Das Ziel ist Unterwerfung

Über die Charta der Hamas

Konstantin Mascher im Interview mit Ralph Ghadban

Konstantin Mascher: Seit dem 7. Oktober 2023 ist die Hamas in aller Munde. Was bedeutet Hamas?

Ralph Ghadban: Hamas ist ein Akronym des Namens „Bewegung des islamischen Widerstands“.

Wie ist die Bewegung entstanden?

Offiziell wurde die Hamas im Jahre 1987 gegründet. Aber sie wurzelt in der langen Geschichte des Islamismus, insbesondere in der Bewegung der Muslimbruderschaft, die 1928 in Ägypten gegründet wurde.

Besteht die Verbindung zur Muslimbruderschaft noch heute?

Auf jeden Fall. Die Hamas hat 2017 eine neue Charta veröffentlicht, in welcher sie die Akzente anders setzt. Statt der islamischen Dimension betonen sie die nationale Dimension, um als Widerstandsbewegung aufzutreten. Das haben sie mit Erfolg gemacht. Die linke Welt betrachtet sie als Befreiungsbewegung.

Aber das, was am 7. Oktober passiert ist, basiert auf der älteren Fassung von 1988?

Dass die alte Charta mit ihrem Ruf nach Vernichtung der Juden und Vertreibung der Israelis noch gültig ist, ist nicht neu. Die Attacke vom 7. Oktober hat das nur bestätigt.

Als die Hamas 2006 die Wahlen im Gazastreifen gewonnen hat, gab es keinen Aufschrei in der Weltöffentlichkeit. Warum nicht? Der Text ist ja frei zugänglich.

Von wem hätte solcher Protest kommen sollen? Die Deutschen schaffen es bis heute nicht, eine klare Position zu beziehen. Formell stehen wir an der Seite von Israel. Aber wenn es hart auf hart geht, wie bei der Abstimmung der UNO, enthalten wir uns meist der Stimme, und das ist eine Katastrophe. Wir engagieren uns unbegrenzt für den Wiederaufbau von Gaza, ohne zu wissen, wer dort überhaupt regieren wird.

Das Verhältnis zwischen Hamas und der PLO, der Palästinensischen Befreiungsorganisation, ist spannungsreich. Worin besteht der Grundkonflikt?

Die PLO ist säkular orientiert. 1988 hat sie beschlossen, die Zwei-Staaten-Lösung zu akzeptieren und damit indirekt die Existenz Israels anerkannt. Seitdem setzen sie auf eine friedliche Lösung.

Welchen Rückhalt genießt die Hamas heute in der palästinensischen Bevölkerung?

Sie wird massiv unterstützt. Wenn man jetzt Wahlen zuließe, würden sie gewinnen. Man darf die emotionale Dimension nicht vergessen. Über 20.000 Tote bleiben nicht ohne Auswirkung, das sind ihre Familien, Nachbarn, Freunde.

In der Charta steht, dass Palästina weder als Ganzes noch in Teilen aufgegeben werden darf. Warum ist ihnen das Land so wichtig?

Das Land ist eine Stiftung für Muslime.

Wie würden Sie das jemandem erklären, der mit dem Begriff nichts anfangen kann?

Die Gründe dafür liegen in der Geschichte des Islam. Die ersten Anhänger Mohammeds hofften, die Juden überzeugen zu können, sich ihnen anzuschließen, die wollten aber nicht. Mit der Geschichte, in der es heißt, das Mohammed in der Nacht von Mekka nach Jerusalem gereist ist, wurde Jerusalem – neben der Kaaba in Mekka und der Stadt Medina – zum dritten Heiligtum. Als Jerusalem 637 erobert und die Al-Aqsa-Moschee errichtet wurde, bestimmten die Gelehrten, dass dieses Land eine Stiftung ist, nicht für diejenigen, die dort wohnen, sondern für alle Muslime in der Welt, weil es einen heiligen Charakter hat.

Was heißt denn „heiliger Boden“ im islamischen Kontext?

Überall dort, wo Muslime sich niederlassen und das Gebet verrichten, gehört das Land zu ihnen. Nicht nur Palästina gehört zu den Muslimen, sondern auch Spanien, zumindest Andalusien. Laut ihrer Literatur erhebt die Muslimbruderschaft auch auf Spanien und Sizilien Anspruch, auf jedes Land, in dem Muslime waren. Wenn die inzwischen 28 Millionen Muslime in der EU Anspruch auf diese Gebiete als heiliges Land erheben, kann man sich vorstellen, was auf uns zukommt.

Laut Hamas ist die geistliche Grundlage der Charta der Islam. Wie lässt sich dieses Programm aus dem Islam herleiten?

Der Islam ist für Dies- und Jenseits gedacht. Das steht schon im Koran. Christen denken gerne, der Islam wäre eine Religion wie das Christentum, mit einer klaren Unterscheidung zwischen dem, was dem Kaiser gehört und dem, was Gott gehört. Diese Trennung existiert im Islam nicht. Der Islam ist eine politische Religion, nicht eine Religion, die von der Politik missbraucht wird oder umgekehrt. Das steht wörtlich so im Koran. Der Koran, ergänzt durch die Sunna, ist die Quelle der Religion, beide sind nicht von der Politik zu trennen. In der Charta steht ausdrücklich, dass der Islam in allen Bereichen des Lebens durchzusetzen ist.

Ich kann mir vorstellen, dass es in der Islamischen Glaubensgemeinschaft ganz unterschiedliche Auffassungen über die richtige Auslegung gibt.

In diesem Punkt nicht. Am Anfang der Charta steht ein Vers aus dem Koran: „Ihr seid die beste Gemeinschaft, die unter den Menschen hervorgebracht worden ist, sofern ihr das Rechtmäßige gebietet, das Unrechtmäßige untersagt und an Gott glaubt.“ Das glaubt jeder Muslim, der religiös wird. Eine historische Einordnung der religiösen, der heiligen Texte, wie im Juden- und Christentum, ist im Islam nicht geschehen. Heute handeln die wenigsten danach, aber offiziell wurde diese Grundannahme von den Institutionen und den Gelehrten nie außer Kraft gesetzt. Wir haben die Hoffnung, dass der Islam so sein könnte, wie manche Liberale ihn sehen. Aber man muss wissen, dass anderthalb Milliarden Muslime auf andere Stimmen hören.

In der Charta der Hamas wird eine Aussage des Propheten zitiert, wonach sogar die Bäume und Steine bei der Vernichtung der Juden assistieren. Woher kommt dieser tiefe Hass gegen das Judentum?

Im Koran steht, dass Juden schlimmer sind als Tiere und Schweine, so hätte Gott das gesagt. Der Ton gegen die Juden ist schärfer als gegen die Christen. Aber historisch wurden hauptsächlich Christen verfolgt. Als die Juden aus Europa vertrieben wurden, flohen sie in islamische Länder, dort fühlten sie sich sicherer. Mit der Gründung des Staates Israel hat man die alte Feindschaft wiederbelebt. Das ist die Arbeit der Islamisten der Muslimbruderschaft.

Ein Klassiker der antisemitischen Hetzliteratur sind die „Protokolle der Weisen von Zion“, die auch in der Charta der Hamas auftauchen. Welche Rolle spielen sie in der islamischen Welt?

Diese Schrift ist in Russland in den 1880er Jahren entstanden. Eine sinnvolle Auseinandersetzung mit dieser Schrift ist nicht möglich. Ich habe sie nicht gelesen, ich werde sie auch nicht lesen. Selbst fachlich bin ich nicht gezwungen, so ein Ding zu lesen.

Wenn man die Nachrichten verfolgt, ist das Leid der Menschen im Gazastreifen kaum zu ertragen. Warum gibt es keinen Aufstand in der Bevölkerung gegen die Hamas?

Die Hamaskämpfer kann man von der Bevölkerung nicht trennen. Die verstecken sich nicht nur hinter der Bevölkerung, sondern rekrutieren sich auch aus Teilen der Bevölkerung. Niemand hat etwas über die Tunnel verraten. Dabei wäre das der einfachste Weg, die Hamas loszuwerden.

In der Charta heißt es, dass die Islamische Widerstandsbewegung eine humane Organisation sei, die die Menschenrechte achtet und Anhänger anderer Religionen toleriert. Wie versteht der Islam Toleranz?

Sie müssen genau lesen. Toleriert werden „Leute des Buches“. Aber ein Atheist oder Polytheist hat keine Chance. Weiter heißt es im Koran, dass Leute des Buches unter der Herrschaft des Islams weiterleben dürfen, wenn sie sich unterwerfen und als Bürger zweiter Klasse leben. Gut, wenn man das akzeptiert…

In der Charta steht ausdrücklich, dass es allen besser gehen würde, wenn sie unter dem Islam lebten.

Genau, dann bleibt man am Leben. Der Islam ist ein Herrschaftssystem. Das Problem ist nicht, dass die islamische Welt kolonisiert und ausgebeutet worden ist, das ist sekundär. Entscheidend ist, dass sie unterworfen worden sind.

Seit der Machtübernahme der Hamas 2006 sind unglaublich viele Hilfsgelder nach Gaza geflossen, obwohl man wusste, dass dort eine Terrororganisation regiert und die Bevölkerung indoktriniert. Hat der Westen das System wissentlich oder unwissentlich mitfinanziert?

Der Westen ist verwirrt. Viele sehen in der Hamas eine Befreiungsbewegung. Die Gefahr, die vom Islamismus ausgeht, ist in diesem Denken nicht präsent. Große Universitäten behaupten, dass die Beurteilung des Genozid vom Kontext abhängt. Das sagt alles über die westliche Welt.

Für die Hamas ist die einzig akzeptable Lösung der Palästinafrage: kein Israel. Welche Option hat der Staat Israel, wenn eine Koexistenz seitens der Hamas ausgeschlossen ist?

Soweit ich das sehe, hat Israel keine Möglichkeit, außer die Hamas auszuschalten. Bis jetzt ist von der Hamas kein Zugeständnis gekommen, auch nicht in Hinblick auf das Wohl der eigenen Bevölkerung. Das ist typisch islamistisch. Im Denken des Dschihad führt der Tod direkt ins Paradies. Die Männer kriegen ihre 70 Huris. Ich habe mich immer gefragt, was die Frauen kriegen? Gar nichts, sie werden für die Ewigkeit betrogen. Das soll ein Paradies sein?

Mit der zunehmenden Dauer des militärischen Konflikts sprechen nicht wenige von einem Völkermord an den Palästinensern. Wie ist das zu bewerten?

Dieser Krieg ist der fünfte zwischen den Israelis und der Hamas. Die Israelis haben immer darauf geachtet, die Zivilbevölkerung zu schonen. Das ist ein Fakt. Aber wie soll das gehen, wenn die Hamas sich unter und hinter Zivilisten versteckt? Jemand, der sich in der Kriegskunst auskennt, sollte uns das bitteschön erklären. Es ist eine Situation, mit der wir nicht gerechnet haben und ich habe keine Antwort darauf. Dabei verteidige ich die Israelis nicht bedingungslos. Netanjahu trägt mit seinen Aussagen viel zum gegenseitigen Hochschaukeln der Radikalen bei. Er muss zur Rechenschaft gezogen werden.

Eine weitere Frage liegt mir auf dem Herzen. Wie können wir in Deutschland dem linken, dem rechten und dem muslimischen Antisemitismus als Teil des Nahostkonflikts wehren?

Das Schlagwort im Zusammenhang mit diesem Problem ist der Islamo-Gauchismus, der linke Islam. Es gibt eine „neue Linke“, die mit den Islamisten paktiert. Ich nenne sie so, denn ich bin ein Hard-Core-Linker, ich weiß, was links ist. Diese sogenannte Linke, die nur auf Kultur, Klima und Gender guckt, ist für mich keine Linke. Seit den 1960er Jahren ist ihr die Arbeiterklasse abhandengekommen. Die Arbeiterklasse findet man jetzt bei der AfD. Wer nur auf Minderheitenpolitik setzt, macht die Demokratie kaputt. Das kann einen Staat zerstören, und das ist leider keine Theorie mehr.

Was kann man dem neuen Antisemitismus entgegenhalten?

Man kann auch von Muslimen hier verlangen, sich zu rechtfertigen. Wer behauptet, dass die Hamas eine Befreiungsbewegung ist, muss das begründen. Das ist für sie die Gelegenheit, Klarheit darüber zu gewinnen, was sie wollen. Wenn sie in Deutschland leben wollen, geht das nur ohne Antisemitismus. Ich finde es richtig, wenn die Kulturvereine nur staatliche Subventionen bekommen, wenn sie das Existenzrecht Israels schriftlich anerkennen.

Können wir als Christen angesichts dieser polarisierten Situation in Deutschland zwischen Muslimen und der Mehrheitsbevölkerung Brücken bauen?

Sie zielen auf den interreligiösen Dialog? Dazu habe ich eine klare Haltung. 1927 fand in Hammana im Libanon der erste Kongress statt. Dennoch herrscht im Libanon seitdem Bürgerkrieg. Die Kirchen in Deutschland stellen sich sehr schnell an die Seite der Muslime. Mir scheint, sie kennen ihr Christentum nicht mehr, das ist das große Problem. Bei ihrem Gebet beschimpfen Muslime 17 Mal am Tag die Christen und die Juden. Das muss im Dialog vorkommen. Ich bin seit den 1980er Jahren in vielen Gemeinden unterwegs wegen der Flüchtlinge. Meiner Meinung nach haben Christen in dem Dialog eine wesentliche Aufgabe: Den Muslimen zu erklären, wie man als religiöse Gemeinschaft in einem säkularen Staat leben kann.

Ralph Ghadban, Dr. phil. (geb. im April 1949 im Libanon) ist deutscher Islamwissenschaftler, Politologe und Publizist. Er ist in der Migrationsforschung mit dem Schwerpunkt Islam in Europa tätig.

Salzkorn 1 / 2024: Brennglas Israel
⇥  Magazin bestellen oder PDF downloaden
Vorheriger Beitrag
Die Zeit auskaufen
Nächster Beitrag
Araber und Juden Tür an Tür

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Bitte füllen Sie dieses Feld aus.
Bitte füllen Sie dieses Feld aus.
Bitte gib eine gültige E-Mail-Adresse ein.
Sie müssen den Bedingungen zustimmen, um fortzufahren.

Weitere Artikel zum Thema

Archiv