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Der politische Jesus — Nachfolge und Weltverantwortung

Uwe Heimowski – Jesus politisch? Vergessen wir nicht: Jesus wurde aus politischen Gründen hingerichtet. An dem Kreuz von Golgatha. Über dem Kopf des sterbenden Jesus wurde ein Schild genagelt, auf dem der Grund für das Todesurteil festgehalten war.

Pontius Pilatus, der römische Statthalter, hatte dieses Schild anfertigen lassen, in lateinischen, griechischen und hebräischen Lettern, damit jedermann es lesen konnte. INRI stand dort: JESUS NAZARENUS REX JUDAEORUM – Jesus aus Nazareth, König der Juden.

Pilatus war dem gleichen Missverständnis aufgesessen wie dreißig Jahre vor ihm König Herodes. Herodes hatte mit eiserner Hand jeden Konkurrenten ausgeschaltet. Als er dann von drei Reisenden, weisen Männern aus dem Morgenland, erfuhr, dass sie auf der Suche nach einem neugeborenen „König der Juden“ seien, ließ der paranoide Herrscher aus Angst um seine Macht alle männlichen Säuglinge ermorden. Jesus, ein König? Pontius Pilatus hatte ihn direkt danach gefragt:

Bist du der König der Juden? Er aber antwortete ihm und sprach: Du sagst es (Mk 15,2). War das eine Ablehnung oder eine Zustimmung? Je nach Betonung, ist beides möglich: Du sagst es, oder du sagst es.

Doch wie man es auch interpretiert, wenn Jesus sich selbst als König, als den verheißenen Messias der Juden verstanden hat, dann war damit definitiv etwas anderes gemeint, als Herodes und Pilatus und der Hohe Rat darunter verstanden haben.

Wer die Evangelien liest, dem wird schnell klar: Jesus hat kein weltliches Amt angestrebt, nicht als König und ebenso wenig als Politiker. Jesus hatte nicht vor, das politische Gefüge infrage zu stellen oder einen Umsturz zu initiieren. Ihm war nicht daran gelegen, die Herrschaft zu übernehmen. Jesus gehörte keiner der jüdischen Parteien, den Pharisäern oder den Sadduzäern, an; er war weder ein Zelot noch sonst ein Aufständischer. Jesus hatte eine andere Aufgabe. Mit ihm kam Gott in die Welt. In seiner Person brach das Reich Gottes an. Jesus erklärte: Mein Reich ist nicht von dieser Welt (Joh 18,36).

Wer Jesus politisch, und insbesondere parteipolitisch oder zur Sicherung seiner Macht, für sich vereinnahmen will, der vertut sich. Einen politischen Jesus in diesem Sinne gibt es nicht.

Aber: Es wäre ein großes Missverständnis, daraus abzuleiten, dass Jesus sich nicht für den Zustand der Welt interessiert hätte. In der Sache war die Botschaft, die Jesus verkündigt hat, hochpolitisch.

Vor allem die größte zusammenhängende Rede, die uns von Jesus überliefert ist, die Bergpredigt (Mt 5-7) lässt sich durchaus – auch – als ein Entwurf für eine Gesellschaftsordnung lesen: Jesus entwirft das Konzept von aktivem Frieden, von Gerechtigkeit und Barmherzigkeit. Jesus betont in der Bergpredigt, dass seine Nachfolger Salz und Licht (Mt 5,13-15) sein sollen, die ihre Wirkung in die Gesellschaft hinein entfalten.

In der sogenannten „goldenen Regel“ fasst Jesus alle Gebote zusammen: Alles nun, was ihr wollt, dass euch die Leute tun sollen, das tut ihr ihnen auch! (Mt 7,12). Könnte man es deutlicher formulieren? Jesus sagt: Wartet nicht darauf, dass andere euch etwas Gutes tun. Fangt ihr damit an.

Liebe Christen, wenn ihr Jesus nachfolgen und ihn beim Wort nehmen wollt, dann seid aktiv, gestaltet mit, stellt euch an die Spitze, wenn es darum geht, etwas für das Wohl der Menschen und der Gesellschaft zu tun.

Der Auftrag der Christen, und das macht Jesus an vielen Stellen deutlich, ist es, das Evangelium vom Reich Gottes auszubreiten. Das tun wir, indem wir vom „König“ dieses Reiches reden: von Jesus, dem Sohn Gottes.

Und wir tun es, indem wir für Gerechtigkeit wirken, indem wir Frieden stiften und Freude ausbreiten, also für Lebensqualität einstehen. Denn das Reich Gottes ist … Gerechtigkeit und Friede und Freude im Heiligen Geist, schreibt Paulus (Röm 14,17).

Halten wir also fest: Jesus war kein Politiker, aber seine Botschaft vom Reich Gottes ist politisch. Und damit ist Christsein immer politisch. Christsein mischt sich ein.

Gerechtigkeit und Frieden entstehen nicht, indem wir uns in unsere gemeindliche Binnenwelt zurückziehen, sondern indem wir Ungerechtigkeiten beim Namen nennen. Indem wir für die Rechte von Benachteiligten kämpfen. Indem wir dahin gehen, wo gestritten wird, um Frieden und Versöhnung zu bewirken. Christen sollen Jesus folgen, der seine Stimme erhoben hat für Frauen und Kinder, für Zöllner und Sünder, für Kranke und Besessene.

Der Prophet Jeremia schreibt an die Juden, die nach Babel verschleppt worden sind:

Baut Häuser und wohnt darin; pflanzt Gärten und esst ihre Früchte; nehmt euch Frauen und zeugt Söhne und Töchter, nehmt für eure Söhne Frauen und gebt eure Töchter Männern, dass sie Söhne und Töchter gebären; mehrt euch dort, dass ihr nicht weniger werdet. Suchet der Stadt Bestes, dahin ich euch habe wegführen lassen, und betet für sie zum HERRN; denn wenn’s ihr wohlgeht, so geht’s euch auch wohl (Jer 29,5–7).

Auch das ist hochpolitisch. In der Sache und in der Wortwahl. Der Begriff Politik kommt vom Griechischen: „Polis“ und bedeutet „die Stadt“. Ein Politiker ist also jemand, der Verantwortung für das Wohlergehen einer Stadt (und eines Landes) übernimmt. Und genau das fordert Jeremia hier von den Juden: baut, sät, erntet, gründet Familien. Kümmert euch, übernehmt Verantwortung. Für die ganze Stadt, nicht nur für euch selbst und eure kleine Gemeinschaft.

Wenn wir heute von Politik sprechen, dann denken wir nicht unbedingt im Sinne Jeremias an Gesellschaftsverantwortung. Wir denken eher an Parteien. Und da gibt es durchaus eine gewisse Verdrossenheit.

Als ich vor einigen Jahren Mitglied einer Partei wurde, um für den Stadtrat in Gera zu kandidieren, habe ich einiges an Kopfschütteln geerntet. „Wie kannst du nur in eine Partei eintreten? Das verstehe ich nicht.“ Ein Pastor in einer Partei? Darüber kann und muss man freilich diskutieren. Ein Pastor repräsentiert ja nicht nur sich selbst, sondern auch eine Kirche. Und in einer Kirche ist jeder willkommen: egal, welcher Partei er angehört. Ob diese Neutralität noch gegeben ist, wenn die Gemeinde über ihren Pastor mit einer bestimmten politischen Richtung verknüpft wird? Man muss das gut abwägen.

Und dann ist da natürlich die Frage nach den Inhalten? Welche Partei ist die richtige? Ein Freund sagte mir: „Ich könnte niemals ein Parteiprogramm unterschreiben. Wie kann man denn hundertprozentig dahinterstehen?“

Das halte ich für ein Missverständnis. Ein Parteiprogramm ist kein Dogma. Natürlich stimme ich nicht in jedem Punkt dem Programm meiner Partei zu. Und in einer Demokratie muss ich das – Gott sei Dank! – ja auch nicht. Ich habe mich für die Partei entschieden, in der ich die meisten Übereinstimmungen finde. Mehr nicht.

Als Theologe würde ich sogar behaupten: Keine Partei kann für sich in Anspruch nehmen, eine hundertprozentig richtige (oder gar hundertprozentig christliche) Politik zu machen. Ja, das ist sogar gefährlich. Der Philosoph Karl Popper hat es auf den Punkt gebracht: „Der Versuch, den Himmel auf Erden zu verwirklichen, produziert stets die Hölle.“ In Gottes neuer Welt wird es einmal der Fall sein, dass wir in einer erlösten, perfekten Welt leben. Vorher nicht. Hier auf Erden bleibt das Reich Gottes der Sauerteig. Hier, auf dieser Erde, in einer gefallenen Schöpfung, sind wird nicht im „Perfekten“, sondern im „Unfertigen“, nicht im „Ewigen“, sondern im „Vorläufigen“, nicht im „Letzten“, sondern im „Vorletzten“, wie Dietrich Bonhoeffer es nannte. Wer etwas anderes verspricht, sei es eine Person oder eine Partei, der lügt.

Vollkommen werden wir das Reich Gottes auf dieser Erde nicht errichten. Und eben darum sagt Jesus, dass sein Reich nicht von dieser Welt sei (Joh 18,36).

Bei allem gesellschaftspolitischen Einsatz bleibt für Christen doch eine Spannung, mit der sie in der Politik zu tun haben. Im Römerbrief lesen wir (Kap 13), dass wir uns in den Staat einfügen sollen: Jedermann sei untertan der Obrigkeit, während in der Apostelgeschichte (5,29) einem blinden Untertanengehorsam eine klare Grenze gesetzt ist: Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen. Das antwortet Petrus, als die staatlichen Autoritäten ihm verbieten, von Jesus zu erzählen. Ein Christ ist gehalten, ein „anständiger“ Bürger zu sein, der konstruktiv und unterstützend im jeweiligen politischen System aktiv ist. Aber er wird dabei nie seinen Gott und seine Grundwerte verleugnen. So gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist! sagt Jesus (Mt 22,21).

Jesus starb am Kreuz. Juristisch zu Unrecht. Ausgelöst durch ein politisches Missverständnis. Und doch war das Kreuz genau so gewollt. Es durchkreuzt alle menschlichen Herrschaftsansprüche. Im Philipperbrief lesen wir:

Ein jeder sehe nicht auf das Seine, sondern auch auf das, was dem andern dient. Seid so unter euch gesinnt, wie es der Gemeinschaft in Christus Jesus entspricht: Er, der in göttlicher Gestalt war, hielt es nicht für einen Raub, Gott gleich zu sein, sondern entäußerte sich selbst und nahm Knechtsgestalt an, ward den Menschen gleich und der Erscheinung nach als Mensch erkannt.

Er erniedrigte sich selbst und ward gehorsam bis zum Tode, ja zum Tode am Kreuz. Darum hat ihn auch Gott erhöht und hat ihm den Namen gegeben, der über alle Namen ist, dass in dem Namen Jesu sich beugen sollen aller derer Knie, die im Himmel und auf Erden und unter der Erde sind, und alle Zungen bekennen sollen, dass Jesus Christus der Herr ist, zur Ehre Gottes, des Vaters.
(Phil 2,3–11).

Jesus wird das letzte Wort haben in der Weltgeschichte. Das schenkt ein Urvertrauen und setzt eine große Kraft frei. Bis dieser Tag kommt, muss gelten: Christen haben den Auftrag, wie Jesus selbst, schon hier auf dieser Erde das Reich Gottes zu verkünden und sich für Gerechtigkeit und Frieden, für Wohlstand und Solidarität einzusetzen.

Aus: Der politische Jesus und die Botschaft vom Reich Gottes, Auflage, Nürnberg: VTR, 2021, ISBN 978-3-95776-089-0

 

 

 

Uwe Heimowski, Diplom-Theologe, war Gemeindereferent (Pastor) in Gera. Seit 2016 ist er politischer Beauftragter der Deutschen Evangelischen Allianz für Bundestag und Bundesregierung.

Salzkorn 2 / 2023: Jesus. Und wem folgst du?
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