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„Cancel Culture“ im Namen der Toleranz

Müssen wir die Vergangenheit tilgen, um fit für die ­Zukunft zu werden? Ist es legitim, Meinungen, die nicht mainstream sind, einfach aus dem Diskurs zu verbannen? Was passiert, wenn Personen, die unpopuläre Ansichten vertreten, auf Twitter und co. öffentlich bloßgestellt oder boykottiert werden? Angesichts der brisanten Entwicklungen in den USA und hierzulande drängen sich solche Fragen auf.  Jens Berger denkt sie weiter, wir denken mit. – (red)

Spätestens seit dem Mord an dem Afroamerikaner George Floyd wird der Kampf gegen den Rassismus in den USA als das grundlegende Prinzip ethischen Handelns verstanden. Dabei geht es natürlich vor allem um kulturelle und ideologische Fragen, die sich eher auf der abstrakten Ebene bewegen. Für sozioökonomische Ansätze ist da kein Raum. Es geht um Schwarz und Weiß und nicht um Oben und Unten, Reich und Arm. Der Täter ist der Weiße, privilegiert wegen seiner Hautfarbe, und insbesondere der weiße Mann, privilegiert durch Hautfarbe und Geschlecht – egal ob er in einem Penthouse in der 5th Avenue oder im Trailerpark lebt. Der Stützpfeiler seiner Macht ist in dieser Ideologie auch nicht das asoziale System der USA, das den Zugang zum Bildungs- und Gesundheitssystem und zu den einflussreichen Positionen in Politik, Medien, Kultur und Wirtschaft von der materiellen Herkunft abhängig macht, sondern die kulturelle Hegemonie der weißen „Rasse“ und natürlich das Patriarchat. 

Vom Shitstorm verweht

Gemäß dieser vereinfachten und falschen, da oberflächlichen Herleitung verschiebt sich natürlich auch das Bild des Anti-Rassismus. Da gilt es dann als anti-rassistische Großtat, den achtfach oscarprämierten Filmklassiker „Von Winde verweht“ aus dem Programm zu nehmen. Der Film sei „voller rassistischer Vorurteile“, so der US-Kabelfernsehanbieter HBO. ­Natürlich ist er das. Der Film ist im Jahre 1939 entstanden und damals waren die USA eine von rassistischen Vorurteilen geprägte Gesellschaft. Man darf nicht vergessen, dass das Land, das den Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg mittels Re-Education den Rassismus austreiben und die Demokratie beibringen wollte, bis in die 1960er hinein selbst eine strenge Rassentrennung praktizierte, in der Afroamerikaner de facto kein Wahlrecht hatten. Diese Vergangenheit wird nicht dadurch besser, dass man Zeitdokumente dieser Ideologie verbannt und damit aus dem Bewusstsein tilgt. Die Entscheidung von HBO war eine direkte Reaktion auf einen Meinungsartikel des afroamerikanischen Autors und Regisseurs John Ridley in der Los Angeles Times, der von zahlreichen Twitter-Nutzern für einen Shitstorm gegen HBO aufgegriffen wurde. HBO ­knickte ein, nahm den Film aus dem Archiv und löste damit eine internationale Debatte aus, ob die Zensur aus Gründen der politischen Korrektheit mittlerweile zu weit ginge. Letzten Endes stellte HBO den Film wieder ein – nun mit einem Vorwort von einer afroamerikanischen Historikerin. 

Wer nicht im politisch korrekten Mainstream segelt, verliert seinen Job

„Cancel Culture“ geht jedoch weit über das Löschen vermeintlich „böser“ historischer Dokumente hinaus. Man hat es auch auf das Löschen von „bösen“ Personen aus dem öffentlichen Leben abgesehen. Eine solch „böse“ Person ist beispielsweise der Autor und Journalist Ian Buruma. Der hatte es als Redakteur des New York Review of Books gewagt, ein Essay des damals wegen fünffacher sexueller Nötigung angeklagten ­kanadischen Talkshow-Hosts Jian Ghomeshi zu veröffentlichen. Die Hölle brach in Form eines Twitter-Shitstorms über Buruma und seinen Arbeitgeber los, der sich genötigt sah, Buruma fristlos zu entlassen – er habe entgegen der redaktionellen Praxis den Artikel im redaktionellen Prozess nur einem männlichen Redakteur vorgelegt. 

Rassismus ist ein Tabu, Kriege vom Zaun ­brechen nicht

Wie verlogen und heuchlerisch diese Entwicklung ist, zeigt die Personalie Bennett. Bennett trat als Meinungschef die Nachfolge von Andrew Rosenthal an, der das Amt für neun Jahre innehatte. Zuvor hatte Rosenthal als leitender Redakteur bei der New York Times die Berichte der Times-Reporterin Judith Miller verantwortet, die 2003 die gefälschten „Beweise“ für die angeblichen Massenvernichtungswaffen Saddam Husseins bei der Times veröffentlicht und damit den Irakkrieg der Bush-Regierung massiv herbeigeführt hatte. Gegen Kritik – wie sie beispielsweise seinerzeit von Seymour Hersh kam – nahm Rosenthal Miller ­offensiv in Schutz. Später musste selbst die Times eingestehen, dass sie Fake News gebracht hatte, der verantwortliche Redakteur Rosenthal wurde jedoch nicht entlassen, sondern befördert. Er hatte ja auch nichts politisch Unkorrektes geschrieben, und Fake News, die einen Krieg auslösten, der hunderttausende Irakis ­tötete, haben offenbar auch nicht das Zeug, die selbstgerechte Twitter-Gemeinde zu interessieren.

Selektive Empörung – Adidas und J.K. Rowling

Leid, Armut und Kriege sind für die Gralshüter der Moral kein Problem. Auch der Anspruch, gegen Rassismus und für mehr Gleichheit einzutreten, ist bei näherer Betrachtung heuchlerisch und bigott. So sah sich der Adidas-Konzern beispielsweise gezwungen, sich von seiner langjährigen Personalchefin Karen Parkin zu trennen – es ging um „Diversität“, Parkin habe – so kritische Stimmen aus dem Konzern – nicht genug getan, um farbigen Mitarbeitern eine Karriere zu ermöglichen. Ob das so ist, ist von außen nicht zu erkennen. Zu erkennen ist jedoch, dass gerade der Adidas-Konzern sich einen Teufel um farbige Mitarbeiter schert, wenn es um die Lieferketten geht. So stellt der Index des Online-Tools „Fashion Checker“ der Adidas AG die schlechteste Note für die Kategorie Löhne, die das Existenzminimum garantieren (engl. „Living Wage“), aus. Aber was interessieren privilegierte Millennials schon die Lebensbedingungen von Afrikanern und Asiaten? 

Ein großes Problem ist es hingegen, wenn eine Person des öffentlichen Lebens sich kritisch zur These äußert, es gäbe kein „biologisches Geschlecht“. Dieses Tabu hat die Harry-Potter-Autorin J.K. Rowling verletzt und sich zugleich den Hass der Twitter-Gemeinde eingefangen. … Wäre Rowling nicht die auflagenstärkste Autorin der Gegenwart, hätte sich ihr Verlag mit Sicherheit auch bereits von ihr getrennt. „Cancel Culture“ hat nichts mit einem konstruktiven Dialog oder gar einer Debatte zu tun, bei der es um den Austausch von Argumenten geht. Ziel ist es vielmehr, mittels Diffamierung und persönlichen Attacken über ­sogenannte Shitstorms Menschen mundtot zu machen. Und hier schwebt vor allem die Bedrohung der materiellen Existenz im Raum. 

Nicht jeder hat wie J. K. Rowling den Luxus, wirtschaftlich unabhängig zu sein. Wer beispielsweise als normaler Redakteur erst mal „gecancelt“ wurde, hat es schwer, einen neuen Job zu bekommen. Hier wird „Cancel Culture“ in der Praxis zu einer Art „Berufsverbot“ für Andersdenkende. Doch so weit kommt es in der Regel ja nicht. Die latente Angst, Opfer eines Shitstorms des Twitter-Mobs zu werden, führt zu dem, was man „Schere im Kopf“ nennt – zumindest bei denen, die bei einem linken oder liberalen Medium arbeiten, denn paradoxerweise sind dies ja die einzigen Adressaten der „Cancel Culture“. Und spätestens hier wird es vollends absurd. Konservative und rechte Medien interessieren sich natürlich kaum für mögliche Shitstorms selbstgerechter, sich meist als links empfindender, Twitter-Empörter. Im Gegenteil. Während sich Stimmen links der Mitte durch die Schere im Kopf selbst intellektuell beschneiden, können Stimmen rechts der Mitte die Kritik aufgreifen und für sich nutzen. Etwas ganz Ähnliches beobachten wir ja in Deutschland, wo die Linke beispielsweise bei der Migrationsdebatte ­kritische Zwischentöne aus den eigenen Reihen am liebsten mundtot machen würde und damit das Feld der politischen Rechten überlässt, die diese Selbstzensur der Linken natürlich begrüßt.

„Cancel Culture“ erreicht Deutschland

„Cancel Culture“ ist zwar ein angloamerikanisches Phänomen, das jedoch auch in Deutschland bereits mehr und mehr um sich greift. Beispiele sind die ­Hörsaal-Proteste gegen den ehemaligen AfD-­Politiker Bernd Lucke und die Verhinderung der Buchvorstellung des ehemaligen Bundesinnenministers ­Thomas de Maiziere. Auch die aufgeregte Debatte um den ­„Coburger Mohr“ und die hyperventilierende Universal­kritik an jedem, der es auch nur wagt, in Sachen Corona von der größtmöglichen Panikmache abzuweichen, ist in diesem Kontext zu sehen. Auch in Deutschland hat sich eine Schar „Linksidentitärer“ zum Richter über Ethik und Moral ernannt, der über den Volksgerichtshof Twitter seine eigene ethisch-­moralische Großartigkeit zelebriert und alles und ­jeden, der inhaltlich anderer Meinung ist, vernichten will. Derartig verkürzte Schmähkritik erhebt gar nicht erst den Anspruch auf einen argumentativen Dialog. Hier geht es um systematische Boykottierung, Verbannung und Annullierung – Gegenstimmen unerwünscht. Wie überzeugt man Andersdenkende? 

Indem man jeden, der in einem Punkt eine vermeintlich unkorrekte Position vertritt, aus dem öffentlichen Leben verbannen will? Indem man zusammen mit einem Mob dafür sorgt, dass er seinen Job verliert und sich niemand mehr mit ihm in der Öffentlichkeit sehen lassen will? Wie wäre es, wenn man stattdessen wieder anfinge, Debatten mit Argumenten auszutragen, dem Gegenüber zuzuhören und einen größtmöglichen Meinungskorridor in der Debatte zu akzeptieren? Aber das ist wohl zu viel verlangt, da in einem offenen Austausch der Argumente selten totalitäre Sichtweisen gewinnen. Gerade in Deutschland sollten wir vorsichtig sein. Schließlich gab es schon mal eine Bewegung, die unliebsame Gedanken und Argumente aus dem öffentlichen Raum tilgen wollte – sie nannte sich nicht „Cancel Culture“, sondern Bücherverbrennung.

Von Jens Berger

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