Den Blickwinkel wagen - TÜV für Mutbürger

Den Blickwechsel wagen – TÜV für Mutbürger

Nächstens feiere ich meinen 60. Geburtstag. Schon seit einiger Zeit merke ich, dass man mich in meiner Apotheke mit Namen anspricht. Während ich früher Arzt und Apotheke kaum von innen sah, habe ich längst Stammkunden-Status erreicht. Und: Man bietet mir inzwischen nett und zuverlässig die Apotheken-Umschau an. Ich nehme sie ­freundlich entgegen und entsorge sie daheim nach kurzem Durchblättern meist ungelesen. Im vergangenen Herbst bin ich aber an einem Artikel hängengeblieben: „Corona-­Pandemie: Dauerzustand Angst.“ Dort stand: ­„Alle tragen einen Mund-Nasen-Schutz, der Kontakt zu Mitmenschen ist plötzlich stark eingeschränkt, und über dem Alltag schwebt die Angst vor dem Virus. Die Corona-Pandemie, ihre Dauer und Folgen sind schwer einschätzbar, was in der Bevölkerung diffuse ­Ängste weckt. ­Unsichere Zeiten wirken sich auf die Seele aus – das ist normal.“1 Auch Fritz Riemann beginnt sein bekanntes Buch „Grundformen der Angst“ mit der Feststellung: „Angst gehört unvermeidlich zu unserem ­Leben.“ Dann aber fährt er fort: „Wir können nur versuchen, Gegenkräfte gegen sie zu entwickeln: Mut, Vertrauen, Erkenntnis, Macht, Hoffnung, Demut, Glaube und ­Liebe.“2 Ja, Angst kann einen Menschen zutiefst schwächen. Sie kann ihn aber auch kraftvoll daraus hervorgehen lassen. Jesus hat seinen Jüngern gesagt: In der Welt habt ihr Angst, aber seid getrost, ich habe die Welt überwunden (Joh 16,33).

Angegriffene Existenz

Was ist es nur um diese Angst? In einem psychologischen Standardwerk lesen wir: „Die allgemeine Konnotation des Wortes Angst ist dieselbe wie die seines lateinischen Ursprungs anxietas, ein Erleben sich verändernder Mischungen von Ungewissheit, Erregung und Furcht. Die lateinische Anwendung schloss eine Vorstellung von Strangulation ein (…).“3 Dieses Bild der Enge und Atemnot begegnet uns auch im ­Neuen Testament. Im eben zitierten Jesus-Satz steht für Angst das griechische Wort thlipsis: drücken, drängen, quetschen, zermalmen. Das also meint Angst: das fast übermächtige Gefühl, dass mich eine schwere Last zerquetscht. Herz und Seele werden eng und man wähnt sich dem Schicksal hilflos ausgeliefert … möchte fliehen und kann doch nicht. In der Angst begegnen wir den Untiefen unserer eigenen Seele. „Wir kennen die Angst vor den zerstörerischen Kräften in uns selbst (…). Jeder Mensch hat seine persönliche, individuelle Form der Angst (…).“4 Und Friso Melzer ergänzt: „So ist der Mensch auf sich selbst verwiesen, auf die Begegnung mit der Angst in sich.“5 Wir werden gezwungen uns selbst zu begegnen. Unseren eigenen Tiefen, die sonst so verborgen sind. Unseren Regungen, die wir in alltäglichen Zeiten gut beschäftigt und diszipliniert halten. Das trifft uns hart, weil Krisenzeiten wie eine Pandemie uns an etwas erinnern, das wir allzu gerne ferne von uns halten: „Die gemeinsame Kraft aller Angst (thlipsis) ist die in ihr wirksame Todesmacht.“6 Wir ­bekommen zu spüren, dass unser Leben angegriffen ist und werden so an die Endlichkeit unserer irdischen Existenz erinnert. Darum stellt Angst die unausweichliche Frage nach unseren Lebensfundamenten. Nicht nach denen, die wir gerne hätten oder gerne behaupten, sondern nach denen, die wir tatsächlich haben.

Verstörende Atmosphäre

In diesen Zeiten der persönlichen, familiären, gesellschaftlichen, wirtschaftlichen Verunsicherung liegt ein verborgenes Gefahrenpotenzial. Die akute ­Sorge, die von Angst bestimmt ist, wirkt wie ein Brandscheit, das sich zur Angststörung entfachen kann. Es wachsen schnell sonderliche Erklärungsmuster und Kreuz- und Querdenkereien aller Art. Treffend formu­liert: „Aus ­einer gesunden Skepsis, einem mündigen Hinter­fragen kritischer Bürgerinnen und Bürger wird eine Hermeneutik des Misstrauens. (…) In Zeiten globaler Un­sicherheit ist die Sehnsucht groß nach ein­fachen Antworten auf komplexe Phänomene, die Welt in Gut und Böse, Richtig und Falsch einzuteilen.“7 Ulrich Eggers ergänzt: „Wir leben in einer Zeit, in der Misstrauen leicht fällt. (…) Wo früher mit gemäch­lichen Wartezeiten sorgfältig abgewogene Statements erarbeitet wurden, beherrschen heute schnelle – manchmal mehr vom Bauch als vom Kopf geprägte – Reak­tions­muster die Debatten und sorgen für ein hektisches Grundklima.“8 Die Folgen und Gefahren für ­Gesellschaft und Kirche können erheblich sein. ­Walter Künneth, der vom „Stimmengewirr der emotions­geladenen Tagesmeinungen“ spricht, gibt zu bedenken: „Solche uneigentliche, nicht in zwingenden Realitäten begründete Atmosphäre der Angst entsteht durch das Fehlen eigener Sachkenntnis, durch propagandistische Einschüchterungen und Verdächtigungen aller Art, die in ihrem Wahrheitsgehalt schwer zu durchschauen sind und darum Fehlentscheidungen veranlassen. Die menschliche Existenz verfällt dadurch einer Neurose, die das Denkvermögen schwächt und verdunkelt (…).“9 Selbst kirchliche Kreise können sich diesem Sog nicht immer entziehen, wenn ich z. B. ­höre, dass einfach mal behauptet wird, nach der Pandemie gäbe es ein Drittel weniger christliche Gemeinden. Mich erinnert das an die Kulturrevolution in ­China, die 1966 anhob. Christen hatten schnell die Angst, das Ende des Christentums in China sei gekommen. In Wirklichkeit erwies es sich umgekehrt: Selten sind die Kirchen so gewachsen wie in dieser Zeit der Unterdrückung! Angst ist ein gefährlicher Multiplikator der Angstgefühle. Unser Leben ist gestört – wir sind verstört – und reagieren dann schnell zerstörend.

Engagierte Mutbürger

Ja, wir alle kennen Angst. Die, die tief in uns schlummert und in Krisen an die Oberfläche gelangt. Auch die Bibel spricht davon. Aber eben nicht nur. Sie lässt die Angst nie alleine stehen und schon gar nicht wirkmächtig werden. Nochmals dieses Jesus-Wort: In der Welt habt ihr Angst, aber seid getrost: ich habe die Welt überwunden. Das Wort „seid getrost“ kann man auch übersetzen mit „seid mutig“! Was diese Welt in Krisenzeiten braucht sind Mutbürger! Sie haben Mut und ­Zuversicht, weil sie auf Jesus setzen! Und sind deshalb kühn. Sie spüren und erfahren: Das Leben kann auch in der Krise wachsen und stärker werden. Weil wir ­einen Herrn haben, der stärker ist! Jochen Klepper ­benannte diese Erfahrung: „Der Morgenstern bescheinet auch deine Angst und Pein.“10 Angst kann auch ein Angebot des Lebens sein. Es wieder neu schätzen zu lernen, nicht für selbstverständlich zu nehmen. Dankbar zu sein und zu bleiben. Auch da, wo nicht alles glatt läuft und nicht alles gelingt. Es gilt: „Aber ­gerade hier, wo Gott sich dem Menschen gnädig zuwendet, finden wir auch immer wieder (…) die Aufforderung: (…) Fürchte dich nicht!“11 Daraus entwickelt sich ­eine Haltung, die einmal unser früherer Bundeskanzler Helmut Schmidt auf die Frage „Sind Sie dafür oder dagegen?“ so formuliert hat: „Wir müssen lernen zu unterscheiden zwischen Dingen, auf die wir ­keinen Einfluss haben, und solchen, auf die wir Einfluss nehmen können und dürfen. Die Ersteren müssen wir gelassen hinnehmen, die Letzteren bedürfen unseres ­Engagements – nicht aber der Überreaktion.“12

Das gilt für uns als Einzelne wie auch für uns als ­Kirche(n). Walter Künneth spricht vom „Trostamt der Kirche“. Davon, dass es gilt, die „aufgerissenen Klüfte zu überbrücken und die Wunden zu verbinden“. Und schließlich: „Im Gegensatz zu diesem grundsätzlichen Ohne-mich-Standpunkt sieht sie ihre seelsorgerliche Pflicht darin, die besonders gefährdete Situation der Menschen (…) und die dadurch bedingte seelische Not und Anfechtung zu verstehen und ihre außergewöhnliche Last mitzutragen.“13 Angst vernichtet nicht nur, sie bietet auch Leben. Genau dort, wo wir Christen uns in die Krisenzeit hineinstellen und unseren Platz als Zeugen der Hoffnung einnehmen! Eben da passiert ­etwas völlig Ungewöhnliches. Die Krise erhält eine Art Mehrwert – man könnte auch sagen: einen Segen. In einem Lied des vor fünf Jahren verstorbenen kanadischen Künstlers Leonhard Cohen finde ich das wunderbar ausgedrückt: „Ring the bells that still can ring. Forget your perfect offering. There’s a crack in every­thing. That’s how the light gets in.”

Chance zur Bewährung

Als ich diesen Text zu schreiben begann, hatte ich mir schon tagelang Gedanken gemacht. Ich war unzufrieden … mir fehlte eine Initialzündung. Wie gewöhnlich begann ich den Morgen mit dem Losungsbuch – und dann war es da – dieses Wort … und als ich mich kurz darauf mit meiner Frau zu unserem gemein­samen Morgengebet traf, sagte ich ihr: Da ist es – das Wort, auf das ich gewartet habe: Gott hat uns nicht gegeben den Geist der Furcht, sondern der Kraft und der Liebe und der Besonnenheit (2 Tim 1,7). Dieser Satz fasst ­alle ­meine niedergeschriebenen und aufgrund der Begrenztheit der Zeilen fallengelassenen Gedanken zusammen. Hinter allem steht die Frage: Wes ­Geistes Kind bin ich? Und diese Frage findet ihre Antwort nicht so sehr in den leichten, hellen Tagen – sie ­findet sie vor allem in den schweren, dunklen Tagen! Da zeigt sich, was mich trägt! 

Mein Glaube kann sich bewähren.

Da bewährt sich, wem ich vertraue! Das ist die Chance der Angst: Mein Glaube kann sich bewähren! Die Krise ist der TÜV des Lebens! Die Frage nach diesem „Wes Geistes Kinder sind wir?“ will ich mit Philipp ­Spitta ­beantworten: „In dem rasenden Getümmel schenk uns Glaubensheiterkeit“14. Bei Karl Barth ist dieses Wort Glaubensheiterkeit immer wieder aufgetaucht. Sein Biograph Eberhard Busch schreibt dazu: „Der Zusammen­hang, in dem das Wort bei ihm ­auftaucht, macht ein Doppeltes deutlich. Einmal: ­Echte ‚Glaubens­heiterkeit‘ ist nicht zu verwechseln mit einer leichtfertigen, gedankenlosen Lebenshaltung, die blind wäre für das ‚rasende Getümmel‘, blind für die Last und das Abgründige des Lebens. Der ­Glaube sieht nicht da­rüber hinweg, aber er glaubt sich ­gerade darin geliebt, getragen, geführt. (…) Zum ­anderen: ­Solche Glaubensheiterkeit versteht sich nicht von selbst. (…) Sie ist ­vielmehr erbetene und ­geschenkte Glaubens­heiterkeit. Es ist die Glaubensheiterkeit, die einen ­großen Ernst im Geltendmachen von Gottes Wort und Willen nicht ausschloss, die aber auch dann noch ­einen letzten Humor kannte – in der Gewissheit, dass uns nichts mangeln wird, wo nur der Herr unser Hirte ist.“  Das hat sich am Ende von Barths Leben bestätigt: „Am späten Abend vor der Nacht, in der er friedlich im Schlaf verstarb (…), arbeitete er noch an seinem Schreibtisch. Da erhielt er einen Telefonanruf. Es meldete sich Eduard Thurneysen, mit dem ihn eine über sechzigjährige Freundschaft verband. Sie unterhielten sich über die Weltlage mit ihren beängstigenden Gefahren und Nöten. Barth schloss endlich die Unterhaltung ab und munterte den Freund im Blick auf die besprochene Sorge auf: Nur ja die Ohren nicht hängenlassen. Denn: Es wird regiert!“15 Glaubens­heiterkeit – möglicherweise wäre das die geeignete und notwendige Ergänzung zu Testen und Impfen. Lasst uns einer Welt im Krisenmodus zeigen, wes Geistes Kinder wir sind: Gott hat uns nicht gegeben den Geist der Furcht, sondern der Kraft und der Liebe und der ­Besonnenheit.

Anmerkungen:
1 Julia Dettmer, 14.09.2020
2 Fritz Riemann, Grundformen der Angst; S. 7
3 Arnold, Eysenck, Meili, Lexikon der Psychologie, Band 1; Sp. 101
4 Riemann a.a.O., S. 8f
5 Friso Melzer, Das Wort in den Wörtern, S. 20
6 Gerhard Kittel (Hrsg.), Theologisches Wörterbuch zum Neuen Testament, Band III; S. 147
7 Julia Garschagen, Heike Breitenstein in: Eins-Magazin der Dt. Evang. Allianz; 1/2021; S. 6
8 Ulrich Eggers in: Eins-Magazin der Dt. Evang. Allianz; 1/2021; S. 9
9 Walter Künneth, Der Christ als Staatsbürger; S. 163+169
10 Jochen Klepper, EG 16,1
11 Lothar Coenen et al, Theologisches Begriffslexikon zum Neuen Testament; S. 417
12 Helmut Schmidt, neu abgedruckt in: Die Zeit, Nr.9, 25.02.2021
13 Walter Künneth, Politik zwischen Dämon und Gott; S. 557ff
14 Philipp Spitta, EG 137,8
15 Eberhard Busch, Glaubensheiterkeit: Karl Barth, Erfahrungen und Begegnungen, S. 7-9; 96
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