Ankommen – Unterwegs auf den (Um-)Wegen meines Lebens

OJC-Live

Maren Brenner – Jetzt. Januar 2023: Als ich anfange, diesen Text zu schreiben, bin ich gerade in Hamburg, auf WG-Suche. Und für ein Bewerbungsgespräch, um hier vielleicht bald mit Grundschulkindern zu arbeiten, die durchs Raster fallen. Die für eine Regelschule als nicht tragbar gelten, wie es in der Stellenausschreibung heißt. Mein Weg dorthin führt mich an riesigen, bestimmt 10-stöckigen Wohnblocks vorbei. Nichts von Altbau mit Dielenboden, hohen Decken und Stuck wie ich es in manchen Anzeigen bei meiner Wohnungssuche lese. Die Ambivalenz dieser Metropole fällt mir neu auf und macht mich nachdenklich mit Blick auf meinen bevorstehenden Umzug hierhin. Luxus und Armut, Erfolg und Scheitern lassen sich im Stadtbild oft mit einem einzigen Blick einfangen. Menschen, die ständig in Eile sind, und andere, die nicht mehr mitkommen bei diesem Lebenstempo, begegnen sich hier tagtäglich.

Mir wird neu bewusst, wie privilegiert ich bin. Ich kann mein Leben mitgestalten, habe die Freiheit zu entscheiden, was ich arbeiten und wo ich wohnen will. Ganz unvermittelt, mitten in meinem Alltag, taucht wieder die viel tieferliegende Frage auf, die mich in letzter Zeit bewegt: Was brauche ich und wie will ich leben? So, dass ich mein Leben selbst gestalte und es sich anfühlt wie Leben? Denn auch ich kenne Zeiten, in denen ich dem Tempo, das Lebensereignisse vorgaben, nicht mehr folgen konnte. Wo für Können und Wollen keine Kraft mehr da war und die Lebensrealität nach einer Pause, einer Zwischenzeit verlangte.

Damals – November 2021:

Ich bin zu Besuch bei der OJC in Reichelsheim. Zum zweiten Kennenlernen, nachdem ich mich für die Mitarbeit im Erfahrungsfeld beworben habe. Weil ich weg will aus eben diesem Hamburg, das ich seit einem Jahr meinen Wohnort nenne. Ein Zuhause ist es die ganze Zeit nicht geworden, angekommen bin ich dort nicht. Pünktlich zum zweiten Lockdown war ich hergezogen, für eine Stelle in einer Gemeinde. Die Jugendarbeit sollte neu aufgebaut und belebt werden. Ich freute mich darauf, meine Ideen einbringen zu können, Menschen kennenzulernen und zu begleiten, meinen nächsten Lebensabschnitt hier zu gestalten. Doch die Realität hieß sechs Monate Jugendkreis im Online-Format, alles andere wurde abgesagt. Außerhalb meiner Arbeit Menschen kennenzulernen ist kaum möglich und ich erlebe Einsamkeit in einer Dauer und Intensität, wie ich sie niemandem wünsche. Dazu kommt im Frühling 2021 ohne jede Vorwarnung die Diagnose einer chronischen Erkrankung, die mir den Boden unter den Füßen wegreißt und Ungewissheit und Ängste auslöst, wie ich es vorher nie erlebt habe. Was will ich wirklich? Was brauche ich in dieser Situation? Ich will weg von hier, von dem Ort, der diese Lebensrealität prägt. Ich brauche Veränderung und sehne mich nach Gemeinschaft und Zugehörigkeit. Will raus aus dem Überlebensmodus, zurück ins Leben, einfach leben.

Bei meinem Besuch begegnet mir der Gebetskalender für 2022, der in diesen Tagen verschickt wird. Ein Motiv drückt genau die Sehnsucht in meinem Herz aus: Einfach ankommen. Nichts wünschte ich mir mehr zu diesem Zeitpunkt. Kurz darauf entschied ich mich, meine Zelte in Hamburg abzubrechen und im April 2022 zur OJC nach Reichelsheim zu kommen, um hier ein Sabbatjahr zu machen, wie ich es anfangs nannte. Ich hatte mit den herzlichen Begegnungen und ehrlich interessierten Nachfragen beim Kennenlernen eine leise Ahnung, dass ich hier wieder auftanken und ankommen könnte – in Gemeinschaft, bei mir selbst und auch bei Gott – und dass hier Raum ist für die vielen Fragen, die sich mir durch das Erlebte stellten.

Einfach ankommen

Die Suche nach einer Antwort auf die Frage, wo ich dieses Ankommen erlebe, hat mich durch das letzte Jahr bei der OJC begleitet. Zum Jahresanfang 2022 habe ich in meinem Tagebuch formuliert: Ich möchte ankommen, endlich ankommen. Ist es ein Mensch oder ein Ort, bei dem ich das erleben kann?

Und ich bin angekommen, nach und nach, habe mit der OJC und ganz besonders in der Schloss-Einheit eine Gemeinschaft gefunden, in der Bedürftigkeit Raum hat und mitgetragen wird. Einen Ort, an dem ich sein kann, wer und wie ich gerade bin. Ein Miteinander, in dem die jeweils aktuelle Ausgabe meiner selbst an- und ernst genommen wird. Ein Zuhause auf Zeit, um wieder bei mir selbst anzukommen. Und darin einen Freiraum, meine eigene Entscheidung zu treffen, wie lange ich bleiben und wie ich Prioritäten setzen möchte.

Im Herbst hat sich gezeigt, die Priorität heißt Aufbruch. Es bleibt bei einem Jahr und ich werde Ende März auch hier meine Zelte wieder abbrechen. Es zieht mich wieder raus. Aber nicht nur das, sondern ganz konkret zu jemandem hin.

Genau wie in der OJC-Gemeinschaft habe ich im letzten Jahr auch ein Ankommen bei einem Menschen erlebt, das dazu beigetragen hat, die Krisenzeit hinter mir zu lassen. Das Ankommen bei meinem Freund Gregor, den ich just eine Woche nach der Zusage bei der OJC kennen- und seitdem schätzen und lieben gelernt habe. Dem ich gerade noch in Hamburg begegnet bin, bevor es in den Odenwald ging und wir uns auf das Wagnis Fernbeziehung eingelassen haben. Und mit dem ich dieselbe Erkrankung teile, deren Diagnose mein Leben aus den Fugen hat geraten lassen. Mit dem ich aber auch so viele andere Gemeinsamkeiten habe. Es kann kein Zufall sein, dass wir uns begegnet sind, und wir staunen, wie Gott diesen Weg geführt hat und uns das Wunder erleben lässt, dass aus Asche Schönheit werden kann. Seit wir uns kennen, haben wir uns gegenseitig immer wieder zu persönlichen Aufbrüchen ermutigt und konnten dabei neu aufleben, einfach leben.

Aufbruch heißt es bald auch für mich, einmal mehr ein Ortswechsel in meinem Leben. Aber etwas ist anders: Ich gehe jetzt mit jemandem gemeinsam auf den Wegen und Umwegen meines Lebens weiter, auf denen Gott Herausforderungen und Wunder gleichermaßen bereithält.

Das für mich Wertvollste nach aktuell neun Monaten bei der OJC: Ich traue mir diesen Aufbruch wieder zu. Meine Selbstwirksamkeit ist zurück (reflektiert die Sozialarbeiterin in mir). Ich bin wieder in der Kraft (würde meine Yogalehrerin sagen). Beides war verloren gegangen in den Lebensrealitäten des Jahres 2021. Aber nun sind sie zurück. Der Ortswechsel und der Platz in einer Gemeinschaft haben mir gutgetan. Ich habe dazugelernt, konnte mich einbringen und von anderen lernen, habe Unterstützung und Ermutigung erfahren und konnte hier einfach ganz ich selbst sein. Mir kommen Worte von Martin Buber in den Sinn: „Alles wirkliche Leben ist Begegnung.“ Wie wahr! Nicht weniger wertvoll empfinde ich die Freiheit, die ich hier erlebe, wieder aufbrechen zu dürfen. Mein Weg geht woanders weiter und man lässt mich ziehen, wohlwissend, was das für die Arbeit im Erfahrungsfeld bedeutet. Ich konnte ganz hier sein, darf aber auch wieder gehen, was für ein Geschenk!

Ankommen, ein Prozess also, der an Orten und bei Menschen gleichermaßen erlebbar ist. Auf Spanisch lässt sich das wunderbar mit der Gerundium-Form ausdrücken und auf zwei Arten übersetzen. Estoy llegando heißt: Ich komme an. Oder aber: Ich bin dabei anzukommen. Der Prozess ist nicht abgeschlossen, er geht weiter. Mit Gott und einem wunderbaren Menschen an meiner Seite. Dafür nehme ich diese ambivalente Großstadt in Kauf, weil ich ahne, dass Gott auch hier schon etwas vorbereitet hat und mich gebrauchen möchte.

Mir kommen die Kids in den Sinn, die ich bei einer Hospitation für die oben erwähnte Stelle kennengelernt habe. Ich weiß noch nicht, ob ich mit ihnen arbeiten werde. Aber mir fällt auf, dass ich eine Gemeinsamkeit mit ihnen habe: Eine tiefe Sehnsucht danach, anzukommen und angenommen zu werden; ganz selbst sein zu können in den Realitäten, die das Leben mit sich bringt. Eine Sehnsucht aller Menschen, die Gott selbst in uns angelegt hat?

Wegbegleiter haben und sein

Was brauche ich also, um zu leben? Ich brauche Menschen, Wegbegleiter und Ermutiger, die auf den Wegen und Umwegen meines Lebens mit mir gemeinsam unterwegs sind. Und ich habe das große Glück: Es gibt sie, ich bin nicht alleine unterwegs. Da sind wertvolle Menschen an meiner Seite, in Familie, Freundeskreis und einer Gemeinschaft, die mittragen, zuhören, unterstützen, für mich da sind. Was für eine wertvolle Realität in meiner Gegenwart. Weil es sie gibt, möchte und kann auch ich wieder neu Wegbegleiterin und Ermutigerin für andere werden. Ich bin gespannt, wo genau in dieser großen Stadt das sein wird, in der ich dieses Mal nicht auf mich allein gestellt bin. Was für eine schöne Aussicht in die Zukunft.

 Ich weiß wieder, was ich will, ich weiß wieder, wer ich bin, ich weiß wieder, wohin. Endlich da sein, wo ich bin.
Samuel Harfst

Maren Brenner biegt nach einem Jahr Mitleben in der Schlossgemeinschaft und Mitarbeit als Erlebnispädagogin im Erfahrungsfeld auf den nächsten Wegabschnitt ein, der sie zurück nach Hamburg führt.

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