genießen, von Begegnung und Rückzug ist nicht nur ein von der Gemeinschaft gestaltetes Element, sondern selbst ein die Gemeinschaft gestaltendes Element. 

Zeit und Raum bilden die konkret erlebbaren, messbaren, verfügbaren Dimensionen der diesseitigen, materiellen Wirklichkeit. Im Hier und Jetzt begegnen Menschen dem allgegenwärtigen und ewigen Gott und kommen mit der jenseitigen, geistlichen Wirklichkeit in Berührung. „Geistliche Gemeinschaften sind betende Gemeinschaften.“3 Indem Gemeinschaften an klösterliche Liturgien wie das Psalmengebet anknüpfen, verorten sie sich im Kontinuum der Geschichte, die so als Heilsgeschichte erlebbar wird. Das Einstimmen in den himmlischen Lobgesang (Jes 6; Apg 4) stellt einen Ewigkeitsbezug mitten im Alltag her, der dem reformatorischen Anspruch, dass alle Lebenssphären vom Heiligen zu durchdringen seien, Rechnung trägt: Mitten in die Geschäftigkeit gehört der Anfang des Mittagsgebets, der sich auch im evangelischen Kirchengesangbuch findet: „Herr, meine Zeit steht in deinen Händen“ (Ps 31,16). Als „Schulen des Gebets“, wie sie Altbischof Ulrich Wilckens nannte, wirken sie so in die Kirche hinein und bieten Anregungen für die eigene Gebetspraxis. Ein geistlicher Rhythmus kann auch helfen, Beziehungen, Ziele, Aufgaben und Vorlieben nach authentischen kreatürlichen Bedürfnissen zu gewichten – eine Fähigkeit, die im beschleunigten und von Leistung und Konsum bestimmten Alltag leicht verloren geht. Das gilt für persönliche wie für gemeinschaftliche Lebensvollzüge im Spannungsfeld von Aktion, Kontemplation, Konspiration und Rekreation. Zu einem geistlichen Umgang mit der Zeit gehört es auch, Bedürfnisse und Potenzial der Lebensalter im sich wandelnden Generationengefüge wahrzunehmen. Zum Prüfstein dafür, ob – wie es die Regel des Benedikt vorgibt – die Jungen die Älteren wirklich ehren und die Alten die Jüngeren lieben, werden die Umbrüche, wenn der Auftrag der Gemeinschaft von einer Generation auf die andere übergeht. Während sich die Gesellschaft zunehmend segmentiert und die Lebensbereiche der Altersgruppen entmischen, suchen Kommunen wie Kirchengemeinden nach neuen Formen des Miteinanders – hier können geistliche Lebensgemeinschaften inspirierend wirken. 

Orte der Bewährung und des Scheiterns 

Aus dem Ja zur Verbundenheit folgt die Bereitschaft, Beziehungen bewusst zu pflegen. Das umfasst auch das Reflektieren der eigenen Beziehungsfähigkeit, Lebensgeschichte, Werte und Ziele – der eigenen Identität. Dabei haben sich in den Gemeinschaften die evangelischen Räte Armut, Keuschheit und Gehorsam in jeweils unterschiedlicher Konkretion als hilfreich erwiesen. Ob in Ehelosigkeit oder in ehelicher Treue, ob in persönlicher Mittellosigkeit, in Gütergemeinschaft oder durch freigiebiges Teilen von privatem Besitz, ob durch Leitungsämter oder in basisdemokratischen Vollzügen: Angelpunkt der Verbindlichkeit ist die innere Freiheit, die eigenen ökonomischen, emotionalen und schöpferischen Ressourcen Gott in der Gemeinschaft zur Verfügung zu stellen. Konkret wird das in der Solidarität mit den Bedürftigen, im Bemühen um die „erste Liebe“ zu Jesus Christus und um die Bruderliebe, die achtsam, respektvoll, bereit zu Buße, Vergebung und Versöhnung ist, sowie im Willen, die eigenen Belange und Ziele mit den gemeinsamen abzustimmen. Es braucht einen langen Atem, um Nähe und Distanz, Regeln und Selbstverantwortlichkeit einsam und gemeinsam einzuüben und sich selbst auf die Schliche zu kommen, wenn man – ob aufgrund von Angst, Schuld oder Verletzungen – einander etwas vorenthält. Mündiger Gehorsam setzt ein hohes Maß an Reife voraus. Hier offenbart die religiöse Begründung besonderer Verbindlichkeit eine gewisse Ambivalenz und ein Gefahrenpotenzial: Sie kann Orientierung, Entlastung und Trost geben, sie kann aber auch missbräuchliche Strukturen befördern, wenn gärende Konflikte, Überforderung oder Manipulation überdeckt werden, weil man um des Konsenses willen darauf verzichtet, eigene Positionen und Bedürfnisse geltend zu machen. Wenn Gemeinschaft Bestand haben soll, müssen persönliche und kollektive Überforderung und Erfahrungen des Scheiterns ehrlich reflektiert und transparent gemacht werden. Nicht stete Harmonie, sondern bewältigte Krisen zeugen glaubwürdig vom Wirken des Heiligen Geistes. 

Leben aus dem Empfangen

Bei all dem ist der Blick über den eigenen Tellerrand unverzichtbar. Gemeinschaften inspirieren und unterstützen einander und nehmen Begleitung in Anspruch, vor allem in Krisen- und Übergangszeiten. Sie bringen sich in diversen kirchlichen Foren ein und sind selbst Initiatoren für innovative Prozesse in Kirche und Gesellschaft, wie etwa bei der ökumenischen Plattform von Kommunitäten und geistlichen Bewegungen Miteinander für Europa. Vor allem aber möchten evangelische Kommunitäten und geistliche Gemeinschaften bei den Menschen und in ihrer Kirche vor Ort präsent und wirksam sein. Das bleibt angesichts der Eigendynamik verbindlicher Strukturen und unterschiedlicher geistlich-theologischer Interessen wie Prioritäten eine Herausforderung für alle Beteiligten. Und doch ist genau das „die Nagelprobe für die in Kommunitäten gewonnenen spirituellen Erkenntnisse. Erst im normalen Alltag in Beruf und Familie zeigt sich ihre Tragfähigkeit“4. Gängiger Topos klösterlichen Lebens und zugleich eingängige Metapher für kommunitäre Erfahrung ist ein dreischaliger Brunnen,5 wie er sich im ehemaligen Zisterzienserkloster Maulbronn findet:

Die erste Schale steht für das Lebenswasser, das aus der persönlichen Christusbeziehung ins Leben eines jeden strömt. Wenn diese Schale gefüllt ist, kann Wasser in die zweite, die der Gemeinschaft, fließen. Von hier aus ergießt es sich in die große dritte, die Schale des Dienstes in der Welt. Trocknet das eigenverantwortliche geistliche Leben der Einzelnen aus, wird, sobald das gemeinschaftliche Reservoir erschöpft ist, auch die Gemeinschaft veröden. Verkümmert die Schale der Gemeinschaft und verringert sich ihr Aufnahmevolumen, geht zwischen erster und dritter Schale viel Wasser verloren; ist sie hingegen zu ausladend, steht und trübt sich das Wasser, bevor es in die dritte Schale fließen kann – dann ist Gemeinschaft zum Selbstzweck geworden. Es kommt auf das Empfangen an, auf das Strömen des Wassers und auf die Ausgewogenheit der Gefäße. Kommunitäten und geistliche Gemeinschaften bilden bildlich gesprochen ein Gefäß im Brunnenhaus der Kirche. 

 

Auszüge aus:
Kommunitäten und geistliche Gemeinschaften. Experimentierfeld für kreative Formen verbindlicher Spiritualität. In: Peter Zimmerling (Hg.) Handbuch Evangelische Spiritualität Bd. 3 Praxis, V&R 2020, S. 133-149.

Anmerkungen
* Erneuerung
1 Dietrich Bonhoeffer: Brief an Karl-Friedrich Bonhoeffer. London, 14. 01. 1935, in: DBW 13, 273.
2 Peter Zimmerling: Die Bedeutung der Kommunitäten und geistlichen Gemeinschaften für die evangelische Kirche. In: Johannes Berthold, Markus Schmidt (Hg.): Geistliche Gemeinschaften in Sachsen …, Berlin 2016, S. 178.
3 Frank Lilie: Gebet – im Rhythmus des Lebens, in: F. Lilie/Anna-Maria aus der Wiesche u. a. (Hg.), Kloster auf evangelisch. Münsterschwarzach 2017, S. 160.
4 Peter Zimmerling: Eine Herausforderung für die Gesamtkirche. Die Spiritualität evangelischer Kommunitäten. In: Deutsches Pfarrblatt 7/2001
5 Pfr. Stefan Kunz, Bensheim, verglich in einer Predigt in der OJC den Brunnen in Kloster Maulbronn mit jenem in C.F. Meyers Gedicht „Der römische Brunnen“ und bezog die Symbolik ihrer Gestalt auf das Wesen von Gemeinschaft.
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