Sünde:Schwarzes Tintengekritzel. Bewegte Linien mit zwei Menschen im Streit darstellen.

Die neuen Todsünden

Gesellschaft

Emanuela Sutter – Sünde ist „in“. Doch dem säkularen Konzept von Sünde fehlt Gott als das Fundament. Dadurch bleibt es bei plumper Moral, die über Gerechtigkeit nicht hinausgeht.

Was gut, was böse ist, strahlt von Hauswänden und Neonröhren auf die Straßen. Dichter und Denker sind gut, Querdenker böse. Greta ist ein wiederverwendbarer Pfandbecher aus 100 Prozent umweltfreundlichem Material, also gut. Trump ist eine Coffee-to-go-Tasse aus Plastik, also böse. Die Bildsprache der Werbekampagne für „Recup“, ein deutschlandweites Pfandsystem, ist originell. Sogar eine Person aus der Bibel kommt vor: Saulus wird auf den Plakaten als geknickte Plastiktasse dargestellt, Paulus als grüner, strahlender Pfandbecher. Die Werbetexter haben ein Gespür für den gegenwärtigen Moral-Radar. Nicht nur sie.

Es gibt Orte, an denen unerwartet selbstbewusst die sieben Wurzelsünden, die fälschlicherweise als Todsünden bezeichnet werden, zum Thema gemacht werden. Die Kirche ist es nicht. Es ist die von den öffentlich-rechtlichen TV-Sendern ARD und ZDF betriebene Instagramseite „Mädelsabende“, die über 200.000 Follower hat. Zwischen Beiträgen mit Titeln wie „Let‘s talk about sex“, „Körperflüssigkeiten“ oder „Diskriminierung“ findet sich einer über die „7 Todsünden“, allerdings „neu interpretiert“. Im Gegensatz zu so manchem Priester, der sich nicht traut, das Wort „Sünde“ in den Mund zu nehmen, plaudert Marlon ganz unverblümt davon. „Man könnte heute auch von sieben schlechten Eigenschaften sprechen“, sinniert der junge Journalist, der sich als „queer“ bezeichnet. Dann fährt er fort: „Die sieben Todsünden sind alles andere als veraltet.“

Bei „Mädelsabende“ lauten die modernen Wurzelsünden folgendermaßen: Hass und Wut in Sozialen Medien, auch bekannt unter den Begriffen „Hatespeech“ oder „Mobbing“. Pornografie- und Sexsucht. Neid, der vor allem durch die Instagram-Glitzerwelt geschürt wird. Gier und Verschwendung, die ihren Ausdruck in weggeworfenen Lebensmitteln finden. In den Kommentaren unter dem Beitrag erzählen junge Leute, mit welchen dieser „Todsünden“ sie zu kämpfen haben. Eine 18-Jährige erzählt, dass sie zu faul ist um, „mehr aus sich selber zu machen“ und dann neidisch ist auf diejenigen, die es schaffen. Eine andere fühlt sich von „Verschwendung“ ertappt und hinterfragt ihre vielen Onlineeinkäufe.

Das Böse ohne Herkunft und Ziel

Blickt man an die Schauplätze der Gegenwart, zeigt sich, dass selbst der Mensch des 21. Jahrhunderts ein Bewusstsein für Sünde, Schuld und das Böse hat, das weder Psychologie, noch Relativismus, noch Subjektivismus wegwischen konnte. Doch die Kirche hat Sünde heute nicht mehr für sich alleine gepachtet. Das Konzept von Schuld und Sünde wurde der Kirche, drastisch ausgedrückt, entrissen und säkularisiert. Mit anderen Worten: Man hat den christlichen Glauben dekonstruiert. Das zeitgenössische Böse steht auf keinem Grund, es hat weder Herkunft noch Ziel. Manchmal wird das nebulöse Zitat „Was du nicht willst, dass man dir tu, das füg‘ auch keinem andern zu“ als Begründung für die Schlechtigkeit moralischer Übertretungen angegeben. Die Gültigkeit des Spruchs endet allerdings spätesten bei dem in der westlichen Gesellschaft noch höheren Wert der Selbstbestimmung, welches das Nummer-Eins-Argument für Abtreibung und Suizidbeihilfe ist.

Erst neulich äußerte der ehemalige österreichische Bundespräsident Heinz Fischer in einer Festrede, wer Menschen nach Afghanistan abschiebt, der „versündigt sich an den Menschenrechten“. Das ist natürlich Kritik an der ÖVP, die weiterhin Abschiebungen in das Land vornimmt. Kann sich ein Einzelner oder gar eine Partei an einem menschengemachten Konzept wie den Menschenrechten, auch wenn sie jüdisch-christliche Wurzeln haben, versündigen? Nach der Rhetorik des Ex-Bundespräsidenten zu schließen, der keiner Religion angehört, schon. Doch von Menschen aufgestellte Rechte oder Gesetze können sich je nach Generation oder Staatsform ändern. Das Gesetz Gottes, zu denen die sieben Wurzelsünden zählen, nicht. Diese Regungen des menschlichen Herzens sind zeitlos. Menschen aller Jahrhunderte und rund um den Globus kennen diese Gefühle und dieses Verlangen. Die Hauptlaster sind „klassisch“, da sie zeitlos sind. Sie lassen sich nicht auf moralische Trends beschränken.

Ein unbewusster Grund dafür, dass Sünde auch in der säkularen Gesellschaft existiert, ist die Funktionalität. Das erahnte bereits Bertolt Brecht. Seinem „Ballett mit Gesang“ gab er den Titel „Die sieben Todsünden“. Um sich in der kapitalistischen Leistungsgesellschaft zu behaupten, muss die Protagonistin Anna jegliches Aufkommen von Faulheit, Stolz oder Zorn unterdrücken. Das Vermeiden der katholischen Todsünden soll ihr und ihrer Familie zu Wohlstand verhelfen. Es ist heute nicht anders: Will man seine Karriere nicht gefährden, sollte man auf den sozialen Medien nichts posten, das im Entferntesten nach den absoluten „Todsünden“ Rassismus, Sexismus oder Rechtspopulismus riecht. Um nicht in den Verdacht der Diskriminierung zu geraten und dadurch Erfolg aufs Spiel zu setzen, sollten Unternehmen am besten Frauen- und Migrantenquoten einführen und ihre Logos in den Pride-Farben unterlegen. Warum all das gesellschaftlich als „schlecht“, also moralisch verwerflich, eingestuft wird, bleibt ein Mysterium.

Selbstgerecht bleibt erbarmungslos

In der kirchlichen Sündenlehre geht es weder um Trends, noch um ein plumpes „gut sein“ oder „moralisch sein“. „Die Sünde ist vor allem Beleidigung Gottes und Bruch der Gemeinschaft mit ihm“, lehrt der Katechismus. Bruch deshalb, weil jede Sünde gegen die Liebe – die Liebe zu Gott und den Menschen – verstößt. Noch ein Aspekt kommt bei dem christlichen Konzept der Sünde hinzu: Es gibt sie nicht ohne die Barmherzigkeit. Vielleicht sind die Millennials und Generation Z ja doch moralischer als ihre Vorgänger. Aber kennen sie ein über alle Gerechtigkeit hinausgehendes Erbarmen? Für den Gläubigen ist die Sünde kein Problem, da sie wie „ein Wassertropfen in einer Feuersglut“ ist. Mit diesen poetischen Worten hat es Thérèse von Lisieux ausgedrückt. Die blanke Gerechtigkeit verlangt den Tod. Das ist heute kein körperlicher Tod mehr, dafür ein gesellschaftlicher. Mit Politikern, Journalisten oder Bischöfen, die sich im Ton vergreifen, die des Machtmissbrauchs oder der Korruption verdächtigt sind, kennt die Gesellschaft kein Erbarmen.

Niemand bringt das Dilemma der Sünde, Schuld und Gerechtigkeit besser auf den Punkt als Albert Camus in seinem Werk „Die Gerechten“. Die Gerechten, das sind in dem Drama des Existenzialisten eine Gruppe junger Sozialrevolutionäre, die einen Anschlag auf den Großfürsten verüben wollen. Ihr Gewissen sagt ihnen, dass sie sich mit dem Mord schuldig machen. Ihr Gerechtigkeitssinn sagt ihnen, dass der Tod des Großfürsten durch den Zweck, nämlich eine gerechtere Gesellschaft, geheiligt wird. Janek, der das Attentat erfolgreich ausführt, landet im Gefängnis. Er möchte auf dem Schafott sterben, denn alles andere würde seine begangene Sünde, den Mord, nicht gebührend sühnen. Nur Janeks Freundin Dora ahnt, dass die Gerechtigkeit nicht alles sein kann. „Wer wirklich die Gerechtigkeit liebt, verdient keine Liebe mehr. Die Liebe beugt sanft den Nacken, Janek. Unser Hals aber ist starr aufgerichtet“, sagt sie erkennend.

Welche Tragik ein säkulares Konzept von Sünde ohne Gott bedeutet, verdichtet sich in Stepans Worten: „Wir, die wir nicht an Gott glauben, brauchen die ganze Gerechtigkeit.“

Emanuela Sutter tauschte Harfenklänge und Instrumentalpädagogik gegen Theologie und Tintenfass, um aus Wien über Heiligenkreuz und Salzburg nun in Würzburg bei der Tagespost als Volontärin neue Saiten im katholischen
Journalismus aufzuziehen.

Erstveröffentlichung in „Die Tagespost. Katholische Wochenzeitung für Politik, Gesellschaft und Kultur“, www.die-tagespost.de

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