Zeichnung von Bruno Ritter©. Schwarze Spachtelkonturen deuten eine Frau an.

ANNÄHERND – Der Weg wächst im Gehen

Erlebtes

Ulla Nagel – Wohin sollen wir gehen, wenn wir im Ruhestand sind? Schon früh hatte meinen Mann Bruno und mich diese Frage bewegt. Als Pfarrer i.D. (im Dienst) fühlen wir uns der Gemeinde zugehörig, für die wir Verantwortung haben. Doch wohin gehören wir, wenn unsere Berufszeit zu Ende ist, wenn wir nicht mehr i.D., sondern i.R. sind und schnellstmöglich aus dem Pfarrhaus, möglichst auch aus dem Ort wegziehen sollen?

Wo wir aufgewachsen sind, über Jahrzehnte aber keine Kontakte pflegten, außer zur Herkunftsfamilie? In die vorletzte Gemeinde? Zu einem der vier Kinder? Oder in einen Nachbarort der letzten Dienstgemeinde, um weiterhin gewachsene Freundschaften zu leben?

Wir kennen die Gründe, wir können sie nachvollziehen, doch in dieser Hinsicht haben wir einen unsozialen Beruf. Wie gut, dachten wir jedes Mal, wenn die Frage auftauchte, dass wir noch Zeit zum Überlegen haben. Als wir uns das letzte Mal darüber austauschten, waren wir beide 58 Jahre alt, seit 34 Jahren verheiratet und 41 Jahre befreundet.

ZU+GEH+HÖREND

Zu…

Eine Tür geht zu, geht nicht mehr auf, ist zugefallen, für immer zu. Es ist die Nacht des 21. November 2015, vor dem Ewigkeitssonntag. Seine Predigt und die Liturgie hatte Bruno schon vorbereitet und dann ein Konzert besucht. Auf einmal ein Schlag. Eine Tür knallt. Ich rufe, niemand meldet sich. Brunos Rad liegt im Hof. Der Lichtschalter der Gästetoilette leuchtet. Ich muss die Tür aufdrücken und sehe meinen Mann auf dem Boden liegen. Ich suche nach seinem Puls und finde keinen. Seine Augen sind geschlossen, aber sein Mund lächelt schelmisch. Ich quetsche mich wieder raus und sage: Bruno ist – tot.

Die Rettungssanitäter versuchen ihn zu reanimieren. Vergeblich. Bruno ist bereits in seine himmlische Wohnung umgezogen. Schweren Herzens rufe ich die Töchter und den Sohn an. Inzwischen sind Freunde da, die wir um Beistand gebeten haben. Wir sitzen um Bruno herum, betroffen, entsetzt, weinend und im Gebet. Am frühen Morgen entlasse ich meine Gäste und lege mich mit meiner Tochter im Wohnzimmer schlafen. Wir brauchen einander.

Als ich wieder zu mir komme, trifft mich mit voller Wucht meine neue Lebenssituation. Muss ich nun auch noch aus dem Pfarrhaus? Weg aus der Gemeinde, weg aus Graben-Neudorf, wo ich Heimat gefunden habe, wo es viele Menschen gibt, denen ich mich zugehörig fühle? Kann ich als Pfarrerin allein in einer der größten Kirchengemeinden Badens arbeiten? Doch noch in dieser Stunde beschließe ich: Ich will bleiben. Ich möchte versuchen, diese Stelle auszufüllen. Ich brauche die Zugehörigkeit zu vertrauten Menschen. Ich habe keine Kraft, neue Beziehungen aufzubauen. Möge Gott mir helfen.

Bruno bleibt bis zur Beisetzung im Arbeitszimmer, so kann ich den ganzen Tag bei ihm sein und auch Trauergäste empfangen. Viele haben noch keinen Toten gesehen, sind scheu, aber ich ermutige sie, denn Bruno sieht sehr lebendig aus. Sein schelmisches Lächeln verrät mir, dass er sich über das gefreut hat, was er im Augenblick seines Hinübergehens von der sichtbaren Welt in die unsichtbare Welt Gottes sehen durfte. Als habe Jesus ihn persönlich abgeholt. Und da er nun bei Jesus ist, und Jesus in diesem Raum bei mir, kommt er mir sehr nah und vergewissert mich: Das, was dieses Zimmer für dich heilig macht, ist nicht Bruno, das bin ich. Ich werde da sein, auch wenn Bruno nicht mehr da ist. Das hat mich so gestärkt, dass ich eine Woche nach Brunos Tod wieder in der Lage war zu arbeiten.

Geh…

„Geh, Abraham, geh, mach dich auf den Weg. Geh, Abraham, geh. Gott zeigt dir neues Land.“ Geh, Ulla geh, mach dich auf den Weg. Geh, Ulla, geh, Gott zeigt dir neues Land.

Es war mir eine große Hilfe gewesen: das Gehen, das tägliche Rausgehen in den Wald, um den Weggang von Bruno wahrzunehmen. Gehend konnte ich mit Jesus reden und hören, was er mir persönlich sagt. Ich blieb unterwegs, auf dem Via Jacobi durch die Schweiz, einer Strecke, die Bruno und ich ein Jahr davor gegangen waren.

Es war unser dritter Jakobsweg gewesen, nach Spanien und Frankreich. Wir waren nicht immer nebeneinander unterwegs, denn Bruno war als der Schnellere oft vor mir hergegangen. Aber wir haben viel reden und auch viel zusammen schweigen können – im Guten und Schweren. Wir haben Gott für viel Schönes gedankt, aber auch Frust und Schmerz über die Zumutungen des Weges und des Lebens durften wahr sein. Es waren verletzende Worte gefallen. Wie haben uns versöhnen und einander neu als Geschenk Gottes annehmen können. Der Jakobsweg mit seinen Herausforderungen, Schmerzen und Fragen hat uns immer weitergebracht, persönlich und im Miteinander. Nun ging ich ihn 2016 als meinen Trauerweg. Auf halbem Weg traute ich mich auch auf neue Strecken jenseits der vertrauten. Der Weg wächst im Gehen, sagt eine alte Pilgerweisheit. Ich lernte ja auch sonst, mein neues Leben ohne meinen geliebten Mann einzunehmen und Neues auszuprobieren.

Die Frage nach der Zugehörigkeit meldete sich wieder vehement, als mein Vater 2019 starb, und ich das Elternhaus verkaufen musste. Meine letzten Wurzeln waren nun gekappt. Ich rutschte in eine alles verschlingende dunkle Trauer, mir war, als hätte ich jede Zugehörigkeit verloren und nur noch mich selbst. Starke Einsamkeitsgefühle nahmen mich gefangen. Kein Mensch war da, der einfach, ohne Sympathieabwägungen, zu meinem Leben gehörte.

Klar habe ich vier Kinder, klar bin ich ihnen wichtig, aber sie leben ihr eigenes Leben ohne Mama und gehören woanders hin.

Klar habe ich gute Freunde, die es gut mit mir meinen und für mich da sind, wenn ich Hilfe brauche. Aber sie leben nicht mit mir. Der Umgang mag verständnisvoll, unkompliziert und fröhlich sein, aber das füllt nicht meine einsame Seele mit der Nähe, die ich brauchte.

Klar habe ich eine gute Beziehung zur göttlichen Familie. Ich gehöre zu Jesus, meinem Bruder, und zu Gott, meinem himmlischen Vater. Sie bleiben mir auch treu in schlechten Zeiten. Aber sie sind nicht zum Anfassen. Ich kann sie nicht sehen. Ich musste erkennen, dass ich neben der himmlischen auch eine irdische Zugehörigkeit brauche.

Daher lag ich Gott immer wieder in den Ohren: „Du hast gesagt: ‚Es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei.‘ Aber du mutest mir dieses Alleinsein zu. Bitte ändere es.“ Das hat er getan, er hat mir in dieser dunklen Zeit neue Freundschaften geschenkt und alte vertieft. Ich kam wieder raus aus dem seelischen Loch und wagte neue Schritte.

Ich beschloss, die Frage nach der Zugehörigkeit i.R. bereits i.D. anzugehen und nahm Abschied von meiner Gemeinde Graben-Neudorf. Ich ließ mich als „Springerin“ in den Kirchenbezirk versetzen, in dem Bruno und ich 22 Jahre als Pfarrpersonen gewirkt hatten und wo bereits gute Beziehungen bestanden. Die Frage, wo ich unabhängig von Amt und Dienst Zugehörigkeit finde, nahm ich mit dorthin.

hör…

Im Sommer 2021 brach ich erneut Richtung Santiago de Compostela auf, diesmal von meiner Wohnung aus. Das war mir sehr wichtig. Ich wollte alles, was mich ausmacht, hinter mir lassen und mich dem Ziel entgegenstrecken. Vom 14. August bis zum 14. November lief ich über 2500 km von Öfingen nach Santiago und weiter nach Muxia und Finisterre – inklusive einiger Umwege. Hören wollte ich auf das, was Gott mir zu sagen hat. Ich wollte ihm Raum geben, auch im Blick auf meine Zugehörigkeit.

Ich hatte mir zwei Ziele gesteckt: Santiago de Compostela als äußeres Ziel und Symbol für das Ankommen im Leben. Und ein inneres Ziel: im Alleinsein Chance und Bereicherung zu sehen und nicht Unglück. Ich wollte Alleinsein nicht mit Einsamkeit gleichsetzen, sondern als Offenheit für andere Zugehörigkeiten sehen.

Diesmal wurde es ein Weg der Dankbarkeit. Indem das Leben sich auf Weniges beschränkt, wird es offen für das Wesentliche, für das Glück im Selbstverständlichen, trotz der physischen Schmerzen und anderer Widrigkeiten.
Ich konnte tagelang alleine laufen und es genießen.

Und ich pflegte meine Beziehungen. Meine Beziehung zur himmlischen Familie durch Auswendiglernen von Bibelversen, Singen von Liedern, Danken und Gespräche mit Gott dem Vater, dem Sohn und dem Heiligen Geist.

Meine Beziehungen zu Freunden pflegte ich über das Handy. Gott sei Dank für diese digitalen Möglichkeiten! Am Ende hatte ich über 80 Weggefährten, die mich mittels meiner Tagebucheinträge begleiteten, mit mir fieberten, für mich beteten und den Kontakt zu mir hielten. Ich freute mich, wenn sie mir ihre Sorgen mitteilten.

Denn ich hatte ja den ganzen Tag Zeit zum Beten, zum Danken und zur Fürbitte. Und wenn ich mich mal in einer brenzligen Situation befand, setzte ich über das Handy ein SOS ab und bat um Gebetsunterstützung. Immer wieder durfte ich Wunder erfahren. Gott fädelte dazu an unterschiedlichen Orten, in Kirchen, an Quellen, an Wegkreuzen, auf dem Weg immer wieder Begegnungen ein.

Es gab auch Situationen, in denen ich an das Ende meiner Kräfte kam. An einem besonders mühseligen Tag wollten die Serpentinen eines Berges nicht enden. Trotzig sang ich einen Chorus: „Lob und Dank, Lob und Dank, Gottes Kinder sagen immer Lob und Dank. Jedes Weh wurde gut, durch des Heilandes Blut. Halleluja Lob und Dank.“

Das gab mir Kraft, einen Fuß vor den anderen zu setzen und mich nicht mit Wuttränen in den Schatten eines Baumes zu werfen. Oben angekommen war weit und breit keine Herberge zu sehen. Meine Lust am Singen war ganz vergangen. Am Abend kam ich an einer Kirche vorbei und frage nach dem Weg zur Herberge. „Noch drei Kilometer!“, war die Antwort. Ich konnte keinen Schritt mehr gehen, ließ mich einfach fallen. Aber jemand kannte den Herbergsvater und ich wurde kurzerhand mit dem Auto abgeholt.

Aus dieser Begebenheit und aus unzählig vielen anderen lernte ich, dass auch vermeintlich sichere und breite Wege nicht unbedingt ans Ziel bringen. Es kann sich alles schnell ändern. Schnell verpasst man die richtige Abbiegung, täuscht sich über richtig und falsch. Wir laufen viele Umwege; auch in meinem Leben gehören Umwege dazu. Aber wir können uns korrigieren lassen: von Gott und von den Mitmenschen. Manchmal werden wir ganz fürsorglich auf den richtigen Pfad geleitet.

Nun bin ich bald vier Monate wieder im Ländle und was bleibt von meinen wertvollen Erfahrungen? Ich lebe weiterhin stark nach dem Pilgermotto „der Weg wächst im Gehen“. Dies gilt, so habe ich festgestellt, auch für die Beziehungen, die ich als Alleinlebende stark brauche. Ich muss mich in Bewegung setzen, den ersten Schritt auf andere zugehen, dann darf Zugehörigkeit wachsen. Der Pilgerweg hat mich in der Vorfreude auf den Himmel gestärkt, wo ich ganz zugehörig und zu Hause sein werde.

Ulla Nagel, 64jährige Pfarrerin im Sabbatjahr, begeistert von Jesus, 4 erwachsene Kinder, 6 Enkel zwischen noch im Bauch und 6 Jahre alt. Sie liebt es, in der Natur unterwegs zu sein oder im Gespräch mit Menschen, spielt gerne Trompete im Posaunenchor, schätzt unterschiedlich gestaltete Gottesdienste,
fühlt sich in Klöstern und christlichen Gemeinschaften zu Hause und war für ein paar Wochen zu Gast in der OJC.

Salzkorn 2 / 2022: zugehörig – Verbundenheit wagen
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